Feb 4, 2025


ROCCO - Rocco (20th Century Records T-505, 1976)

Der neuseeländische Maori-Soulsänger Leo De Castro, der sich vom progressiven Rock seiner früheren Band Friends abwandte, begann als Solokünstler mit einer bunten musikalischen Mixtur, die aus Elementen des Funk, des Soul, des Rock und auch dem Blues einen ziemlich interessanten und abwechslungsreichen Cocktail servierte. Es war ein Stil, den der Musiker für den Rest seiner Karriere verfolgen würde. Das De Castro Line-Up wurde von Steve Webb und Rob Gray (beide Keyboards), dem ehemals bei den Bands Carson und der australischen Rock'n'Roll-Legende Daddy Cool tätig gewesenen Lan 'Willy' Winter (Gitarre) und John Young (Bass) komplettiert. Später zog Leo De Castro nach Sydney, wo er sich der Funk Band Johnny Rocco anschloss. Die Band benannte sich nach dem gleichnamigen Bösewicht, den der Schauspieler Edward G. Robinson im Film 'Key Largo' aus dem Jahre 1948 spielte. Diese in Sydney ansässige Gruppe von Jazz- und Funk-Musikern spielten eine LP ein, zusammen mit einem der wenigen Maori-Sänger, die sich in den 70er Jahren in australischem Soul-Funk und anderer Musik einen Namen machen konnte. De Castro spielte in einigen weiteren Bands mit, aber mit relativ wenig Erfolg.

Wie viele urbane indigene Musiker auf der ganzen Welt, die von der europäischen Kultur beeinflusst wurden, hatten auch Maori-Musiker oft eine Heimat in der afrikanischen Musik-Diaspora gefunden:Soul, Funk, Reggae und seit einigen Jahren auch Hip Hop. De Castro's Einflüsse waren jedoch wesentlich bodenständiger und folgten dem damals gerade in Australien sehr populären Boogie Rock, der seine Wahlheimat ziemlich fest im Griff hatte. Die ursprüngliche Version der Johnny Rocco Band, die im Februar 1974 gegründet wurde, bestand aus Mark Punch (Gitarre, Gesang; Ex-Mother Earth), Tony Buchanan (Saxophon; Ex-Daly Wilson Big Band), Tim Partridge (Bass; Ex-King Harvest, Mighty Kong) und Russell Dunlop (Schlagzeug; Ex-Levi Smiths Clefs, SCRA, Mother Earth). Sie waren eine der ersten australischen Bands, die Funk und Soul in das Pub Rock-Format integrierten. Leo und Mick Kenny (Keyboards; Ex-Levi Smiths Clefs) traten Ende 1974 zusätzlich der Gruppe bei. Die Band nahm eine erste Version des Stücks "Heading In The Right Direction" auf, die gemeinsam von Mark Punch und Garry Paige geschrieben worden war. Die Sängerin Renée Geyer machte das Lied später durch eine eigene Version berühmt.

Die Johnny Rocco Band war vor allem live eine ziemliche Attraktikon. Das ergab sich zuerst einmal aus dem Umstand heraus, dass die Gruppe zeitweise mit einiger personeller Verstärkung auftrat, bei deren Gelegenheit sie manchmal fast schon ein veritables Big Band Format angenommen hatte, was dazu führte, dass bekannte und weniger bekannte Titel öfters mal zu richtig ausgedehnten Jam-Variationen ausuferten. Insbesondere Bläsersätze und viele Keyboard-Einlagen prägten den Live-Sound und verliehen ihren Songs dadurch einen sehr breit gefächerten Charakter. Besonders auch De Castros Live-Stimme hatte es dem immer zahlreicher werdenden Publikum angetan - auf Tracks wie "Baby's Gonna Make It" klang er beispielsweise schon fast tiefschwarz und brauchte sich vor Konkurrenten aus den USA überhaupt nicht zu verstecken.

Zu der Zeit trat die Gruppe oft auf, sammelte so auch viele Erfahrungen und bereitete sich lange darauf vor, dieses Album aufzunehmen. Der Original-Gitarrist Mark Punch war gerade zu Renée Geyers Band gegangen, aber er war noch bei der Johnny Rocco Band geblieben, um mindestens zwei der Tracks für das spätere Album mit aufzunehmen - Songs, die er mitgeschrieben hatte: "Heading In The Right Direction", das bald eine Hit-Single für Renée Geyer auf deren Soloalbum "Ready To Deal" wurde, sowie "Sweet Kisses", das Geyer später ebenfalls aufnehmen würde (für ihr Album "Winner"). Das hervorragend produzierte Album präsentierte auch ein paar tighte Instrumental Funk-Workouts mit Jazz-Touch, toller Flöte und ein früher Talkbox-Klassiker mit dem Titel "Number 43", sowie grossartige Percussion-Einlagen von Sunil De Silva. Das später schlicht "Rocco" betitelte Werk wurde ein ganz formidables und stilistisch sehr breit ausgelegtes Album.

Während das Album in Australien auf dem Kleinlabel The Ritz Gramophone Company veröffentlicht wurde, kam auch ein internationaler Deal mit dem amerikanischen Plattenlabel 20th Century Records zustande. Die Band wurde in der Folge schlicht in Rocco umbenannt, und es wurde ein Vertriebs- und Managementvertrag mit der Reizner Music Corporation unterzeichnet. Die Singleauskopplung "Heading In The Right Direction" mit der B-Seite "Funky Max" erschien im August 1975. Harris Campbell hatte Punch abgelöst, der später ebenfalls zur Renée Geyer Band wechselte. Die Johnny Rocco Band veröffentlichte das Album "Rocco" im Mai 1976, das eine zweite Single "Gonna Have A Good Time" mit der B-Seite "Who's This Guy" abwarf. Trotz etlicher weiterer toller Songs auf dem Album wie "Funky Max" oder "Rocco" blieb der Gruppe jedoch der grosse Durchbruch verwehrt, wohl auch, weil die grosse Funk-, Soul- und Disco-Welle zu jenem Zeitpunkt insbesondere in den USA bereits am abklingen war. Rocco kamen wohl einfach etwas zu spät mit ihrem Album, was angesichts der tollen Musik und der absolut tighten und fetten Produktion wirklich schade ist. Weil sich somit ein weitreichender Erfolg nicht abzuzeichnen schien, trennte sich die Gruppe Rocco schliesslich Ende 1976. 

Leo De Castro gründete in der Folge die Kiwi-Band Cahoots mit Tui Richards (damals Ex-Powerhouse), Billy Rylands (Gitarre, Ex-Freshwater und Stevie Wright Band), Phil Pritchard (Gitarre; Ex-Highway und Miss Universe), George Limbidis (Bass, Ex-Highway und Miss Universe) und Doug McDonald (Schlagzeug, Ex-Powerhouse). Im Mai 1977 wurde die Band als 'Leo De Castro And Rocco' aktiv. Am Ende des Jahres war es dann die Leo De Castro Band. Es folgte eine erneute Umbenennung in Heavy Division im Jahre 1978 mit Richards, Russell Smith (Gitarre, Ex-Firma Caine, Mighty Kong, Billy T), Tim Partridge (Bass,  Ex-Kevin Borich Express) und John Watson (Schlagzeug). Nennenswerte und zählbare Erfolge blieben jedoch aus, weshalb der hervorragende Sänger Leo De Castro im Endeffekt ein rein australisches und neuseeländisches Phänomen blieb.





FIVE DOLLAR SHOES - Five Dollar Shoes
(Neighborhood Records NRS-47002, 1972)

Sie hatten vielleicht ein wenig den Sex-Appeal der New York Dolls, viel musikalisches Poprock-Gebräu und schmissen noch eine gehörige Portion Glam Rock hinzu. Dass diese Kombination scheitern würde, war nicht unbedingt vorauszusehen, zumal sich der klassische Glam Rock 1972 gerade in den Startlöchern befand. Interessant war vor allem die Tatsache, dass hier eine Band angetreten war, die mit kräftiger Unterstützung damaliger Profimusiker ein Album einspielte, das sich in qualitativer Hinsicht so gar nicht hinter der grossen und wesentlich prominenteren Konkurrenz zu verstecken brauchte. New York City war damals ohnehin das angesagte Pflaster für die ersten richtigen Glam Rock Bands, und die Truppe um den später auch für den legendären Jobriath Boone aktiven Musiker Gregg Diamond, der auch bei The Creatures spielte, präsentierte auf diesem leider einzigen Album durchaus Songs von Weltklasse-Niveau. Zusammen mit den weiteren Musikern Mike Millius, Tom Graves, Jim Gregory und Scott Woody war die Band Five Dollar Shoes in und um New York durchaus recht populär. Ihr gleichnamiges Album wurde in den legendären Electric Lady Studios in New York City's Greenwich Village aufgenommen. Der Umstand, dass laut nie verstummen wollenden Gerüchten bei den Aufnahmesessions damals auch die beiden in der Band Wicked Lester aktiven Musiker Gene Simmons und Paul Stanley als Background Sänger beteiligt gewesen sein sollen, also jene beiden Hauptakteure der später so erfolgreichen Formation Kiss, machte dieses Album schon früh zu einem begehrten Sammelobjekt insbesondere brettharter Kiss-Fans.

"Five Dollar Shoes": Das war schlussendlich eine jener Platten, die man ungefähr zu Mitte der 70er Jahre schon als 5 Mark-Ramschplatte an den Wühltischen allüberall finden konnte. Inzwischen dürfte die Platte äusserst selten sein, und man findet sie nicht mehr unbedingt an jeder Ecke. Obwohl die Platte damals floppte, war sie allerdings wirklich super. Gerade wenn man sich heute solche Platten anhört, dann kann man sich echt fragen, ob der Musikmarkt damals - 1972 - wirklich so übersättigt war, dass man solche Perlen quasi einfach links liegen lassen konnte. Es gab hier durchaus Parallelen zu Mott The Hoople, frühem 70er Rolling Stones-Rock und eben jede Menge frühen Glam Rock zu hören. Vielleicht waren Five Dollar Shoes schlicht und einfach zu früh mit ihrem Album. Womöglich hätten sie ein Jahr später wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als die erste Glam Welle so richtig Fahrt aufnahm. Hört man sich nämlich ihre exzellenten Songs an, so kann man sich diese durchaus irgendwo zwischen damaligen T. Rex und New York Dolls vorstellen.

Rockig und insbesondere exzellent abgemischt offenbarten sich dem Hörer hier zehn absolut zeitlose, und all die Jahre hindurch ziemlich aktuell gebliebene Gassenhauer, die samt und sonders über so etwas wie Hit-Charakter verfügten. Aufgenommen übrigens von keinem Geringeren als Eddie Kramer in den bereits erwähnten Electric Lady Studios, was alleine schon die hohe Qualität der Band verriet. Die Band bestand aus dem Top-Gitarristen Scott Woody, dem Bassisten Jim Gregory, dem Harper und Vokalisten Mike Millius, dem nicht minder exzellenten Keyboarder Tom Graves und dem eingangs erwähnten, sehr versierten Schlagzeuger Gregg Diamond. Von den anderen Musikern der Band gab es später keine nennenswerten Gastspiele in der Rockmusik mehr. Gregg Diamond aber machte sich einen Namen in der Disco-Szene. Das Musikmagazin Billboard bezeichnete ihn gar als einen wahren Pionier der Disco-Musik.

