Mar 17, 2024

 

SIMPLY SAUCER - Cyborgs Revisited (Mole Sound Recordings MOLE-1, 1989)

Die Gruppe Simply Saucer entstand in den 70er Jahren in der kanadischen Industriestadt Hamilton (Ontario) und schuf einen unverwechselbaren, originellen Sound, der eindeutig nicht zum damals aktuellen Musikklima passte. Die Band spielte kantigen Rock & Roll, eine Kombination aus frühen Punk-Vorläufern wie The Velvet Underground, The Stooges oder den Modern Lovers, kombiniert mit Krautrock im Stile von Can, Neu, frühe Kraftwerk, sowie britischem Prog/Psych à la Hawkwind, Pink Fairies oder Syd Barrett, sowohl mit als auch ohne Pink Floyd. Die Ursprünge von Simply Saucer reichen bis ins Jahr 1972 zurück, als sich der Frontmann der Band, der Gitarrist, Sänger und Komponist Edgar Breau, mit fünf anderen avantgardistisch ausgerichtetenen, Schallplatten sammelnden Musikern zusammentat und in einem Lagerhaus in Hamilton, Ontario, mit den Proben begann. Die Originalkompositionen waren lange, improvisierte Jams, die auf leeren Flaschen, Audiogeneratoren, Theremins, Keyboards, Saxophon, Flöte, E-Gitarren und Schlagzeug gespielt wurden.

Neben Edgar Breau wurde der Bassist Kevin Christoff das zweite und einzige dauerhafte Mitglied von Simply Saucer, deren Besetzung in der Folge häufig wechselte. Bald darauf betrat die noch junge und Jam-wütige, aber ebenso naive Band das Kellerstudio der Brüder Bob und Daniel Lanois, um ihre ersten sechs Songs aufzunehmen. Leider steckte die kanadische Musikindustrie damals in strikten Mainstream-Konventionen fest, die zwar für stabile Umsätze sorgten, aber gerade deswegen nur wenige künstlerische Visionen verfolgten. Die bittere Erkenntnis für Simply Saucer war, dass sich keine Plattenfirma fand, die sich auf das Abenteuer einlassen wollte, das Quartett unter Vertrag nehmen zu wollen oder gar ihre Aufnahmen zu veröffentlichen. Die Gruppe arbeitete dennoch unverdrossen an ihrem Sound weiter, spielten hervorragend kritisierte Konzerte, aber in kommerzieller Hinsicht blieben Simply Saucer ein reiner Geheimtipp unter Conoisseurs. Dies änderte sich erst, als sich im Jahre 1976 in London eine aufkeimende Punkszene zu entwickeln begann, deren unüberhörbares Echo bis nach New York und schliesslich auch Toronto nachhallte und in beiden Metropolen die Musikszene entscheidend beeinflusste.

In der Folge reaktivierte Edgar Breau seine Band ein weiteres Mal, nachdem er zwischendurch länger pausierte. Diese wiederbelebte neue Variante von Simply Saucer mit dem ehemaligen Teenage Head-Gitarristen Steve Park schaffte sich wiederum schnell brettharte Fans und begann mit Auftritten. Simply Saucer veröffentlichten dann endlich 1977 ihre erste offizielle Single "She's A Dog" auf Pig Records und erhielten dafür grossartige Kritiken. Der englische New Music Express zeichnete die Single als 'Pick Hit Single of the Week' aus. 1979 begann sich die Clubszene Torontos aufzulösen und die einzelnen Bandmitglieder begannen, neue Wege zu erkunden. Breau verstimmte wie John Fahey seine Gitarre, verkaufte seine gesamte elektrische Ausrüstung und begann eine neue Solokarriere. Es sollten fast dreissig Jahre vergehen, bis er wieder eine elektrische Gitarre besass, um erneut mit seiner Herzensangelegenheit Simply Saucer auf der Bühne zu stehen.

Es dauerte aber noch viele weitere Jahre, bis die breite Öffentlichkeit und Musikjournalisten endlich auch auf die bahnbrechende Lanois-Aufnahmesession aufmerksam wurden. Die sechs Studiosongs, kombiniert mit einem explosiven Live-Set (aufgeführt 1975 auf dem Dach von Hamilton's damals neuem Einkaufszentrum in der Innenstadt), wurden schliesslich 1989 in einer limitierten Vinyl-Ausgabe auf Bruce Mowat's Mole Sound Recordings mit dem Titel "Cyborgs Revisited" veröffentlicht. Eine erweiterte Version dieses Albums wurde 2003 von Sonic Unyon aus Hamilton für den kanadischen Markt auf CD veröffentlicht. Die ungewöhnliche Geschichte der Band und ihr grosser Vorteil, dass sie nicht nur bei ihren Fans, sondern auch bei anderen Musikern ein enorm grosses Ansehen genoss, hielten die Flamme am lodern und schufen eine treue, weltweite Kult-Anhängerschaft, die bis heute von den überragenden Qualitätzen der Band überzeugt sind. Anfragen von Fans, die Band zu reformieren, erreichten Edgar Breau immer wieder, bis er schliesslich im September 2006 zu einer erneuten Wiedervereinigung überredet wurde. Bald darauf spielte die Band mit einer gestärkten Besetzung ausgewählte Auftritte in ganz Nordamerika. Ausserdem nahmen Simply Saucer am Terrastock Festival in Louisville, Kentucky, und am Scion Garage Fest in Portland, Oregon, teil.

