PHIL SHÖENFELT & SOUTHERN CROSS - Dead Flowers For Alice
(Indies Records MAM 092-2, 1999)
Wie einmalig schön und ergreifend Tristesse sein kann, wusste ich nicht, bevor ich Phil Shöenfelt gehört hatte. Was für ein exotisch klingender Name, dachte ich mir damals, als ich diese Platte zum erstenmal in Händen hielt, und sie mir auflegte. Insgeheim erwartete ich schon Musik, die aussergewöhnlich sein würde, denn zwei Indizien sprachen klar dafür: Ein verstörend-schönes und düster in Szene gesetztes Frontcover (auf das ich später noch etwas vertiefter eingehen möchte) und die Tatsache, dass der einzige Longtrack der Platte gleich vorneweg an den Anfang der Platte gestellt wurde. Das machte mich sehr neugierig. Und was ich da zu hören bekam, war Glückseligkeit in seiner traurigsten Form. Ein solches Wechselbad der Gefühle, oder besser gesagt: Eine so perfekt ausbalancierte, durchaus auch körperlich spürbare und sich in permanentem Austausch befindliche assimilierende und gleich wieder auseinanderdriftende Schwarz/Weiss-Atmosphäre kannte ich bis dato noch nicht einmal von Nick Cave, auch nicht von Tom Waits und auch nicht von Leonard Cohen. Der schwedische Sänger und Songwriter Jens Lekman kam da mit seiner eigenen Definition vom Musikschreiben schon wesentlich näher an das sich mir offenbarende Musikuniversum von Phil Shöenfelt. Lekman beschrieb seinen musikalischen Hauptfokus wie folgt: "Ich mochte es schon immer, traurige Geschichten zu fröhlicher Musik zu erzählen". Bei Phil Shöenfelt erging mir das anfänglich fast ganz genau so. Aber auch genau umgekehrt: Manchmal wirkte seine Musik auf mich auch wieder traurig und einzelne Textpassagen fast erbaulich. Shöenfelt's Musik vermochte bei mir einfach ein hochwirksames Wechselbad der Gefühle zu erzeugen, das mich auch heute noch immer fesselt.
Phil Shöenfelt, am 18. Dezember 1952 in Bradford, England geboren, ist ein britischer Sänger, Songwriter, Musiker, Texter und Romanautor. Er lebte zunächst in New York, wo er 1981 die Post Punk-Band Khmer Rouge zusammen mit Barry "Scratchy" Myers (Tour-DJ von The Clash) und Marcia Schofield (The Fall) gründete. 1989 erschien seine erste Solo-Single "Charlotte’s Room" in England, welche von Mark E. Smith und Tony Cohen produziert wurde. Sein erstes Solo-Album "Backwoods Crucifixion" wurde 1990 von Paperhouse Records veröffentlicht, drei Jahre später folgte mit "God Is The Other Face Of The Devil" ein Nachfolger. Shöenfelt lebt seit 1995 in Prag, wo die Band Phil Shöenfelt & Southern Cross entstand. Im November 1997 ging er gemeinsam mit dem britischen Pub Rocker Nikki Sudden und dessen Band auf eine Deutschland-Tournee, wo er das Vorprogramm bestritt. Höhepunkte auf dieser Tournee waren jeweils die Coverversion von Can's "Mother Sky". 1998 nahmen Phil Shoenfelt und Nikki Sudden zusammen das Album "Golden Vanity" auf, das im April 2009 von Easy Action Records veröffentlicht wurde. Phil Shöenfelt ist ein Veteran der Punk- und Post Punk Szene in London, Manchester und New York. Begeistert durch die Londoner Punk-Explosion 1976-77 zog Shöenfelt nach New York, wo er mit verschiedenen Downtown Bands wie The Nothing und Disturbed Furniture arbeitete. 1981 gründete er zusammen mit Barry "DJ Scratchy" Myers (Bass), Marcia Schofield (Keyboards) und Paul Garisto (Drums) die Post Punk Band Khmer Rouge. DJ Scratchy begleitete The Clash auf deren ersten drei USA-Touren, Marcia spielte Keyboards für The Fall und Paul spielte Schlagzeug für die Gruppe The Psychedelic Furs und für Iggy Pop. Ein weiterer Schlagzeuger von Khmer Rouge war der Künstler Claus Castenskiold, der unter anderem mehrere Plattencover für The Gun Club und Kid Congo Powers gestaltete.
