CHARLIE WATTS - Charlie Watts Meets The Danish Radio Big Band
(Impulse Records 0602557264609, 2017)
Im Vergleich zu Mick Jagger und Keith Richards hielt sich der Rolling Stones-Schlagzeuger Charlie Watts schon immer meist diskret im Hintergrund. Aber der Musiker war nicht nur für den strammen Rhythmus der Rolling Stones verantwortlich, sondern ganz nebenbei auch noch ein hervorragender Jazz-Schlagzeuger, was er in der Vergangenheit schon des öfteren ausserhalb seiner Stammband unter Beweis stellte. Im Frühling 2017 kam ein erneuter Beweis seines hervorragenden Schlagzeugspiels in Form einer swingenden Bigband-Aufnahme mit einem Hauptakteur, der sich offensichtlich am Schlagzeug solch eines grossen Ensembles mindestens so wohl fühlte wie bei seiner Hauptband. Die Aufnahmen zu dem Werk hatte der Rolling Stone sein Swing-Album im hohen Norden mit der hervorragenden Danish Radio Big Band, welche erst vor kurzem auch ein exzellentes Live-Album mit dem Jazzsänger Curtis Stigers aufgenommen hatte. Das Ergebnis war Watts' bislang gelungenster Seitensprung ins Jazzfach. Neben bekannten Jazzstandards und einer Suite aus der Feder von Watts wurden auch die drei Rolling Stones-Klassiker "Satisfaction", "You Can’t Always Get What You Want" und "Paint It Black" zum swingen gebracht. Heraus kam ein echtes Meisterwerk moderner, groovender Bigband-Musik für Jazz- wie für Rolling Stones-Fans gleichermassen.
Als Charlie Watts vor vielen Jahren von Kollegen einer neuen Band gebeten wurde, etwas Rhythm'n'Blues-artiges zu spielen, stand er zunächst einmal auf dem Schlauch. "Ich wusste nicht, was das war", erinnerte er sich Jahrzehnte danach. "Ich dachte, ich sollte etwas Charlie Parker mässiges spielen, nur mit angezogener Handbremse". Denn Watts, der später als einer der grössten Schlagzeuger in die Annalen der Rockmusik eingehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch ein etwas verbohrter, mit Scheuklappen versehener Jazzmusiker. Er war mit der Musik von Jelly Roll Morton, Charlie Parker und Thelonious Monk aufgewachsen und wurde durch eine Aufnahme mit Chico Hamilton dazu inspiriert, sich selbst ein Schlagzeug zuzulegen. Natürlich wurde er später dann doch auch für Rockmusik offen - der Rest ist Geschichte. Und seit nunmehr über fünfzig Jahren ist er aus den Rolling Stones ebenso wenig wegzudenken wie Mick Jagger und Keith Richards. Seine Liebe zum Jazz hat sich Charlie Watts trotzdem immer bewahrt. Das zeigt er besonders schön mit ungemein viel Verve und Leidenschaft auf dem Album "Charlie Watts Meets The Danish Radio Big Band", das er für das traditionsreiche Jazzlabel Impulse! Records aufgenommen hat. Und bei dem hatten bekanntlich auch seine Idole Chico Hamilton und Elvin Jones einst einige ihrer besten Soloalben herausgebracht.
Für Charlie Watts bedeutete dieses Album jedoch bei weitem nicht der erste Rückfall zum Jazz. Schon zu Mitte der 80er Jahre hatte er eine eigene Bigband mit prominenten Jazzmusikern wie Stan Tracy, Evan Parker und Courtney Pine gegründet, die durch die ganz Welt tourte. Dann bildete er Anfang der 90er Jahre ein Quintett mit dem Bassisten und Jugendfreund David Green, dem Altsaxophonisten Peter King, dem Pianisten Brian Lemon und dem Trompeter Gerard Presencer. Letzterer, ansonsten bekannt für seine Zusammenarbeit mit US3, The Brand New Heavies, Matt Bianco, Zero 7, Incognito, Ray Charles, Joni Mitchell und Chick Corea, initiierte 2010 auch das Charlie Watts-Projekt mit der Danish Radio Big Band. Der Trompeter Gerard Presencer war ein Jahr zuvor nach Kopenhagen gegangen, um ein Engagement bei eben dieser Band anzutreten. Als Charlie davon hörte, rief er ihn an und liess nebenbei im Gespräch fallen, dass er selbst auch einige Monate lang als Grafik-Designer in Dänemark gearbeitet und sich in seiner Freizeit in die dortige Jazz- und Bluesszene gestürzt hatte. Das brachte Presencer spontan auf die Idee zu dem Projekt, das nach jahrelanger Feinarbeit im April 2017 endlich das Licht der Welt erblickte. Als Gastmusiker mit von der Partie war auch Charlie's alter Freund Dave Green.