Erstaunlicherweise erlangte Simply Saucer für eine Band, die während ihrer gemeinsamen Zeit nie ein vollständiges Album veröffentlichte, ausserordentliche Bedeutung im Buch 'The Top 100 Canadian Albums' des Musikjournalisten Bob Mersereau und belegte in der Umfrage unter Spitzenreitern, Musikern und Kritikern der Musikindustrie einen durchaus respektablen Platz 36 (!). Die erstaunliche Geschichte der "Band, die sich weigerte zu sterben" war kurze Zeit später Gegenstand des Buches von Jesse Locke, dem Herausgeber von 'Weird Canada' über die Gruppe Simply Saucer, sowie eines Dokumentarfilms mit dem Titel 'Low Profile: The Simply Saucer Story' des Torontoer Filmemachers Greg Bennett. Das ultracoole Garage Rock Label In The Red aus Los Angeles veröffentlichte schliesslich eine Deluxe-Edition von Simply Saucer's Klassiker "Cyborgs Revisited". Eine weitere Studio-EP wurde in Detroit aufgenommen und auf Schizophrenic Records veröffentlicht, während ein weiteres Label mit dem Namen Logan Hardware Records aus Chicago eine Doppel-Vinyl-Zusammenstellung von Raritäten veröffentlichte. Das Indie-Label Mammoth Cave wiederum veröffentlichte eine weitere Platte mit dem Publikumsliebling "Bullet Proof Nothing", dem Song, der Inspiration und Titel für das Bestseller-Buch 'Treat Me Like Dirt' (Bongo Beat Books) der Torontoer Autorin Liz Worth lieferte, eine Geschichte der Punk- und Undergroundszene von Ontario.



 

Mar 11, 2024


TIM BUCKLEY - Sefronia (DiscReet Records MS 2157, 1973)

Veröffentlicht im November 1973, war "Sefronia" das achte Album in der Karriere von Tim Buckley. Ursprünglich auf dem DiscReet-Label veröffentlicht, einem von Buckleys Manager Herb Cohen und einem weiteren seiner leitenden Angestellten, Frank Zappa, aufgestellten Label, war es ein Album, das bis heute nur wenige Buckley-Fans hat, die bereit sind, dessen Vorzüge herauszuheben. Kaum einer der damaligen Musikkritiker liess an dem Werk ein gutes Haar, die Platte wurde praktisch unisono verrissen. Mit 45 Jahren Distanz und dem Blick auf andere posthume Veröffentlichungen, dürfte es aber heute durchaus möglich sein, "Sefronia" in einem etwas freundlicheren Licht zu sehen.

Auf dem Plattencover trug Buckley bei "Sefronia"einen merkwürdigen, etwas belustigten Gesichtsausdruck, der vielleicht etwas Licht in seine Gemütsverfassung bringen sollte und vielleicht auch einen Schlüssel zum Inhalt des Albums lieferte. Rock-Experten und langjährige Buckley-Fans hatten dieses und auch das nachfolgende Album "Look At The Fool" unter dem Strich als die sterbende Glut einer einstmals grossartigen Künstlerkarriere betrachtet, die über wenig Inspiration, interessante Momente oder gar bereichernde und nachhaltige Songs verfügen würde. Die als absolute Topklasse eingestuften Songtexte und die wundervollen wortlosen Klanglandschaften seiner zuvor veröffentlichten und geliebten Werke wie "Lorca" oder "Starsailor" waren längst vorbei. An ihre Stelle traten nun kürzere, prägnantere Songs und Exkursionen in ein musikalisches Terrain, das man im besten Fall mit moderatem Funky Pop hätte bezeichnen können. 

Sein zuvor im Jahre 1972 veröffentlichtes Album "Greetings From LA" liess Tim Buckley tief in eine zuweilen brutal offene Fleischlichkeit eintauchen, wobei die Romantik von einst den Feierlichkeiten knarrender Bettfedern und 'Cruising Single Bars' Platz machte. Das Werk war jedoch sehr gut, und seine musikalische und lyrische Neuerfindung war ein künstlerischer Erfolg, auch wenn die Verkäufe, offen gesagt, sehr dürftig waren, und sein damaliges Plattenlabel Warner Brothers das Album auch ablehnte und ein weiteres Interesse an ihm nicht mehr bezeugen mochte. Manager Cohen meinte später zum Richtungswechsel des Musikers: "Nun, wir haben es auf Buckley's Weise versucht, jetzt versuchen wir es auf diese Weise", vermutlich vor allem, um kommerziellen Profit aus seiner Musik zu schlagen, sicherlich aber nicht aus Interesse am Künstler selbst. Oder vielleicht war Tim Buckley auch schlicht auf der Suche nach anderen Projekten. Er hatte zu der Zeit beispielsweise mit seinem Lyrikerfreund Larry Beckett eine musikalische Umsetzung des Joseph Conrad Romans "Der Ausgestossene der Inseln" in Erwägung gezogen und erwog sogar Schauspielrollen. Schliesslich war er ja erst mitte Zwanzig, und er hatte bereits etliche qualitativ hervorragende Musikalben veröffentlicht.