Gregg Diamond hatte bereits einige Jahre vor Five Dollar Shoes im Musikgeschäft gearbeitet, bevor ihm in der zweiten Hälfte der 70er Jahre im Zuge der Disco-Welle der Durchbruch als Produzent und Musiker gelang. Als Schlagzeuger arbeitete unter anderem für die Folk-Sängerin Melanie und den Singer/Songwriter Michael Wendroff. Ausserdem gehörte Diamond zur Band The Principal Creatures rund um den Glam Rock-Sänger Jobriath. In dieser Funktion spielte er auch auf dessen zweitem Album "Creatures Of The Street" mit. Diamonds kommerzieller Durchbruch gelang im Jahre 1976 mit einer Albumproduktion für die eigentlich als Pornodarstellerin bekannt gewordene Sängerin Andrea True. "More, More, More" enthielt mit dem von Diamond geschriebenen Titelsong einen weltweiten Hit, der sich als Disco-Klassiker etablierte und über die Jahrzehnte auch in zahlreichen Filmen Verwendung fand. Diamond arrangierte sämtliche Aufnahmen der LP, ausserdem spielte er unter anderem Klavier und Perkussion. Gemixt wurde das Album von Tom Moulton. Mit Andrea True feierte Gregg Diamond weitere kleinere Hits: "Party Line" (1976) und "N.Y. You Got Me Dancin'" (1977) standen hoch in den amerikanischen Disco-Charts.

Noch 1976 folgte eine Zusammenarbeit mit George McCrae auf dessen Album "Diamond Touch". Danach gründete Diamond sein Studio-Projekt Bionic Boogie, das ihm mit wechselnden Musikern einige Hits in den Disco-Charts bescherte. Besonders erfolgreich war die erste LP "Bionic Boogie" (1977), die sich als einzige seiner Werke auch in den Top 100 der Billboard Albumcharts platzieren konnte. Besondere Aufmerksamkeit erhielt das Cover des Albums, das eine futuristisch gekleidete Frau zeigte, die an einem mit ihrer Brust verbundenen Metallregler drehte und so scheinbar langsam die Temperatur oder Lautstärke in ihrem Körper erhöhte. Die Songs "Dance Little Dreamer" und "Risky Changes" standen 1978 drei Wochen auf Platz eins der Disco-Charts, die folgenden Alben "Hot Butterfly" (1978, unter anderem mit Luther Vandross) und "Tiger Tiger" (1979, mit Jocelyn Brown) waren ebenfalls in den Diskotheken gefragt. Diamond veröffentlichte auch unter seinem Namen zwei Alben; "Star Cruiser" (1978) schaffte den Sprung in die Top Ten. Als Produzent wurde Gregg Diamond 1977 auch für Gloria Gaynors Album "Glorious" verpflichtet. Nachdem die Disco-Welle ihren Höhepunkt überschritten hatte, zog sich auch Gregg Diamond aus dem Musikgeschäft zurück.


Der Gitarrist Scott Woody spielte als Studio- und Tourmusiker einige Jahre beim deutschen Musiker Klaus Nomi, der Sänger Mike Millius, der bereits 1969 ein nur wenig beachtetes Soloalbum veröffentlicht hatte ("Desperado", UNI Records), zog sich ganz zurück, während sich der Bassist Jim Gregory einigen Plattenproduktionen und -projekten von Gregg Diamond anschloss und 1987 auf einem Album von Peter Wolf (The J. Geils Band) mitspielte. Das von Pacific Eye & Ear designete Frontcover Artwork war äusserst geschmackvoll gezeichnet und mit abgerundeten Kanten versehen ein echter Hingucker. Leider gibt es die wundervolle Platte von Five Dollar Shoes bis heute nicht in einer restaurierten Version zu kaufen, weder als CD, noch als Wiederveröffentlichung auf Vinyl. Doch wer sich einmal die Mühe macht, nach der Original-LP umzusehen wird belohnt mit 10 erstklassigen Rock Songs, die zwar dem Geist der Zeit entsprachen, heute aber rückwirkend noch immer sehr frisch und zeitgemäss wirken. Es zeigt sich eben oft erst viele Jahre später, wie gut manche Songs doch einmal waren, wenn man sie sich noch mehr als vier Dekaden später genüsslich reinziehen kann, und sie dabei noch immer so zeitlos und interessant klingen wie damals. "Five Dollar Shoes" ist eine sträflich unterbewertete Platte, damals wie heute. 







HARMONIUM - Les Cinq Saisons (Celebration Records CEL-1900, 1975)

Die kanadische Band Harmonium aus Québec startete anfänglich als Folk-Gruppe mit französisch gesungenen Liedern, bevor sie sich stärker dem progressiven Rock zuwandte und 1975 mit ihrem zweiten Werk ein Konzeptalbum vorlegte, das im weitesten Sinne als Progressiver Folkrock bezeichnet werden kann. Vom ursprünglich akustischen Trio zur fünfköpfigen Gruppe erweitert, kreierten die Musiker um Sänger und Songschreiber Serge Fiori eine akustische Welt, die aus fünf Jahreszeiten besteht. Dabei widmeten sie jeder der bekannten vier Jahreszeiten je einen Song, sowie einer fünften Jahreszeit namens "Harmonium" fast eine ganze LP-Seite im Longtrack "Histoires sans Paroles".

Das Album "Les Cinq Saisons", das auch unter dem etwas längeren Titel "Si On Avait Besoin d'Une Cinquième Saison" bekannt ist, startet mit "Vert" (grün), das logischerweise den Frühling akustisch begrüsst. Und das tut der Song mit einer verhaltenen Flöte, die im Verlaufe des Songs weitere intrumentale Unterstützung erhält durch die weiteren Instrumente der Band, und dieser Einstieg ist sehr natürlich, fröhlich unbekümmert und wiederspiegelt den Frühling gekonnt und harmonisch. Der Sommer-Song "Dixie" geht dann in eine leicht jazzige Richtung, erinnert ein bisschen an den typischen Vaudeville-Sound der 40er Jahre, swingt auf sehr lockere Weise und ist zwar eher untypisch für die Band, jedoch sehr "summerlike" und man spürt das Flirren der Hitze förmlich aus den Noten. Der Herbst heisst hier "Depuis L'Automne" und ist ein Longtrack, der es auf über 10 Minuten Lauflänge schafft, all die abwechslungsreichen Stimmungen des Herbstes gekonnt abzubilden, angefangen vom noch lieblichen Spätsommer über die sich ändernden Farben der Natur bis hin zum kalten, feuchten und grauen Novembermorgen. Den Spannungsbogen kredenzen die Musiker hier gekonnt mit Arrangementspielereien und erzeugen damit abwechslungsweise September-Unbekümmertheit, über erste Oktober-Melancholie bis hin zur November-Depression, die man auch wirklich spüren kann. Der Winter schliesslich heisst dann "En pleine Face" (im ganzen Gesicht) und lässt einem die Kälte an den Backen spüren, aber auch die Schönheit einer verschneiten Winterlandschadft vor dem geistigen Auge erkennen.

Das Paradestück dann Harmonium's selbst erdachte fünfte Jahreszeit, dokumentiert und spürbar gemacxht im Longtrack "Histoires sans Paroles", das eine über 17 Minuten lange akustische Reise durch viele unterschiedliche klimatische Erfahrungen bietet: Von heiss über kalt, von trocken bis verregnet: Hier erlebt die Seele des Hörers alle Höhen und Tiefen gleichzeitig, nicht hinter- oder nacheinander, sondern bunt und wild zusammengenommen. Die Band spielt hier gekonnt mit Gefühlen, mit Stimmungsschwankungen und mit gefühlvoll inszenierten Wechseln im musikalischen Gesamtbild, die trotz manchem vertrauten Klangbild wie zum Beispiel einem klar bei Mike Oldfield belehnten instrumentalen Thema, das auch auf dessen LP "Tubular Bells" hätte sein können, trotzdem immer kompakt und harmonisch bleiben und den Zuhörer am Ende in wundervoller Behaglichkeit zurücklässt, nachdem eine Tour de Force der Empfindungen nach etwas mehr als einer Viertelstunde das Seelenwetter wieder zur Ruhe kommen lässt. Für die erhabensten Momente nicht nur hier, sondern bei allen Stücken dieser wundervollen LP sorgen die Flöte, das Mellotron und die akustische Gitarre, die bei diesem Werk sehr stark eingesetzt werden. Der Gesang ist eher verhalten, hilft meist vor allem die Stimmungen mit Worten zu bekleiden und ist insgesamt äusserst spärlich vorhanden. Den grössten Teil der Platte hört man instrumentale Musik, was es dem Hörer erlaubt, seine eigenen Gefühle in der gehörten Musik zu suchen und zu finden, was eine sehr schöne Erfahrung ist bei diesem Werk.

Diese LP hat das gewisse Etwas. Dieses bestimmte Element an Nachhaltigkeit, das es fühlbar, spannend und unvergessen macht. Vielleicht ein bisschen wie Jethro Tull's "Thick As A Brick", auch wenn Harmonium den folkigen Anteil in ihrer Musik noch stärker gewichtet als der manchmal doch eher rockige Ian Anderson mit seiner Truppe. Das Musikmagazin Rolling Stone listete 2015 das Werk auf Rang 36 der 50 besten, je veröffentlichten Progressive Rock Platten.


Oct 13, 2024


RUDOLPH 'HILLARY' DIETRICH - Sheer Hilariousness
(Muve Recordings MUVE 905002, 2006)

Der einzige wahre, ewige und echte Punk der Schweiz war er vielleicht jetzt nicht grad, Rudolph 'Rudi' Dietrich. Punk sein hiess zu Beginn vor allem: sein eigenes Ding durchziehen, immer auf der Suche sein, kreativ, offen für Neues, immer alles in Frage stellen, keine Komfortzone, nicht stehen bleiben, frech sein, etwas riskieren, sich schräg und abseits des Mainstreams orientieren und bewegen, das Hintergründige suchen, nicht so wie heute, wo man einfach "One Two Three Four" die Ramones kopiert. Unvergessen blieb dieser tolle Künstler allerdings, als er in der Radiosendung 'Sounds' im Schweizer Sender DRS3 die Zuhörer davor warnte, die soeben erschienene erste LP seiner gerade aktuellen Band Expo ja nicht zu kaufen, weil sie Kommerzscheisse sei, und die Band im Studio überhaupt nicht hätte machen können was sie wollte und von der Plattenfirma auch noch gezwungen worden sei, ihren Namen von Nasal Boys zu Expo zu ändern. Man stelle sich heutzutags einmal vor, dass einer seine eigene Platte im Radio derart disst - schlicht unvorstellbar, oder ?. Der Zürcher Rudolph Dietrich gründete 1976 die erste Schweizer Punkband Nasal Boys, wenig später war er Geburtshelfer der in der Schweiz und im angrenzenden Ausland nicht weniger populären Frauenpunkband Kleenex. Kraft durch Freude, Mutterfreuden und Blue China waren weitere Stationen in Rudolph Dietrichs Musikerkarriere. 1987 zog er sich ganz aus der Musik zurück. Erst in späteren Jahren veröffentlichte er, parallel zu einer Blue China-Compilation, mit "Monsieur L'ti Bon Ange" ein Album mit Bluessongs (!).