"Bei der Auswahl des Programms war es wichtig, sich auf den Groove zu konzentrieren", erläuterte der Projekt-Leiter Gerard Presencer. "Wir entwickelten Material mit einem Feeling für Rhythm’n’Blues, Jazz im Stil der 60er Jahre, der an die tanzbaren Blue Note Tracks jener Zeit erinnerte, afrikanische Rhythmen und auch ein bisschen Bossa Nova. Das waren alles Stile, die ich mit Freude schon in verschiedenen Bands mit Charlie und Dave gespielt hatte. Dave Green am Bass als Special Guest dabeizuhaben, war essenziell, weil er und Charlie als Jugendfreunde (sie wuchsen Tür an Tür in Wembley im Norden Londons auf) diese stillschweigende psychische Verbindung hatten, die Bassisten und Schlagzeuger brauchen. Mit ihrem unglaublichen Einfühlungsvermögen ermöglichten sie bei diesen Aufnahmen dem Rest der Band manchmal so ungezwungen zu sein, dass sie sich wirklich austoben und etwas riskieren konnten. Wenn eine Band von diesem Niveau so richtig Gas gibt, ist sie unwiderstehlich!" Unter dem Strich resultierte daraus eines der am schönsten swingenden Jazzalben der letzten Jahre. Da die Rolling Stones jedoch noch immer ungebrochen die Aufmerksamkeit der Rockmusikwelt erhalten, möchte ich unbedingt auf dieses hervorragende Werk aufmerksam machen, damit es nicht vergessen gehen wird.
Charlie Watts besuchte die Fryant Way Infants School in Kingsbury. Seit 1952 ging er auf die Tylers Croft Secondary Modern School. Mit 13 Jahren kaufte er sich ein Banjo, verlor aber schnell die Lust am Spielen und funktionierte es zu einer Trommel um. Zu Weihnachten 1955 bekam er von seinen Eltern Linda und Charles ein einfaches Schlagzeug geschenkt und fand Gefallen am Instrument. Zu dieser Zeit war er von Schlagzeuger Chico Hamilton beeinflusst. 1960 verliess Watts die Kunstschule Harrow Art School und arbeitete für eine Werbeagentur. 1961 entwarf er mit 'Ode To A High Flying Bird' ein Kinderbuch über Charlie Parker, welches erstmals 1965 veröffentlicht wurde. Seit 1960 spielte Charlie Watts in der Band Blues By Five. Auf ihn aufmerksam geworden, bot Alexis Korner ihm 1961 an, seiner Band Blues Incorporated als Schlagzeuger beizutreten, doch Watts musste beruflich bis Februar 1962 nach Dänemark. Nach seiner Rückkehr nach England spielte er im Trio des Komikers und Pianisten Dudley Moore, doch kurz darauf trat er Blues Incorporated bei. Bei einem Auftritt im Ealing Club 1962 traf Watts erstmals Brian Jones. Dieser wurde nun ebenfalls als Gitarrist Mitglied bei Blues Incorporated. Nach einem Auftritt im April 1962 wurde der junge Mick Jagger als Sänger der Band engagiert.
Im Juni 1962 trennten sich Brian Jones und Mick Jagger von Blues Incorporated und gründeten mit Keith Richards, Dick Taylor, Ian Stewart und Mick Avory die Rolling Stones. Im Dezember 1962 verliess dann auch Charlie Watts Blues Incorporated, da er sich für nicht gut genug hielt, um mit so ausgezeichneten Künstlern zusammenzuspielen. Zur gleichen Zeit wurde bei den Rolling Stones der Bassist Dick Taylor durch Bill Wyman ersetzt. Da auch Mick Avory die Rolling Stones verliess, um bei den Kinks einzusteigen, trat die Band kurzzeitig ohne Schlagzeuger auf. Nach einem Aufnahmegespräch zwischen Ian Stewart und Charlie Watts traten die Rolling Stones am 12. Januar 1963 erstmals mit Charlie Watts am Schlagzeug auf, eine Besetzung, die Jahrzehnte Bestand haben sollte. Auf Grund seines trockenen, direkten Schlagzeugstils gilt er als das rhythmische Fundament der Band und wurde 1989 mit dieser in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. In den 70er und 80er Jahren war Watts lange alkoholabhängig, konnte sich aber durch Selbstdisziplin und Konsequenz erfolgreich von dieser Sucht lösen. In den 80er Jahren tourte er mit einer eigenen Big Band, der Musikerkollegen wie Jack Bruce, Evan Parker und Courtney Pine angehörten. 2001 war er in Japan mit einem Tentett, das sich auf Jazz konzentrierte.
Seit 2010 war Charlie Watts vermehrt mit der 2009 gegründeten Band The ABC&D of Boogie Woogie unterwegs. Die Buchstaben A, B, C und D standen dabei für die Anfangsbuchstaben der Vornamen der Bandmitglieder. Neben Watts waren an dem Boogie Woogie- und Swing-Projekt die beiden Pianisten Axel Zwingenberger und Ben Waters sowie der Kontrabassist Dave Green beteiligt, mit dem Charlie Watts seit dem fünften Lebensjahr befreundet war. Sie spielten unter anderem Konzerte in Monaco, Paris, in der Londoner Royal Festival Hall, in Hamburg, München, Prag, Monte Carlo, Graz und Bad Ischl. Ende Oktober 2010 folgte ein weiterer Auftritt im Rahmen des Festivals Steinegg Live in Steinegg bei Bozen. Auch 2011 und 2012 ging die Band auf kleinere Tourneen, 2012 trat sie dabei erstmals ausserhalb Europas in New York auf. Das 2017 veröffentlichte Album mit der Danish Radio Big Band war bereits das zwölfte Werk von Charlie Watts ausserhalb seiner Stammformation, der Rolling Stones.