Der erste Auftritt von Khmer Rouge fand 1981 beim White Columns Noise Festival statt, das von Thurston Moore (Sonic Youth) organisiert wurde. Danach spielte die Band in zahlreichen renommierten Clubs wie dem legendären CBGBs, The Peppermint Lounge, Danceteria und The Ritz. Als Support Acts spielten sie dabei für Bands wie Alan Vega, The Gun Club, Tom Verlaine (Television), Nico (The Velvet Underground) und The Clash bei Konzerten an der Ostküste der USA. Khmer Rouge wurden unter anderem vom legendären Fotografen Nat Finkelstein gemanagt, der für seine Bücher "The Factory Years" und "Edie" berühmt ist. Finkelstein arbeitete zusammen mit Andy Warhol am "Andy Warhol's Index" und war verantwortlich für die meisten Schwarz/Weiss-Fotografien von The Velvet Underground. Für Khmer Rouge drehte er das Musikvideo zum Song "New Assassins". Phil Shöenfelt kehrte 1984 nach London zurück. Mit Khmer Rouge spielte er noch zwei weitere Jahre und begleitete The Fall auf zwei Touren in England. Zusammen mit dem englischen Produzenten John Leckie nahm die Band noch weitere Songs auf und spielte regelmässig in Londoner Clubs. 1986 lösten sich Khmer Rouge auf. Eine Doppel-CD mit dem Titel "New York - London 1981-86" wurde 2004 beim Label Voiceprint Records veröffentlicht. Während der folgenden Jahre konzentrierte sich Shöenfelt darauf, neue Songs zu schreiben und Demos zu verschicken. Daraus resultierte 1989 seine erste Solo 12"-Single "Charlotte's Room" mit der B-Seite "The Long Goodbye", die bei Mark E. Smith's Label Cog Sinister Records erschien. Die Single wurde von Tony Cohen (bekannt für seine Arbeiten mit The Birthday Party und Nick Cave & The Bad Seeds) produziert.
Im folgenden Jahr veröffentlichte das britische Label Paperhouse Records Shöenfelt's erstes Soloalbum "Backwoods Crucifixion", 1993 folgte "God Is the Other Face Of The Devil" (Humbug Records). Während dieser Zeit spielte Shoenfelt in England Support-Konzerte für Crime & The City Solution und für Nick Cave & The Bad Seeds. Im Sommer 1994 tourte Shöenfelt zusammen mit Musikern von Tichá Dohoda in der Tschechischen Republik. Bereits ein Jahr darauf war Prag Phil's neue Wahlheimat. Hier gründete er seine Band Phil Shöenfelt & Southern Cross mit Pavel Krtous (Bass), Jarda Kvasnicka (Schlagzeug) und Pavel Cingl (Violine). 2014 verliess Cingl die Band und wurde durch David Babka, der neu den Leadgitarren-Part übernahm, ersetzt. Mit Southern Cross hat Shöenfelt bis heute vier Studioalben aufgenommen, nämlich "Blue Highway" (1997), "Dead Flowers For Alice" (1999), "Ecstatic" (2002) und "Paranoia.com" (2010), sowie die EP "Electric Garden" (2003).