Im Jahre 2006, in jenen Tagen noch mit ziemlich züchtigem Haarschnitt, hätte Rudolph Dietrich über ausgegrabene und neu gemasterte Song-Raritäten seiner eben erschienenen Doppel-CD "Sheer Hilariousness" sprechen sollen. Er sprach allerdings lieber über das unsägliche Rauchverbot. Über Gottes Rübentisch. Wie es kam, dass er zum Feministen Hillary mutierte. Weshalb er in einem wahnwitzigen, 60-seitigen Booklet die ganze Punk-Geschichte abhandelte. Oder wie cool es 1977 gewesen sei, als Mitglied der Nasal Boys über die berühmten Sex Pistols abzulästern. Da es im Weltbild des erklärten Nicht-Nostalgikers aber weder chronologische noch philosophische Grenzen gab, war Vergangenheit immer auch Gegenwart und Zukunft. Weshalb er lieber über Neuanfänge redete – ein Thema, das sich wie ein roter Faden (oder doch eher wie ein ewiges Rettungsseil ?) stets durch seine Biografie zog. Natürlich kannte der Dietrich-Kenner seine musikalischen Produktionen und Stationen, seine Kehrtwenden und Steilwandkurven. Er wusste von seinen Bands: Nach den Nasal Boys kamen Kraft durch Freude, Mutterfreuden (beide spielten Beat mit Punk-Habitus) und Blue China (Gothic Wave). Und von den oft ominösen Kunstfiguren und -konstrukten wie Monsieur L'ti Bon Ange, Hillary oder Rural Sr.’s Le Voudou Sports Club. Er weiss, dass der Kerl 1979 das eminent wichtige Independent Plattenlabel Off Course Records mitgründet hatte und dass er sich wie ein Geburtstagskind für neu entdeckte Instrumente faszinieren konnte; in den 90er Jahren waren das beispielsweise die Dobro-Metallgitarre und das Banjo.

"Sheer Hilariousness" nannte Rudolph Dietrich die pure Heiterkeit seiner zwei CDs umfassenden Neubearbeitung alter Songs aus all seinen musikalischen Stationen, und die schiere Freude steckte da auch tatsächlich drin. Ohne diesen Frohsinn wäre auch der Widerspruch, dass es sich bei der Zusammenstellung um das weltweit erste feministische Album eines Maskulinisten handelte, wohl nicht in seiner Tiefe zu ergründen. Auf einer üppig ausgestatteten Doppel-CD präsentierten 'Pluralist Church Publishing' und ‘Coffindodgers United’ erstmals 29 absolut klassische Dietrich-Songs, die aus der ersten Generation des Swisspunks (Nasal Boys, Rudolph Dietrich, Kleenex, Kraft durch Freude, Mutterfreuden) hervorgingen und die Szene bis heute prägten. Zusätzlich legte Byron Smith als Erzähler der beiliegenden, 60 Seiten umfassenden Bildgeschichte schonungslos alle Fakten und Hintergründe der Swisspunk-Morgendämmerung auf den Tisch. Ebenso offenbarte er die Hintergründe der wundersamen, energetischen Transformation Dietrichs zu 'Hillary' und auch was diese Wandlung mit der Wahl Benedikts zum Hirten aller Gläubigen gemein hatte. "Sheer Hilariousness" liess insofern keine Frage offen und entführte durch Musik, Bild-Collagen und Wort in ein Universum, das, obwohl nur den nackten Tatsachen verpflichtet, nicht mehr von dieser Welt zu sein schien.

Musikalisch offerierte Rudolph 'Hillary' Dietrich vollkommen überarbeitete Remix- und Remaster-Versionen bis hin zu neu eingespielten Tracks. So war kein rückwärts orientiertes, die Vergangenheit dokumentierendes Nostalgie-Album entstanden, sondern ein straffes Paket von Songs, die im klassischen Punk-Spirit geschrieben wurden, aktuell aber im Tempo des neuen Jahrtausends transportiert wurden und dadurch wieder richtungsweisend gerieten. Insgesamt kam die Musik mit einer Frische und Unverbrauchtheit daher, als wäre sie gerade erst entstanden. Dieses Spektakel konnte somit nicht nur die grosse internationale Gemeinde Eingeweihter begeistern, sondern auch Teen- und Twen-Parties erst richtig zum Krachen bringen. "Sheer Hilariousness" lud voller Übermut zu einer Reise ein: Dorthin, wo die Gesetze von Raum und Zeit nur noch willkürlich erschienen und auch ihre Gültigkeit verloren. Aus damaligen Punk-Brechern entstanden in den Neufassungen herrliche Vorwärts-Rock'n'Roll Songs, die näher an den Ramones waren als an den Sex Pistols. Beispielsweise der Opener "I've Got A Whole Lotta Love": Bis heute will diese 2 Minuten und 17 Sekunden lange Begeisterung nicht abschwellen, das ist purer Rock'n'Roll für's Herz. Der ehemals mit Kraft durch Freude veröffentlichte Song erhielt hier ein wesentlich geerdeteres Arrangement und wurde unter dem Bandnamen Hilarious Ltd. veröffentlicht. Mit "No CBS" (abgekürzt für "No Claim with Bluff and Swindle"), dem damaligen Arschtritt gegen die grossen Plattenfirma, erhielt ein Solo-Titel von Rudolph Dietrich ein neues akustisches Gewand, ebenso wie das ungestüme "Lies" von Kraft durch Freude. Aber auch einige coole Neubearbeitungen klangen richtig klasse, wie beispielsweise der Kleenex-Titel "Ain't You Wanna Get It On", dem Rudolph Dietrich einen neuen Remix verpasste.

Den überwiegenden Anteil an Songs machten bei diesem feinen Zusammenschnitt zwar Kraft durch Freude Songs aus, jedoch gab es insbesondere mit dem Nasal Boys Titel "Hot Love" einen Single-Remix, sowie eine Videoproduktion des vielleicht wichtigsten Zürcher Punk-Songs, und dies allein war schon aus historischer Sicht ein absolutes Tüpfelchen auf dem i dieser wirklich bemerkenswert vielfältigen und ebenso hervorragenden Zusammenstellung. Ein Katapult in eine andere Zeit, in der noch Aufbruchstimmung herrschte, und man sich nicht gross darüber Gedanken machte, wo das alles hinführen soll, was man da hinrotzt. Ein wunderbares Zeitdokument, das auch mich persönlich zurückkatapultiert in eine Zeit, als ich selbst auch noch in diesen dreckigen, verpisst-verrauchten Höhlen herumlungerte (in den angesagten Clubs Hey und Entertainer beispielsweise) und mich lustig machte über die von Rudolph Dietrich besungenen "'68 Zombies" oder über ein "Ticket To Disneyland". Und in Songtexten wie in "Do What You Want", "Here We Go", "I Want Some More" oder "Fight Each Other" fand ich mich dann auch ein bisschen selbst. War eine geile Zeit damals in Zürich.

Dass Rudolph Dietrich indes kein Kämpfer, Auflehner oder gar Revolutionär war, hatte er immer wieder explizit betont. So sagte er 1980 in einem Interview in der Szene-Zeitung '21i': "Wenn wir aber provozieren wollten, hätten wir uns Gestapo oder III. Reich genannt. Kraft durch Freude hingegen hat noch eine neutrale Aussage. Ich finde diesen Namen schlichtweg eine Bombe, verkörpert er doch unser ganzes musikalisches Konzept: Musik um des Spasses, der Freude willen. Wir wollen weder eine Weltanschauung verkaufen noch schockieren, was zählt, ist einzig die Musik". Und noch im Jahre 1983, als die erste Punkwelle längst klinisch tot war, konstatierte Rudolph Dietrich in der Szeneschrift 'Tell': "Gerade die Schweiz ist ein Land, dessen geistiger Bereich nur aus Hüllen überlebter Denkweisen besteht. Daneben existiert ein riesiger Freiraum, der uns auffordert, ihn zu beleben". Wenn man sich diese Aussage Dietrich's vor Augen führte, dann erklärte sich die hier vorgestellte Zusammenstellung "Sheer Hilariousness" eigentlich schon von selbst.

Therefore, don’t hesitate any longer and get your ticket to Hilllaryland.












THE JOHN BUTLER TRIO - Live At St. Gallen 
(Lava Records 7567-93525-2, 2006)

John Butler wurde am 1. April 1975 im kalifornischen Torrance geboren. Nachdem seine Familie zwischenzeitlich in Los Angeles lebte, zog sie 1986 wieder in das australische Heimatland seines Vaters. Fortan wohnte die Familie in Pinjarra, einem kleinen Dorf im Westen von Australien. Nachdem John Butler sein Kunststudium abgebrochen hatte, war er zunächst als Strassenmusiker aktiv. Im Jahre 1998 gründete er das John Butler Trio, welches fortan mit wechselnder Besetzung auftrat. 2003 kamen Shannon Birchall (Bassist, Melbourne) und Michael Barker (Schlagzeuger, Neuseeland) hinzu. "Live At St. Gallen" ist eine Doppel-CD, die unter sehr glücklichen, wenn nicht gar einmaligen Umständen und Zufällen zustande gekommen ist. Und das ging so: Das John Butler Trio sollte am St. Galler Open Air am 3. Juli 2005 auftreten. Der gebuchte Termin und die Zeit des Auftritts waren längst festgelegt. Die Band und ihre Crew reiste in St. Gallen an, glücklicherweise etwas früher als geplant. Vor der Band sollte eine andere Gruppe an dem Open Air auftreten, die jedoch in Zürich-Kloten am Zoll festhing und nicht pünktlich in St. Gallen sein würde, um ihren Auftritt rechtzeitig bestreiten zu können. Der Veranstalter kontaktierte daraufhin das bereits anwesende John Butler Trio und fragte nach, ob die Musiker eventuell schon früher auf die Bühne gehen würden, im Gegenzug dafür aber länger spielen könnten ? Nach kurzer Absprache erklärte sich die Band einverstanden und spielte einen ganz phantastischen Gig, der aufgrund der Umstände fast doppelt so lang ausfiel als geplant. Da das John Butler Trio ein grosses Faible für lange Jams hat, kam ihnen dieser Zufall natürlich zugute. Die Band konnte dadurch viel freier und ausgedehnter jammen. Die tolle Open Air Stimmung und das begeisterte Publikum tat ein übriges, um aus einem kurzen Auftritt ein begeisterndes Konzert zu bestreiten.