"Dead Flowers For Alice" war als zweites Werk der neuen Band Southern Cross ein brilliantes und sehr düsteres Album, das mich einfach sprachlos machte und das bis heute macht. Auf dem Plattencover war ein Mädchen abgebildet, vielleicht dreizehn Jahre alt, vielleicht vierzehn. Das kann man bei Wasserleichen nie so genau sagen. Tiefe schwarze Ringe hatte das Kind um die Augen, einen erloschenen Blick, strähniges nasses Haar und einen blau-violetten Mund. Dazu hielt es auch noch diese welken Blumen vor den blanken Busen. So schön kann der Tod sein - und so fürchterlich. Diese Tristesse hatte man schliesslich auch noch in einen Bilderrahmen gesteckt. Eiche furniert, oval, wie bei den Schlafzimmerbildern der Ur-Grosseltern. Besser als mit dieser düsteren Allegorie waren die schwerblütigen Balladen auf dieser Platte nicht zu bebildern. Shöenfelt's Lieder zeichneten hier, weitaus lebendiger als dieTindersticks und tröstender, als es der frühe Leonard Cohen je vermochte, die Rest-Mythologeme eines unaufgeregten, urbanen Soseins noch einmal nach. Psychopathen, Junkies, Overdose-Opfer, Selbstmörder und gequälte Lover formierten sich zu einem postmodernen 'Danse macabre', der den Schauder nicht mehr spüren lassen wollte, dem er sich verdankte. Sehr noir war das alles, und doch steckte auch eine grosse Portion Humor in der Musik, für die nicht zuletzt der Geiger Pavel Cingl verantwortlich zeichnete. Man fühlte sich unweigerlich an die "Murder Ballads" von Nick Cave erinnert.
Ein lichtarmer Walzer, ein weicher Tango, ein verregneter Ausblick, ein niedergetrampeltes Rosenbeet, eine Frauenleiche, eine schöne allerdings, pittoresk von verschwommenen Erscheinungen in dunklen feierlichen Gewändern umgeben, Gewänder, die keiner Zeit und keinem Kulturkreis zuzuordnen waren und Zorn - immer von biblischer Dramatik. Traurigkeit als Basis aller davon abweichender Gefühlsregungen, Stunden waren dunkel, Blumen eine ästhetische Respektbezeugung vor dem Tod, oder auch dem kleinen Tod des Verlassenwerdens, des Zerbrechens, sich selbst Verlierens. Phil Shöenfelt´s Musik transportierte auf "Dead Flowers For Alice" in erster Linie eine bestimmte Stimmung, eine emotionale Grundhaltung, einen Gemütszustand, was von diesen Dingen zutraf, das lag wohl am ehesten im Ohr, und vor allem im Herzen des Betrachters. Es sollte keine Morbidität sein, denn Morbidität beinhaltete immer auch die Lust am Untergang, ein kokettes Spielen mit der Vergänglichkeit, einen, wie schwarz er auch immer sein mochte, humorvollen Umgang mit dem menschlichen Zerfallsprozess. Bei Shöenfelt war dieser Zerfallsprozess mehr seelischer als körperlicher Natur, überhaupt war Shöenfelt's Welt bevölkert von Menschen, die hauptsächlich ein Innenleben hatten. Die Frauen in seinen Liedern hatten keine langen, schlanken Beine und keine schönen Brüste, sondern Arme, die ein Gefängnis sind, und Herzen, die in Todeszellen sitzen. Mit einer solchen Ausstattung liess sich natürlich nicht einfach tanzen gehen, sondern: "Everything that I feel is buried Underground".
Beim epischen, zehnminütigen Opener "The Ballad Of Elijah Cain" konnte man glatt den Eindruck erhalten, Nick Cave hätte seinen "Murder Ballads" eine Fortsetzung angedeihen lassen, die Ähnlichkeit mit "Song Of Joy", dem Klassiker des Meisters der Melancholie war offensichtlich. Und auch in den restlichen acht Songs des düsteren Werks dominierten die Moll-Akkorde, verbreiteten düstere Riffs und klagende Violinenklänge eine schaurig-schöne Atmosphäre. Shöenfelt, der Anfang der 90er Jahre auch einige Tourneen als Support von Nick Cave absolvierte und in "Dead Flowers For Alice" bereits sein insgesamt fünftes Album vorlegte, hatte den Moritaten, die er in Stücken wie "Shinig World", "Demon Seed" oder "Darkest Hour" besang, stets ein eingängiges Arrangement verpasst. Hier eine einprägsame Gesangslinie, dort ein ständig wiederkehrendes Riff, der Musiker verlor bei aller Tristesse und dem Sinn für Morbidität nie den roten Faden, was die Platte deutlich leichter konsumierbar machte als beispielsweise Nick Cave's Album "The Boatman's Call".