Was die Band allerdings nicht wusste: Ihr Auftritt wurde live mitgeschnitten, was eigentlich als Aufnahme der Gruppe geplant war, die vor dem John Butler Trio hätte auftreten sollen. Da diese nun durch das John Butler Trio ersetzt wurde, liess man die Bandmaschinen kurzerhand laufen und hielt so völlig ungeplant einen grossartigen Auftritt auf Band fest, der so in dieser Form sonst wohl nie das Licht der Tonträger-Welt erblickt hätte. Gemäss John Butler war dieser erste und etwas spezielle Gig in der Schweiz das unangefochtene Highlight ihrer gesamten damaligen Tour. Gross war also auch die Freude, als man nach dem gelungenen Konzert erfuhr, dass der Schweizer Radiosender DRS3 den kompletten Gig aufgenommen hatte, und man entschloss sich kurzerhand, eine Doppel Live-CD von diesem Abend zu veröffentlichen.

Aufgezeichnet von Patrick Müller und produziert von Ron Kurz gelang dem australischen Trio mit dieser Live Doppel CD nach dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Studioalbum "Sunrise Over Sea" letztlich der internationale Durchbruch, denn die Aufnahme bietet eine enorme Spielfreude, eine reduzierte Instrumentierung auf höchst dynamische Art gespielt und selbstverständlich jede Menge hervorragender Songs, allesamt aus der Feder von John Butler, von denen die beiden auf dem "Sunrise Over Sea" erstmals präsentierten Stücke "Betterman" und "Treat Yo Mama" die intensivsten und beeindruckendsten sein dürften. Vor allem das auf fast 17 Minuten ausgedehnte Jam-Stück "Betterman" ist erstklassig gespielt und fängt die Stimmung und die Interaktion zwischen Band und Publikum am eindrücklichsten ein. Aber auch die jeweils über zehn Minuten langen "Take" und "Ocean" sind brilliant und wurden von der Band an normalen Konzerten zu jener Zeit kaum je so lange gespielt. Das tolle sonnige Wetter und das enthusiastische Publikum führten letztlich dazu, dass sich das Trio in einen wahren Spielrausch hineinspielte, der beim anhören dieser Platte sehr schön nachempfunden werden kann.

John Butler spielte an dem Konzert verschiedene Arten von Saiteninstrumenten, meistens jedoch eine verstärkte 11-saitige akustische Gitarre, sowie Banjo, Lap Steel Gitarre und Perkussion. Ihm zur Seite standen mit Shannon Birchall ein versierter und sehr abwechslungsreich agierender Bassist, der wahlweise den akustischen oder den elektrischen Bass spielte, sowie der äusserst rhythmusbetonte und herrlich locker groovende Schlagzeuger Michael Barker. Als wären die Umstände dieser Einspielung nicht schon interessant genug, so ist es auch noch das Album, von dem John Butler bis heute am meisten Exemplare hat verkaufen können, was nicht zuletzt auch dem Renomée des St. Galler Open Air zuträglich war, das spätestens seit dieser hervorragenden Live-Veröffentlichung weltweit bekannt geworden ist. Eine ganz dicke Empfehlung für alle Musikfans, die sich von einem Live-Auftritt einmal so richtig packen und treiben lassen wollen. Zwischen Folk-Rock und leicht staubigem Wüstensound bietet das John Butler Trio hier eine packende und äusserst intensive und dynamische Mixtur prächtiger, ab und an leicht anpsychedelisierter Sommermusik.


Im Jahre 2007 hatte die Band einen Auftritt beim 'Live Earth' Konzert in Sydney. Bekannt wurde John Butler unter anderem für sein virtuoses Lapsteel-Spiel (Gitarre liegt auf den Oberschenkeln) beziehungsweise dafür, dass er meist mit 'open tunings', bei welchem die Gitarre in einem Akkord gestimmt ist, spielt. Am 23. März 2009 gab John Butler auf der offiziellen Band-Homepage bekannt, dass er sich im April von seinen damaligen Bandmitgliedern trennen werde. Die Gründe hierfür seien rein künstlerisch. 2009 stiessen der auf Malta geborene Nicky Bomba, der bereits 2004 bei den Aufnahmen zu dem Studioalbum "Sunrise Over Sea" beteiligt war (Schlagzeuger, Melbourne) und Byron Luiters (Bassist, Sydney) zum Trio und stellten mit John Butler als Leadsänger die aktuelle Besetzung dar. John Butler gründete ausserdem mit einem Freund sein eigenes Plattenlabel Jarrah Records. Das Label wurde benannt nach einer südaustralischen Eukalyptusart. Neben dem John Butler Trio veröffentlichten auch The Waifs ihre Platten bei Jarrah Records.



Oct 9, 2024


13th FLOOR ELEVATORS - The Psychedelic Sounds Of The 13th Floor Elevators
(International Artists IA-LP-1, 1966)

The 13th Floor Elevators waren eine amerikanische Rockband, die im Herbst 1965 in Austin Texas von Roky Erickson, Tommy Hall, Bennie Thurman, Stacy Sutherland und John Ike Walton gegründet wurde. Der Bandname bezieht sich auf den 13. Buchstaben des Alphabets, das M und dieses stand für Marihuana, das einen high machte, also nach oben brachte, wie ein Aufzug (Elevator). Eine andere Interpretation besagt, dass aufgrund von Triskaidekaphobie bei der Geschosszählung vieler amerikanischer Hochhäuser auf die 12 die 14 folgt und der Bandnamen als Paradoxon steht. Die einzige Chart-Positionierung gelang der Single "You’re Gonna Miss Me". Sie erreichte im Jahre 1966 den 55. Platz in den Vereinigten Staaten. Eine erste Aufnahme dieses Songs hatte Erickson bereits 1965 mit seiner alten Band The Spades veröffentlicht, die er kurz darauf verliess. Mit den 13th Floor Elevators kam es Anfang 1966 zu einer neuen Aufnahme des Songs und einer Veröffentlichung unter dem Contact-Label, die zu einem lokalen Erfolg wurde. Die Übernahme der Single durch das Houstoner International Artists Label im gleichen Jahr erreichte dann die Billboard-Charts. Bald darauf folgte eine Einladung in Dick Clark's Fernsehsendung American Bandstand.

Noch im selben Jahr veröffentlichte die Band das erste Album "The Psychedelic Sounds Of The 13th Floor Elevators". Die Band war die erste, die sich selbst unter dem Begriff Psychedelic vermarktete. Nur zwei Wochen später griffen Grateful Dead den Begriff ebenfalls auf. Bis 1968 spielten die 13th Floor Elevators noch zwei weitere Studioalben ein. Die Elevators waren bekannt für ihren Konsum von Marihuana und LSD (letzteres war zur Anfangszeit der Band noch kurze Zeit legal), lediglich Schlagzeuger John Ike Walton distanzierte sich frühzeitig davon, nachdem er schlechte Erfahrungen mit seinem zweiten LSD-Trip gemacht hatte. Regelmässige Kontrollen durch die texanische Polizei waren die Folge. Nachdem Erickson, der schon im Vorjahr wegen Schizophrenie behandelt worden war, schliesslich im Jahre 1969 mit einer kleineren Menge Marihuana in Austin aufgegriffen worden war, plädierte er auf Rat seines Anwalts auf nicht zurechnungsfähig, um einer bis zu zehnjährigen Gefängnisstrafe zu entgehen (die Strafen für Marihuanabesitz wurden in Texas erst nach 1970 deutlich abgesenkt). Nachdem er mehrmals aus einer psychiatrischen Klinik in Austin entwichen war, wurde er schliesslich für mehrere Jahre in eine besser gesicherte psychiatrische Anstalt in Rusk überstellt, in der überwiegend schwere Gewalttäter, Vergewaltiger und Mörder einsassen. Die Band löste sich in der Folge 1969 auf. Nach der Auflösung gab es einige Projekte der jeweiligen Mitglieder, jedoch nie eine ernsthafte Wiedervereinigung. Eine Tragödie ereignete sich zudem 1978, als Stacy Sutherland bei einer schweren Auseinandersetzung mit seiner Frau von dieser erschossen wurde.

Die Musik der Band war deutlich vom Rhythm & Blues geprägt und mit dem Stil der Rolling Stones und des jungen Frank Zappa ("Slip Inside This House", "Trouble Every Day") in den 60er Jahren vergleichbar. Ungewöhnlich jedoch war die energisch kreischende Stimme von Roky Erickson und der mit einem Mikrophon elektrisch verstärkte Jug von Tommy Hall. Der Jug steht in der Tradition des Blues und ersetzte vornehmlich während der 30er Jahre den sperrigen und teuren Kontrabass. Im Grunde handelte es sich dabei um eine grössere, bauchige Flasche, in die hinein geblasen wurde. Solche Bands wurden als Jug Bands bezeichnet. Tommy Hall erzeugte damit hohe, rhythmische Stakkatotöne, deren Frequenz und Tonlage leicht variierte. So entstand ein Klangteppich im Hintergrund der Musik, welcher der Band einen einzigartigen und ungewöhnlichen Charakter verlieh. Neben den Amazing Charlatans waren The 13th Floor Elevators die erste Band, die unter Einfluss von LSD live spielte. Sie sahen sich selbst allerdings als bessere Live-Band. Ausserdem hatten die 13th Floor Elevators externe Songwriter. Unter anderen waren das Tommy Hall's Frau, Clementine Hall ("Splash 1", "I Had to Tell You") und Powell St. John ("Kingdom Of Heaven", "Monkey Island", "You Don’t Know", "Take That Girl", "Right Track Now"), der in den 60er Jahren auch Einfluss auf viele andere Musiker in Austin Texas, hatte. Die Stücke "You’re Gonna Miss Me" und "Slip Inside This House" sowie das Album "The Psychedelic Sounds of the 13th Floor Elevators" zählen heute zu den Klassikern des Garagenrock bzw. Psychedelic Rock.

Die 13th Floor Elevators waren unbestritten das Lebenswerk von Roky Erickson. Roger Kynard Erickson, geboren am 15. Juli 1947 in Dallas, Texas, gestorben am 31. Mai 2019 in Austin, Texas war vor seiner wechselhaften Solo-Karriere von 1965 bis zu deren Auflösung im Jahre 1969 Mitglied der Band The 13th Floor Elevators, die zu den Pionieren des Psychedelic Rock zählen. Aufgrund einer psychischen Erkrankung lebte Erickson lange vollkommen zurückgezogen, nahm aber weiterhin Alben auf. Ab 2005 gab er auch wieder regelmässig Konzerte. Roky Erickson wuchs als ältester von fünf Söhnen eines Architekten und einer gesangsbegeisterten Mutter auf. Mit fünf Jahren begann er mit dem Klavierspiel, etwas später kam das Gitarrenspiel hinzu. Kurz vor seinem Abschluss verliess er die Highschool mit dem Ziel, professioneller Rockmusiker zu werden. Etwa zur gleichen Zeit schrieb er sein kommerziell erfolgreichstes Stück "You’re Gonna Miss Me", das er 1965 zunächst mit der Austiner Band The Spades aufnahm. Kurz darauf wechselte er jedoch zu einer anderen lokalen Band, den The 13th Floor Elevators, die einen Sänger suchten und auf Ericksons hohen, extrovertierten Gesangsstil aufmerksam geworden waren.

Bereits im April 1968 wurde Erickson erstmals wegen Schizophrenie behandelt, als er nach der Rückkehr von einer Konzerttour einen erschöpften und verwirrten Eindruck machte und von seiner Mutter in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Er entzog sich jedoch mit der Hilfe seines Bandkollegen Tommy Hall der Behandlung und reiste mit einigen Freunden nach Kalifornien, wo er unter anderem mit Heroin versuchte, die schrecklichen Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Nachdem er kurz darauf an Gelbsucht erkrankte, kehrte er nach Austin zurück. Da die Bandmitglieder in ihrer Heimatstadt als Konsumenten von Drogen wie LSD, Marihuana und Mescalin bekannt waren, standen sie unter besonderer Beobachtung der lokalen Polizei. Nachdem bei Erickson im Jahr 1969 Marihuana gefunden worden war, drohte ihm in Texas eine bis zu zehnjährige Haftstrafe. Sein Anwalt erreichte jedoch aufgrund Ericksons Vorgeschichte, dass er stattdessen wegen Unzurechnungsfähigkeit in eine psychiatrische Anstalt in Austin eingewiesen wurde, aus der er in der Folge mehrmals floh, um seine damalige Frau Dana zu besuchen. Schliesslich verlegten ihn die Behörden in das berüchtigte Rusk State Hospital for the Criminally Insane, wo Erickson und seine überwiegend gewalttätigen Mitinsassen unter strenger Bewachung standen. Es wurde ihm in der Anstalt gestattet, in einer kleinen Band zu spielen, jedoch musste er während seines Aufenthalts immer wieder Behandlungen und Experimente mit Elektroschocks und starken Psychopharmaka über sich ergehen lassen. Er wurde erst Ende 1972 wieder entlassen, nachdem ein Anwalt ihn bei einem Besuch in Rusk wiedererkannt und sich für ihn eingesetzt hatte. In der Zwischenzeit, im Jahr 1970, hatte der Kongress der Vereinigten Staaten die Strafen für den Besitz kleinerer Mengen Marihuana gelockert, sodass es sich auch in Texas nur noch um ein minderschweres Vergehen handelte. Nach dieser Massgabe und der folgenden Rechtsprechung wäre Erickson mit seinem Vergehen aus einem normalen Gefängnis schon längst wieder entlassen worden. Der Anwalt erreichte vor Gericht, dass Erickson einerseits wieder als zurechnungsfähig anerkannt und dass andererseits seine Zeit in Rusk als ausreichende Strafe für das Drogenvergehen angerechnet wurde.

Nach seiner Entlassung gründete er 1975 die Band Bleib Alien, die sich dann später in Roky Erickson and the Aliens umbenannte. Im Laufe der 90er Jahre verschlechterte sich der Zustand Ericksons zunehmend; seine Karriere als Musiker kam zum Stillstand, während mehrfach älteres Aufnahmematerial veröffentlicht wurde. Regelmässige Kontakte pflegte er lediglich noch zu seiner Mutter, die versuchte, sich um ihn zu kümmern. Erickson verwahrloste jedoch zunehmend und verbrachte die meiste Zeit mit dem Ansehen von Cartoonserien und der Ablage und Beantwortung von Werbe- und Postwurfsendungen. Als Sumner, Rokys jüngster Bruder und ebenfalls Berufsmusiker, nach etlichen Jahren wieder nach Austin kam, entschied er sich, seinem Bruder zu helfen. Im Jahre 2005 wurde Keven McAlesters Dokumentarfilm 'You’re Gonna Miss Me' veröffentlicht. Das Filmteam begleitete Erickson zwischen 1999 und 2004 und zeigte, wie Roky Erickson unter Mithilfe seines Bruders Sumner versuchte, wieder Ordnung und Normalität in sein Leben zu bringen. Ergänzt durch zahlreiche Rückblicke auf das Leben Ericksons kamen neben seiner Familie alte Freunde und spätere Weggefährten wie Billy Gibbons, Patti Smith und weitere zu Wort. Der Film wurde im Jahre 2007 in der Kategorie Bester Dokumentarfilm für den Independent Spirit Award nominiert.

Ab dem Jahre 2005 fühlte sich Erickson wieder so gut, dass er allmählich wieder Konzerte gab. Im Jahre 2010 veröffentlichte er nach 14 Jahren erstmals wieder ein Studioalbum. Mit Unterstützung der amerikanischen Indie Rockband Okkervil River erschien "True Love Cast Out All Evil", das bis auf Platz 27 der Billboard-Charts in der Kategorie Independent Album stieg. Sogar eine Wiedervereinigung der 13th Floor Elevators nach mehreren Jahrzehnten Pausen wurde 2015 möglich. Roky Erickson starb am 31. Mai 2019, wie sein Agent und sein Bruder bestätigten. Sie schwiegen allerdings zur Todesursache. Viele Musiker und Kollegen äusserten sich bestürzt über die Meldung. Der Musiker wurde 71 Jahre alt. Er stand zuletzt am 20. April 2019 auf einer Bühne in San Francisco.





SPOCK'S BEARD - Snow Live (Radiant Records 3984-15536-1, 2017)

2002 brachte die Progressive Rockband Spock’s Beard ein Album heraus, das vielen als Meisterwerk der US-amerikanischen Musiker galt: "Snow", ein musikalisch ausladendes, fast zweistündiges Konzeptalbum über einen Albino-Jungen mit übersinnlichen Kräften, der eine komplizierte Metamorphose vom Aussenseiter zum charismatischen Wunderheiler und Messias und wieder zurück zum Paria durchläuft. Nicht zu Unrecht wird das Opus, wenn es um die Würdigung von Konzeptalben geht, im gleichen Atemzug mit "Tommy" der britischen Rockband The Who und "The Lamb Lies Down on Broadway" von Genesis genannt. Mit "Snow" erreichten Spock’s Beard jedenfalls den Höhepunkt ihrer Karriere und feierten Erfolge, von denen sie zuvor nur geträumt hatten.

Dann verliess Neal Morse nach einem religiösen Erweckungserlebnis die Band, um eine Solokarriere mit christlichen Texten zu verfolgen. Morse war Hauptkomponist, Leadsänger, Keyboarder, Gitarrist und Gründungsmitglied der Band. Fans und Freunde von Morse waren schockiert, wie aus heiterem Himmel getroffen zeigte sich die Band. Es würde keine Tournee mehr geben, um das neue Album zu promoten, und auch keine offizielle Verabschiedung von den Fans. Ein Ausstieg, der viele an den unvermittelten Fortgang des Genesis-Sängers Peter Gabriel Jahre zuvor erinnerte.

Spock’s Beard haben indessen ohne ihren Frontmann mit grossem Erfolg weitergemacht, und auch Morse hat es nach seinem Ausstieg auf etliche Soloalben gebracht, zudem ist er einer der umtriebigsten Progressive Rock Musiker geworden, agiert mit den Flying Colors, mit Transatlantic und natürlich auch mit der Band unter eigenem Banner, genannt The Neal Morse Band. Dennoch hatten die Musikfans immer auf eine Wiedervereinigung von Spock’s Beard gehofft und auch auf die Gelegenheit gewartet, das Album "Snow" in einer Live-Aufführung mit der kompletten Originalband zu erleben, so wie sie das Album damals eingespielt hatte. Dieser Traum ging 2016 auf dem Morsefest in Nashville in Erfüllung, wo Spock’s Beard in der originalen Besetzung gemeinsam mit den aktuellen Bandmitgliedern das Konzeptalbum "Snow" in voller Länge spielte. Der Mitschnitt dieses absoluten Ausnahmekonzertes wurde am 10. November 2017 unter dem Titel "Snow Live" in verschiedenen Audio- und Bildformaten und Editionen veröffentlicht.

"Snow Live" zeigte eine Band, die in Höchstform spielte und von der man nicht glauben mochte, dass sie anderthalb Jahrzehnte lang nicht zusammengespielt hatte. Alle Musiker agierten mit grosser Geschlossenheit und Souveränität. Die Musik zeigte Progressive Rock von seiner schönsten Seite: üppige Solos auf Keyboards und Hammondorgel, schönen, mehrstimmigen Gesang, eindringliche, intensive Songs, die unter die Haut gingen, filigranes Gitarrenparts, kraftvolle rockige Passagen, entrückte Backing Vocals, wuchtiges Schlagzeugspiel der beiden Drummer und fetzige Bläsersätze. Auch am Klang gab es nichts zu meckern. "Snow Live" überzeugte ohne Abstriche mit einem klar durchgezeichneten, druckvollen Sound, der den Hörer bei Stücken wie "Ouverture" förmlich aus den Lautsprechern ansprang und für wohlige Gänsehaut sorgte.

Egal, ob es um die Abmischung der einzelnen Instrumente oder die vielfältigen Stereo-Effekte ging, hier stimmte eigentlich alles. Noch dazu war das Konzert, welches sehr emotional mit "Made Alive" und bereits genannter "Overture" begann, selber schlicht grossartig, natürlich inklusive des berühmt-berüchtigten Ryo Okomoto Keyboard-Solos an seiner Key-Gitarre sowie sein Vocoder-Gesang auf "Long Time Suffering", und präsentierte eine endlich sich wieder zusammengefundene Band, von der man den Eindruck hatte, sie würde bereits seit Ewigkeiten zusammenspielen und nicht fast 15 Jahre getrennte Wege gegangen sein. Ein ganz besonderes Highlight war aber auch der faszinierende Gesang von Nick D‘Virgilio, der Neal Morse, ebenfalls hervorragend singend, mit seiner hohen, kristallklaren Kopfstimme fast die Show stahl. Alles in allem ein denkwürdiges Konzert, bei dem man zu jeder Minute spürte, wie die Chemie zwischen allen sieben Musikern plus den zwei Bläsern, die eine zusätzliche Konzert-Bereicherung bedeuteten, stimmte. Hier bekam man alles geboten, was das Progressive Rock Live-Herz begehrt.



Jul 10, 2024


B.B. BLUNDER - Workers' Playtime (United Artists Records UAG 29156, 1971)

Als sich die Gruppe Blossom Toes Ende 1969 auflöste, zog es den Musiker Jim Cregan aus romantischen Gründen nach Italien. Damit war seine musikalische Kariere allerdings nicht beendet. In der Folgezeit spielte er unter anderem bei den Formationen Stud, Family, Cockney Rebel und in der Band von Rod Stewart. Der Schlagzeuger Barry Reeves ging nach Deutschland und wurde Mitglied im James Last Orchester, wo er zumindest noch bis in die 90er Jahre spielte. Als letztes gemeinsames Projekt fungierte die Gruppe als Begleitband auf Julie Driscoll’s Soloalbum "1969". Die Zusammenarbeit war so fruchtbar, dass Julie vorschlug, Mitglied der Band zu werden. Dieser Vorschlag kam nicht wirklich überraschend, denn sie war Brian Goddings Schwägerin. Brian war bereits mehrere Jahre mit Angie Driscoll verheiratet und gehörte quasi zur Familie. Da die Auflösung der Band kurz bevor stand, konnte Julie Driscolls Idee zunächst nicht in die Tat umgesetzt werden. Brian Godding und Brian Belshaw rekrutierten ihren alten Freund Barry Jenkins, der bei den Animals als Schlagzeuger engagiert war und so konnten doch noch einige kleine Auftritte gemeinsam mit Julie Driscoll absolviert werden. Dabei war der Auftritt im Roundhouse in London, organisiert von einem anderen alten Freund, Peter Swales, der beeindruckenste. Swales hatte zuvor mit den Rolling Stones gearbeitet und später Gypsy (Ex-Legay) aus Leicester gemanaged und dabei soviel Geld verdient, dass er drei Firmen gründete: Sahara Music (Verlag) Sahara Records (Tonträgerfirma) und Sahara Management.