Der ganze sterbesüss dunkelklare Blues des Phil Shöenfelt faszinierte von Beginn weg, aber auf "Dead Flowers For Alice" fand er für mich persönlich eine erste Vollendung, denn als die überlange "Ballad Of Elijah Cain" wehmütig von der geträumten Seefahrer-Romantik zu einer mystischen und biblischen Geschichte emporstieg, die den ebenso erlösenden wie unheilschwangeren Regen ankündigte, blieb die Ballade dennoch eine Liebesgeschichte. "Shining World" setzte diese ätherische Stimmung nahtlos fort, und im Titel "Veronika's Veil" hielten fast irisch-folkig anmutende Klänge Einzug in diese wunderbare Musik. "Darkest Hour" und "Demon Seed" glänzten ebenfalls mit diesen Folkrock-Spielereien, bei welchen auch gerne mal ein unterstützendes Akkordeon akustische Farbtupfer setzte. "Dead Flowers For Alice" ist ein ganz phantastisches Werk, eingespielt im Dezember 1998 im Vintage Studio Pruhonice in Prag. Shöenfelt's Mitmusiker waren dabei der Violinist und Gitarrist Pavel Cingl, der Bassist Pavel Krtous, der Schlagzeuger Jarda Kvasnicka, sowie die Gastmusiker Dave B. (Orgel) und Tomáz Brozek (Klavier).
Im November 2010 veröffentlichten Phil Shöenfelt & Southern Cross ihr viertes Studioalbum "Paranoia.com" auf Easy Action Records. Mit diesem Album war auch ein merklicher Wandel von atmosphärischem Indie-Rock zu einem härteren Rock-Sound hörbar. Das Werk umfasste neun neue Songs und eine von James Williamson autorisierte Coverversion von Iggy Pop & The Stooges' "Open Up And Bleed". 2011 gründete Shöenfelt, zusammen mit dem Schlagzeuger Chris Hughes und dem Bassisten Dave Allen eine neue Band mit dem Namen Dim Locator. Der Sound dieser neuen Gruppe war inspiriert von Krautrock-Bands der 70er Jahre und basierte mehr auf Drone und Gitarrenloops als auf klassischen Songstrukturen. Ein weiteres Projekt von Phil Shoenfelt war The Bruce Wellie Band. Mit diesem Unternehmen spielte Phil Shöenfelt ausschliesslich Coversongs von australischen Punk- und Post Punk-Bands wie The Scientists, Lubricated Goat, Grong Grong und den Cosmic Psychos. 2012 nahm diese Band ihr erstes Album "Ozploited" auf.
Neben seinen musikalischen Projekten ist Phil Shöenfelt auch Autor und Dichter. Bücher von ihm sind beispielsweise "Junkie Love" (eine fiktionalisierte Autobiographie), "The Green Hotel / Zelený Hotel" (Songtexte und Gedichte), "Magdalena - Buch 1 und 2" (eine Zusammenarbeit mit der Dichterin und Künstlerin Kateřína Piňosová) und "Stripped - Buch 1" (der erste Teil einer Trilogie über die New Yorker Downtownszene in den späten 70er und frühen 80er Jahren). "Kamikaze Skull", eine Sammlung von Gedichten, Fotografien und Illustrationen (in Zusammenarbeit mit der englischen Performancekünstlerin Sophia Disgrace) erschien im Jahre 2014. Weitere Arbeiten von Shöenfelt sind in Literaturmagazinen wie Gargoyle, Prague Literary Review, Optimism, Hele, Blatt, Apple Of The Eye, Morgana, Vlna und Vlak erschienen. Ein neues Phil Shöenfelt & Southern Cross Live-Album mit dem Titel "The Bell Ringer - Live At The Shot-Out Eye" erschien im Juni 2015. Das Album wurde im Sommer 2014 zum 20jährigen Jubiläum der Band aufgenommen. Im Mai 2016 erschien bei Mat'a Books der zweite Teil von "Stripped - Underground Incognito".