Diese drei Firmen sollten zwar in erster Linie die Band Gypsy vermarkten, doch nach dem Zusammenbruch der beiden Plattenfirmen Marmalade und Paragon und der Auflösung der Blossom Toes, entschied sich Swales, in neue Projekte zu investieren. Höhepunkt des Roundhouse-Auftritts war eine spezielle Version von Brian Goddings Hymne "New Day", bei der die Band von einem Chor aus vorwiegend Schulkindern, den Swales zusammengestellt hatte, begleitet wurde. Die Blossom Toes hatten den Titel "New Day" bereits mehrfach aufgenommen. Als letzte Single geplant, deren Erscheinungsdatum für Oktober 1969 vorgesehen war, geriet sie jedoch nicht über das Stadium einer Testpressung hinaus (Marmalade Records 598022). Mit dem Ergebnis war die Band wieder nicht zufrieden. Kurze Zeit nach dem Roundhouse-Auftirr spielte die Band für Sahara Records im Advisions Studio deshalb eine weitere Version von "New Day" mit den Gastmusikern Mick Taylor und Brian Auger und einem grossen Chor (bekannt als der Combined Network Forces Choir) ein. Peter Swales war fest davon überzeugt, dass diese erste Aufnahme-Session zu einem Brian Godding Soloalbum führen würde. Brian dagegen blieb bei der unerschütterlichen Überzeugung, dass ein Soloalbum nie geplant war und diese Aufnahme-Session und alle folgenden Aufnahmen Gruppenleistungen waren, ganz egal, was jeder Einzelne dazu beigetragen hatte. Er wollte auf keinen Fall ein Soloalbum einspielen. Als der nächste Aufnahmetermin Ende März 1970 anstand, hatte Barry Jenkins die Band bereits wieder verlassen. Seinen Platz nahm Kevin Westlake ein, ein langjähriger Freund. 

Das war die Geburtsstunde der zweiten Inkarnation der Blossom Toes, mit Julie Driscoll als kurzzeitigem Mitglied. Kevin Westlake hatte Ende 1967 die Blossom Toes verlassen, aber den Kontakt zu Brian Godding und Brian Belshaw nie abreissen lassen. Er hatte seine Schlagzeugstöcke beiseite gelegt und sich auf Akustikgitarre, Gesang und Komposition konzentriert. Anfang 1968 hatte er sich mit Gary Farr zusammengetan, um eine Popsingle aufzunehmen. Diese erschien auf Marmalade Records im März 1968 und klang trotz des Schielens in Richtung Hitparade erstaunlich gut. "Green" war eine Komposition von Gary Farr und Kevin Westlake hatte die B-Seite "Everyday" geschrieben. Als Interpretenname hatte sich Marmalade The Lion And The Fish ausgedacht (in Anlehnung an die Sternzeichen, wobei Löwe und Fische noch nicht einmal die tatsächlichen Sternzeichen der beiden Musiker wiedergaben). Die Single war ein Flop, wurde aber später sehr gesucht und gilt inzwischen als begehrtes Sammler-Objekt. Die Beiden absolvierten einige Auftritte, die sie unter anderem auch nach Südfrankreich führten, wo ein Auftritt über den Fernsehsender 'Europe I' ausgestrahlt wurde. Dieser Auftritt geriet zum völligen Fiasko, als mitten im Titel "Green" Giorgio Gomelsky, der Tourmanager, Produzent und Manager der Blossom Toes völlig betrunken nur mit einem Tuch bekleidet, hüpfend "Green, ich möchte Green" schrie. Am nächsten Tag traf die Band Giorgio am Strand von Cannes und Gary übergoss ihn mit Bier. Die Tour war damit beendet, sie waren gefeuert und kehrten, ohne einen Cent in der Tasche, nach London zurück. 

Bei einem anderen Trip nach Cannes arbeiteten Kevin und Gary als Roadies für ihre Helden Captain Beefheart And The Magic Band. The Magic Band sollte beim berühmten Midem Festival auftreten. Da die Blossom Toes zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls in Cannes spielten, stellten sie ihre Anlage der Magic Band zur Verfügung. Das Coverfoto auf der französischen Ausgabe von Captain Beefheart's Album "Safe As Milk" (und auf einer späteren englischen Wiederveröffentlichung) zeigte die Anlage am Strand von Cannes, wie sie Kevin und Gary aufgebaut hatten. Wie Kevin später berichtete, war der Midem-Auftritt ein voller Erfolg. Ende 1968 wurde Kevin von einem der Manager der Band Blue Cheer in die Vereinigten Staaten eingeladen, um der Band beim Songschreiben behilflich zu sein. Sein Aufenthalt endete, nachdem er die Band auf einer Tour kreuz und quer durch die USA begleitet hatte. Während dieser Tournee hatte Kevin auch den Platz des aktuellen Schlagzeugers bei Blue Cheer, Paul Whaley eingenommen, als dieser nicht aufgefunden werden konnte, obwohl er sich im selben Gebäude befand. Während der Tour hatte Kevin Leigh Stephens kennen gelernt und spielte, später wieder in England, auf dessen Album "Red Weather" mit. Das Album fand er schrecklich, aber er wurde gut dafür bezahlt.

Anfang 1970 lief es für Kevin musikalisch nicht so recht, obwohl er gelegentlich mit Gary Farr auftrat. Sie spielten unter anderem auch beim Auftritt der Blossom Toes Nr. 2-Band mit Julie Driscoll und waren auch Mitglieder im Combined Network Forces Choir bei "New Day". So war er glücklich auf seinen Schlagzeugschemel zurückkehren zu können, als ihn Brian Godding und Brian Belshaw baten, in die Band einzusteigen. Die ersten gemeinsamen Aufnahmen fanden in den Olympic Studios in London statt. Erste aufgenommene Titel waren das grossartige "Rise" und das Stück "Seed". Allen Beteiligten war klar, dass dies, gleich was ursprünglich geplant sein mochte, eine echte Band war. Die Aufnahmen verliefen reibungslos, die Beziehung zwischen den Musikern war äusserst harmonisch und das Ergebnis war aufregend und dynamisch. Die Aufnahmen zeigten insbesondere, wie sich Brian Godding als Gitarrist weiterentwickelt hatte, demonstrierten sein wachsendes Interesse an Gitarrensounds genauso, wie das einfache, unverfremdete Spiel. Einziges Problem bei den Aufnahmen war, wie Brian Godding berichtete, dass die Betreiber des Olympic Studios eine Dolby-Maschine installiert hatten, die niemand richtig zu bedienen wusste. Beim Abhören der Aufnahmen fragte Brian den Toningenieur nach den Spitzen und den Höhen, worauf der Toningenieur antwortete: "sie sind da, aber du denkst, dass du sie nicht hörst, weil das Dolby-System sie unterdrückt". Tatsächlich war die Anwendung des Dolby-Systems dafür verantwortlich, dass auf den Aufnahmen schlicht eine Menge Höhen fehlten. Offenkundig hatte niemand einen Plan, wie das Dolby-System ein- oder ausgeschaltet werden konnte. 

Da die gebuchte Zeit in den Olympic Studios abgelaufen war, wechselte die Band zu den Island Studios. Dort wurden in erster Linie Kevin Westlakes Songs aufgenommen. Unglücklicherweise lief dort einiges schief und die Band kehrte im Frühsommer 1970 wieder in die Olympic Studios zurück, wo die beiden weiteren Titel "Lost Horizons" und "Research" spontan und ohne grosse Vorbereitung aufgenommen wurden, angeblich als Soundtrack für einen französischen Avantgarde-Film, der allerdings nie gedreht wurde. Die Band war wieder auf Kurs und in den folgenden Monaten wurde der Rest des Albums eingespielt. Besonders auffällig war dabei das recht funky klingende "Sticky Living" mit Nick Evans (Posaune) und Marc Charig (Tompete). Beide zählten zur zeitgenössichen englischen Jazz-Szene, der sich Brian Godding, durch seine Verbindung zu Keith Tippett und nicht zuletzt zu Mike Westbrook, mit dem er nach wie vor zusammen spielte, nun zuwandte. Eine verkürzte und remixte Version von "Sticky Living" wurde (möglicherweise nur in Deutschland) als Single veröffentlicht (United Artists Records UA 35203 B), mit "Rocky Yagbag", aus unbekannten Gründen hier als "Rocky Yagbatee Yagbag" betitelt, mit Kevins herbem "Irish Sex Thriller" als B-Seite. Nach dem Abschluss der Albumaufnahmen mieteten Godding, Belshaw und Westlake ein Landhaus in Pembrokeshire, wo sie zwei Wochen lang non stop jammten. Anschliessend kehrten sie nach London zurück und nahmen weitere Brian Godding-Kompositionen (möglicherweise "Backstreet" und "Ever Since A Memory") auf. Diese Aufnahmen blieben jedoch unveröffentlicht. 

Das B.B. Blunder-Album erschien schliesslich Anfang 1971 unter dem Titel "Workers’ Playtime". Die Gestaltung des Covers orientierte sich unter anderem an der Nachahmung des Programmschemas der 'Radio Times' mit Spezialprogrammen für die Arbeiterklasse. Hatte diese Idee damals einen bestimmten Reiz (besonders das Coverfoto, welches die Band in Heizungsmonteurklamotten, Bussuniformen und so weiter zeigte, so hat es heute doch seinen Charme eingebüsst. Zudem, wer erinnert sich heute noch an die Radiosendung 'Workers’ Playtime' ? Der Bandname B.B. Blunder war ebenfalls nicht unbedingt eine grossartige Idee. Er entstand während der nicht gerade erfolgreichen Aufnahme-Sessions in den Island Studios, als der Toningenieur auf die Tonbandhülle B.B. für Brian und Brian und Blunder (im Sinne von 'dummer Fehler', respektive 'vermasselt) schrieb. Da Bandname, Albumtitel und Coverdesign wenig über die Musik aussagten, wurde das Album von den meisten Leuten schlichtweg ignoriert. Richtig ist leider auch, dass das Album, ähnlich wie die zweite Blossom Toes LP, zu einer Zeit erschien, als diese Art von Musik einfach aus der Mode gekommen war. Angesagt waren Gruppen wie Yes, Electric Light Orchestra und Alice Cooper. Das B.B. Blunder-Album dagegen war eher eine Fortführung des zweiten Blossom Toes-Albums. Teils etwas mehr funky, mit leichten Jazzeinflüssen, anspruchsvoller, aber doch stets melodisch. Ähnlich wie bei den Blossom Toes Alben gelang es den Musikern wieder nicht, musikalische Qualität in Verkaufserfolge umzumünzen, obwohl das Album eines der besten der frühen 70er Jahre war. Mit Zustimmung aller Beteiligten wurde der Name B.B. Blunder für die Wiederveröffentlichung des Albums auf Vinyl im Jahre 1989 auf Charly Records vermieden und das Album als Blossom Toes ’70 unter dem Titel "New Day" veröffentlicht; berücksichtigend, was es tatsächlich darstellte, nämlich eine zweite Ausgabe der Blossom Toes. 

Gleichzeitig zur Veröffentlichung des Albums sollten auch Live-Auftritte stattfinden. Julie Driscoll hatte sich zwischenzeitlich verabschiedet und da Brian Godding nicht den Leadgesang übernehmen wollte, musste wieder ein alter Freund der Band herhalten. Diesmal war es Reg King, ein grossartiger Sänger, der zuletzt bei The Action gesungen hatte. Reg wurde ebenfalls vom Sahara Management unter Vertrag genommen. 1970, während der Aufnahme-Sessions zum B.B. Blunder-Album hatte Reg King eine Solo-LP aufgenommen ("Reg King", United Artists Records USA 29157), auf welchem Brian Godding, Brian Belshaw und Kevin Westlake bei den Titeln "Little Boy" und "10000 Miles" als Gastmusiker mitgewirkt hatten. Die beiden Titel wurden später als Single veröffentlicht unter dem Namen Reg King and B.B. Blunder (United Artists Records UP 35204). Auch wenn teilweise behauptet wird, dass diese Aufnahmen später entstanden seien, so sind sie doch LP-Auskoppelungen, allerdings mit einer neuen, erheblich verbesserten Abmischung. Wenn etwas am Reg King Album problematisch war, dann die schreckliche Abmischung, musikalisch aber war es auf jeden Fall exzellent. Mit Reg King und dem ebenfalls neu hinzugekommenen Keyboarder Nick Judd absolvierte die Band ihren ersten Auftritt im Frühsommer 1971 im Country Club in Hampstead. Dieser erste Auftritt in dieser Besetzung war dann auch schon wieder der letzte für Kevin Westlake, der von Sänger Reg's chaotischem Verhalten bei diesem Auftritt so genervt war, dass er die Band an diesem Abend verliess. Er ging zurück nach Wales und trat dort, nur begleitet von der Akustikgitarre, in Pubs auf. Wenig später gründete er zusammen mit Ronnie Lane die Slim Chance Band, die so erfolgreich war, dass sogar ein Auftritt bei Top of the Pops heraussprang. Nach etwa einem Jahr löste sich die Originalbesetzung der Band auf und Kevin Westlake war nur noch gelegentlich musikalisch unterwegs. 

B.B. Blunder machten weiter, ersetzten Kevin Westlake durch Chris Hunt, der zuvor bei Thunderclap Newman am Schlagzeug gesessen hatte. Da die Band auch noch einen zweiten Gitarristen suchte, wurden mehrere Probesessions mit verschiedenen Gitarristen abgehalten, aber letztlich war der einzige, der mit der Band auftrat, Bam King, der ebenfalls wie Reg zuvor Mitglied bei The Action und deren Nachfolgeband, den fantastischen Mighty Baby, war. Da dem Album jedoch der erhoffte kommerzielle Erfolg versagt blieb, war es nur eine Frage der Zeit, wann das Ende von B.B. Blunder eingeläutet wurde. Die reformierte Besetzung trat noch bis Ende 1971 auf. Dann waren sämtliche Geldmittel erschöpft und die Band brach auseinander. Während bei den Blossom Toes die Auflösung das Ergebnis einer bewussten Entscheidung war, zerbrachen B.B. Blunder an den fehlenden finanziellen Mitteln. 

Brian Belshaw wurde nach der Auflösung der Band zeitweiliges Mitglied bei der zweiten Formation von Ronnie Lane's Slim Chance Band. Anschliessend verweigerte er sich dem professionellen Musikgeschäft und leitete den Früchte- und Gemüsegrosshandel seiner Familie. Gelegentlich wurde er zwar noch rückfällig. 1979 war jedoch endgültig Schluss. Brian Godding blieb der Musik treu. Hauptsächlich spielte er in Mike Westbrooks vielfältigen Jazz-Projekten, begleitete häufig Kevin Coyne, auf dessen Platten er auch zu hören war, sowie Eric Burdon. Wenn man der Meinung zuneigen könnte, dass die Geschichte der Blossom Toes und von B.B. Blunder nicht über die Bedeutung einer Fussnote in der Rockgeschichte hinaus ging, mochte dies einerseits richtig sein, aber andererseits hätte die Band mit ihrer faszinierend spannenden Musik ein besseres Schicksal verdient gehabt, als ihr zu jener Zeit vergönnt war. Sowohl die Blossom Toes wie auch der Nachfolger B.B. Blunder waren schlicht Garantfür hervorragende Rockmusik, die es noch immer verdient, entdeckt zu werden.




DON WILLIAMS - Country Boy (ABC Dot Records DO-2088, 1977)

Der amerikanische Countrysänger Don Williams begann bereits als Kind Gitarre zu spielen. Mit Lofton Kline und Susan Taylor gründete er 1964 die Pozo-Seco Singers, die eine Mischung aus Folk und Pop spielten. Ein Jahr später hatte die Band mit der Single "Time" einen ersten Hit. Nach einigen weiteren kleineren Erfolgen löste sich die Gruppe jedoch im Jahre 1971 auf. Don Williams kehrte daraufhin zunächst nach Texas zurück. Susan Taylor versuchte unterdessen eine Solo-Karriere, und Williams ging nach Nashville, um sie bei der Produktion ihres ersten Albums zu unterstützen. Eine zeitlang arbeitete er dort für Jack Clement, dem Produzenten von Susan Taylor, als Songwriter. 1973 spielte er bei dessen Label auch sein erstes eigenes Album mit dem schlichten Titel "Don Williams Volume I" ein. Eine kurz zuvor veröffentlichte erste Single verkaufte sich nur mässig, aber bereits seine zweite Single mit dem Titel "The Shelter Of Your Eyes" konnte sich in der Country-Hitparade platzieren. 1975 erreichte er mit einer weiteren Single "We Should Be Together" eine noch bessere Platzierung in den Chart: Position 5.

Der grossgewachsene Texaner, der von seinen Fans liebevoll auch 'The Gentle Giant' genannt wurde, hatte den Durchbruch geschafft. Mit seiner warmen, tiefen Stimme erschloss er sich eine Anhängerschaft, die weit über die Country-Szene hinausging. Nur wenige Künstler aus diesem musikalischen Genre verkauften in den 70er Jahren mehr Platten als er. Don Williams füllte die Lücke, die der frühe Tod von Jim Reeves gerissen hatte. Mit Songs wie "Amanda" (1973), "Some Broken Hearts Never Mend" (1977), "Tulsa Time" (1978) oder "I Believe In You" (1980) eroberte er weltweit die Spitzenpositionen in den Hitparaden. Besonders erfolgreich war er in England, wo er 1978 die Alben-Bestsellerlisten anführte und 1976 mit dem Song "I Recall A Gipsy Woman" einen Single-Hit hatte. In den USA war Tommy Cash mit demselben Song erfolgreich. Im Jahre 1978 gewann Don Williams den CMA Award Country Vocalist Of The Year. Im gleichen Jahr trat er zusammen mit Eric Clapton, der sich selbst als Don Williams-Fan bezeichnete, bei einem Konzert auf. Vor der Show spielte Williams dem Blues-Mann den kürzlich von Danny Flowers geschriebenen Titel "Tulsa Time" vor und Clapton war so begeistert, dass sie den Song wenig später zusammen im Studio einspielten. "Tulsa Time" erreichte die Spitzenposition der US Country Charts und wurde schliesslich zur Single des Jahres gekürt. Eric Clapton war 1980 mit seiner eigenen Interpretation des Titels ebenfalls erfolgreich. 1982 erschien das Album "Listen To The Radio" mit der gleichnamigen Single, die bei Erscheinen Platz 3 der Country Charts belegen konnte und mit den Jahren zu einer oft gespielten Radio-Hymne avancierte.

1977 veröffentlichte Don Williams ein erstes Album unter dem Titel "Visions", dem später im selben Jahr das Album "Country Boy" folgte. Auf "Visions" fand sich der bis dato grösste Hit des Countrysängers, "Some Broken Hearts Never Mend", mit welchem einige Jahre später hierzulande vor allem der singende Schauspieler Telly Savalas einen kleinen Hit verbuchen konnte. Das nachfolgende Album "Country Boy" profitierte vom Erfolg des Vorgängers und verkaufte sich ähnlich gut, obwohl es keinen vergleichbaren Hit abwerfen konnte. Trotzdem wurden aus dem Album nicht weniger als vier Singles ausgekoppelt, die allesamt in den Country Hitlisten Einzug hielten: Das Titelstück des Albums "I'm Just A Country Boy" war dabei das Erfolgreichste und auch dasjenige, welches am Radio weltweit am häufigsten gespielt wurde und noch immer gespielt wird. Dieser Single folgten in relativ kurzen Abständen "I've Got A Winner In You", "Rake And Ramblin' Man", sowie in der speziellen Veröffentlichungsreihe 'Goldies' auch eine weitere Single, die als A-Seite seinen Hit "Some Broken Hearts Never Mend" noch einmal präsentierte, gekoppelt mit der B-Seite "I'm Just A Country Boy" seiner aktuellen Platte. Das Album "Visions" wurde in England bereits am Tag seiner Veröffentlichung vergoldet. Sein "You’re My Best Friend" wurde ebenfalls in England zur besten Country-Produktion aller Zeiten erkoren. 1978 befanden sich nicht weniger als sechs Alben von Don Williams gleichzeitig in den britischen Charts.

Es folgten weitere Nr. 1 Singles wie "Tulsa Time", "It Must Be Love", "Love Me Over Again", "I Believe In You", "Lord I Hope This Day Is Good", "If Hollywood Don’t Need You", "Love On A Roll", "Stay Young" bis zu "That’s The Thing About Love" im Jahre 1984. Ebenfalls einer seiner grossen Erfolge war das zärtliche, einfühlsame Duett mit Emmylou Harris "If I Needed You", geschrieben von Townes Van Zandt. Damit nicht genug, waren seine Alben stets prall gefüllt mit weiteren brillanten Songs, die allerdings nicht alle als Singles ausgekoppelt wurden. Stellvertretend dürfte man dabei aber unbedingt das wunderschöne "Where The Arkansas River Leaves Oklahoma" erwähnen. Möglich wurden diese Erfolge vor allem auch dadurch, dass Don Williams eine feste Crew um sich aufgebaut hatte, man verstand sich blind untereinander. Neben Garth Fundis waren dies seine Songwriter Kollegen Wayland Holyfield, Bob McDill, Allen Reynolds (der auch für Waylon Jennings etliche Hits mitkomponierte), die Studiomusiker und seine eigene Band. Don Williams wusste genau, was er wollte und was er nicht wollte, er brauchte ein berufliches wie privates Umfeld, das intakt war, Menschen, auf die er sich in jeder Beziehung verlassen konnte. Williams sagte diesbezüglich: "Ich wollte für Jahre eine feste Studiocrew, Musiker, die ohne viel Anweisungen oder Erklärungen meine Ideen und Vorstellungen umsetzen können. Über viele Jahre arbeitete ich mit Joe Allen (Bass), Lloyd Green (Pedal Steel Guitar), Kenny Malone (Schlagzeug), Shane Keister und Charles Cochran (beide Keyboards), Billy Sanford (Gitarre), Dave Kirby (Gitarre), später mit Jimmy Colvard (Gitarre) sowie Buddy Spicher (Fiddle). Auch die Band, mit der ich unterwegs zu Konzerten war, blieb lange unverändert. Dazu gehörten Danny Flowers (er schrieb das populäre Stück "Tulsa Time") als Leadgitarrist, Pat McInerny (Schlagzeug), Biff Watson (Keyboards) und David Pomeroy am Bass.

Auf diese Weise war es Don Williams gelungen, seine ganze aktive Zeit über einen Sound zu entwickeln, an dem er sofort erkannt werden konnte, noch ehe er selbst zu singen begann. Ein Sound, der perfekt auf seine so angenehme Stimme abgestimmt war. Etwas, was Don Williams ganz besonders auszeichnete war, dass er es stets vermied, von negativen Dingen zu singen. Auch bei dieser künstlerischen Tätigkeit hatte er seine Prinzipien. Don Williams vermied Songs, in denen es um 'lying, cheating, drinking' ging, also um lügen, betrügen und trinken. Nicht nur, dass er solche Lieder selbst nicht schrieb, er hatte sie auch nicht aufgenommen. Dazu meinte Williams: "Ich fühle mich für das, was ich sage, verantwortlich. Ich würde Dinge dieser Art nie fördern. Selbst wenn ich sie anprangern würde, wäre das eine Art von Förderung. Das hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun. Ich finde es herrlich, wenn die Menschen mich mit dem identifizieren, über das ich singe. Es gibt genug andere Sänger, die diese Thematik in ihren Songs verarbeiten. Da bleiben für mich andere, angenehmere Themen übrig".

Williams Erfolgssträhne hielt auch in den 80er Jahren an. Aufgrund von verstärkten Rückenproblemen und einer folgenden Operation im Jahre 1987 zog er sich mehr und mehr auf seine in der Nähe von Nashville gelegene Ranch zurück. Seinen letzten Hiterfolg konnte er 1992 mit "Lord Have Mercy On A Country Boy" feiern. Alles in allem gesehen war Don Williams in den Popcharts in England und in Deutschland wesentlich erfolgreicher als in den USA. Obwohl erstaunliche 17 Nummer 1 Hits in den Billboard Country Charts auf sein Konto gehen, konnte sich nur der Titel "I Believe In You" aus dem Jahre 1980 auch in den US Pop Charts platzieren (Höchstposition: 24). 2004 erschien erstmals ein Konzertfilm von Don Williams. Die DVD mit dem Titel "Into Africa" zeigte ein 1997 in Simbabwe aufgezeichnetes Konzert, bei welchem Williams 16 seiner grössten Hits präsentierte. Dass der Countrysänger auch in Afrika eine breite Fangemeinschaft hatte, bestätigte die grosse Freude des Publikums über seinen ersten Besuch in ihrem Land. Am 19. Juni 2012 erschien weltweit "And So It Goes", Don Williams’ erstes Studioalbum nach acht Jahren. Nach einer Abschiedstournee 2006 stand Williams ab 2010 wieder auf der Bühne, bevor er im März 2016 nach einer Hüftoperation zunächst alle geplanten Termine verschob und dann absagte, um sich ins Privatleben zurückzuziehen. Er starb am 7. September 2017.





Apr 4, 2024


BACAMARTE - Depois Do Fim (Som-Arte Records SALP-001, 1983)

Es war das Jahr 1983, die Zeit, als der klassische progressive Rock von vielen Experten praktisch für tot erklärt wurde. Das Gegenteil war der Fall, bloss schafften es viele gute Bands aus diesem musikalisch stets spannenden Bereich nur selten, eine gewisse Popularität zu erlangen, geschweige denn viele Platten zu vekaufen, und insbesondere fehlte vielen Bands und Musikern eine gut geölte Promotion-Maschinerie, sodass eine grössere Hörerschaft hätte erreicht werden können. Es gab auch in den sehr synthetischen 80er Jahren viele hervorragende und erinnerungswürdige Ausnahmen, wie zum Beispiel die leider nur wenig bekannte brasilianische Band Bacamarte, die mit dem Album "Depois Do Fim" einen wahren Genre-Klassiker schuf. Die Band existierte während zehn Jahren, wurde im Jahre 1974 von drei ehemaligen Schulfreunden gegründet. Die Gruppe bestand allerdings nicht sehr lange, und erst nach drei Jahren wurde sie schliesslich reformiert und hatte nun auch Bestand. Der Multi-Instrumentalist Mario Neto, der unter anderem die elektrischen und akustischen Gitarren, das Piano, viele weitere Keyboards, den Bass, das Schlagzeug und sogar den Gesang beherrschte, scharte neue Musiker um sich herum und begann mit dem Schreiben der Songs zum Album "Depois Do Fim".

Bereits 1978 waren die Titel zum Album fixfertig eingespielt und abgemischt, jedoch dauerte es weitere fünf Jahre, bevor die LP überhaupt erstmalig erscheinen konnte. Zu dem Zeitpunkt der Einspielung der Songs war gerade eine andere Art von Musikkultur angesagt, sodass Neto seine Stücke mehr oder weniger gewollt oder bewusst zurückhielt, da er sich von einer Veröffentlichung eher wenig Erfolg versprach. Erst im Jahre 1982 überredete ihn ein Freund, das Tape mit den originalen Songs einem Radiomoderator zu übergeben, der einige Stücke der späteren Platte ausgiebig im brasilianischen Rockradio spielte. Damit wuchs das Interesse der Zuhörer, was schliesslich dann doch noch zu einer Veröffentlichung der Songs führte. 

Die Musik auf diesem Bacamarte Album ist reich und symphonisch, von wundervollen Keyboardsounds und einer ausgezeichneten Flöte geprägt, die den durch die Bank weg grossartigen Kompositionen stets etwas Erhabenes verleihen. Die Band bezieht ihren grössten Einfluss von der klassischen italienischen Schule des Progressive Rock. Ihre Titel tragen die Handschrift vieler italienischer Prog Bands wie etwa Locanda Del Fate, Premiata Forneria Marconi und Quella Vecchia Locanda. Auch die guten alten Banco standen Pate. 

Das Album wird durch "UFO" mit einigen schönen Akkorden, gespielt von einer akustischen Gitarre eröffnet. Die Musik gleicht einer Art musikalischem Ständchen, das von Flötenklängen wunderbar gesüsst wird. Danach nimmt die Band Fahrt auf und rockt sehr anmachend, bietet mit einem opulenten und fast majestätischen Synthesizer den Einstieg in die Symphonik Rock Welt von Bacamarte. Ein Auftakt nach Mass. "Smog Alado" zeigt deutliche Einflüsse von Jethro Tull, Camel und Emerson Lake & Palmer. Der Gesang von Jane Duboc erinnert hier stark an Annie Haslam und verströmt damit den angenehmen Geist von Renaissance, klingt sehr symphonisch und eingängig. Das Stück "Miragem" eröffnet mit einigen wundervollen orientalischen Elementen und entwickelt sich zu einem veritablen Rock, toll gesungen, bis eine herrliche Flöte kurzzeitig die Dominanz im Song übernimmt, bevor die wie eine Lokomotive ruhig dahintuckernde Rhythmusgitarre diesen wundersamen Track zu Ende rollt.

Weiter geht es mit dem musikalischen Kleinod "Passaro De Luz". Ein Lied, speziell für die Stimme von Jane Duboc gemacht, eine träumerische und angenehm entspannte Nummer, getragen von akustischen Gitarrenklängen, ein idealer Song, um die Platte, die bislang nur Fahrt aufgenommen hat, für einen kurzen Moment angenehm zu entschleunigen. "Cano", noch ein eher kurzes Lied auf dem Album, bedeutet mehr oder weniger ein gegenseitiger instrumentaler Austausch und ist ein an Dynamik wieder zunehmendes Potpurri an Gitarren-, Keyboard- und Flötensounds. Der Longtrack "Ultimo Entardecer" ist der längste Song auf dem Album und klingt episch, ausufernd und besticht durch ein ausgefeiltes Arrangement, das sich über mehrere verschiedene klangliche Ebenen ausbreitet. Ein herrliches Stück, das perfekt den Symphonischen Rock der 70er Jahre noch einmal nachzeichnet, ohne dabei jedoch irgendwie antiquiert zu wirken. Vielmehr werden hier einige Spannungsbögen aufgebaut, die sich ineinander verzahnen und am Ende in einem wundersamen Amalgam aus lieblicher Stimme, mondändem Klavier und expressionistischer Gitarre verschmelzen. Der mit Anbstand beste Titel auf diesem tollen Werk. Textlich werden Tod, Wahnsinn, Angst und Hoffnung zum Ausdruck gebracht - musikalisch sind diese vier Stimmungen perfekt umgesetzt, man spürt diese verschiedenen Empfindungen in jeder gespielten Note. 

Das kurze, an einen waschechten Bossa Nova erinnernde Intermezzo "Controversia" erinnert entfernt an eine lockere Jam Session, wirkt entspannend und bereitet den Hörer vor auf das Titelstück "Depois Do Fim" ("Nach dem Ende"), einer wiederum grossartigen, echten Symphonie, die diesen Begriff auch wirklich verdient. Hier wird wieder mit der ganz grossen musikalischen Kelle angerührt. Die Grundstimmung des Stücks ist düster, energetisch und behandelt die Thematik des Endes aller Zeitalter, der sogenannten Apokalypse. Ein beeindruckendes und sehr dynamisches Stück, das nachhaltig wirkt. "Mirante Das Estrelas", der letzte Song, wirkt insgesamt wie eine Reprise, weil sie den gesamten Inhalt des Albums , Stück für Stück noch einmal zusammenfasst, wie ein Puzzle, dass schlussendlich mit dem richtigen Aneinanderreihen der einzelnen Teilchen, gelöst werden kann. Alle Melodien und Akkorde, die zuvor bei den Stücken auf dem Album zu hören waren, werden noch einmal in einem rasanten Potpurri wiederbelebt. Die melancholische und fast traurige Stimmungsfarbe am Ende des Songs mündet schliesslich in einen letzten langen Ton der Ruhe und des Friedens. 

"Depois Do Fim" ist ein wahres Juwel, das den Progressive Rock Liebhaber begeistern kann. Es ist auf jeden Fall eine Platte, die ausserhalb Brasiliens, von wo die Band stammte, wesentlich mehr Liebhaber hatte als im eigenen Land, weshalb dieses Werk bis zum heutigen Tag immer wieder einmal aufgelegt wurde, zuletzt als CD gar in Japan (!).