Eine nähere Betrachtung der kompositorischen Credits auf "Sefronia" zeigte, dass fünf der elf Tracks des Albums keine Originalkompositionen von Buckley waren. Für überzeugte Buckley-Fans lag hier der Haken. Das Drängen seines Managers Herb Cohen, die Verpflichtung des Produzenten Denny Randell, und die Forderung, ein Album mit brauchbarem Material innert nützlicher Zeit und moderatem Budget einzuspielen, bei dem Cohen die Geldbörse bestimmte, bremste Tim Buckleys kreative Energien nachhaltig. Man weiss auch, dass der Künstler in jenen Tagen immer stärker dem Alkohol und den Drogen zugewandt war, was seine kreative Arbeit zusätzlich belastete. Um Cohen in Schutz zu nehmen, muss man allerdings auch festhalten, dass er Buckley während der als relativ schwierig zu bezeichnenden "Lorca"- und "Starsailor"-Phasen stets unterstützt hatte, indem er mit dem Künstler Musik produzierte, von der manche behaupteten, sie sei leichter zu bewundern als wirklich zu lieben. Diese zurückhaltende Eindringlichkeit, wie ich sie beim Anhören der entsprechenden Buckley-Alben stets verspürte, schien auf "Sefronia" ohne irgendeinen Nachhall verpufft zu sein. Die Produktion verlieh "Sefronia" zumindest einen zusammenhängenden Sound, nicht gerade den fetten Funk des Vorgängers "Greetings From L.A.", aber es bewies durchaus solide Produktionswerte in einer Zeit, in der ein Rock'n'Roll-Publikum mehr Wert auf soundtrechnische Gimmicks als auf traditionelle akustische Eindringlichkeit legte.

"Sefronia" startete mit einem Rückblick auf Buckley's frühe Troubadour-Tage mit einer Coverversion des Titels "Dolphins", das vom ehemaligen Greenwich Village Folkie und dem Unruhestifter Fred Neil stammte. Das war ein Lied, das Buckley schon seit vielen Jahren in seinem Live-Repertoire hatte - es war später auch in dem epochalen, posthum veröffentlichten Live-Album "Dream Letter" enthalten, aufgenommen in der Londoner Queen Elizabeth Hall im Oktober 1968, aber Neil's Einfluss auf Buckley ging weit über diesen einen Song hinaus. Fred Neil fügte seiner 12-saitigen Akustikgitarre seinen Hector-Bariton hinzu, und Buckley hatte das gleiche getan, während er seine Präsenz in der New Yorker Coffee Shop-Szene aufgebaut hatte, obwohl er für die Version auf "Sefronia" seine treue Fender Electric XII bevorzugte. Fred Neil lebte Anfang der 70er Jahre zurückgezogen in Cocoanut Grove in Florida und verbrachte seine Zeit damit, die Delphine zu studieren, über die er einst gesungen hatte.

Betrachtet man Rest des Albums, war "Honey Man" eher ein Titel, der auf den Vorgänger "Greetings From L.A." gepasst hätte. Buckley hob hier sein Stimmspiel noch einmal richtig hoch, wurde dabei unterstützt von einer sehr muskulösen Funk-Begleitung und zeigte ein gutes Gespür für tanzbaren und erdigen Sound - eindeutig eine Nummer, die dem Zeitgeist folgte, die von vielen brettharten Buckley-Fans allerdings als plumpe Anbiederung an den seelenlosen Dancefloor verstanden wurde. Es war einer von vier Tracks, geschrieben von Buckley und seinem sporadischen lyrischen Mitarbeiter Larry Beckett, und hatte etwas mehr von der Poesie in seinem Libretto. "Beating Of You" war ebenfalls in einem Funk-Setting zu hören, und war mit einem weiteren exzellenten Buckley-Gesang gesegnet, der über seine vier Minuten plus Dauer einen ziemlich guten Dynamikaufbau präsentierte. Das Demo von "Because Of You", das in der "The Dream Belongs To Me"-Kompilation veröffentlicht wurde, enthüllte eine noch intensivere Funk-Aufnahme. Spätestes hier hätte selbst der brettharteste Buckley-Fan merken müssen, wie sehr sich der Künstler um eine stilistische Veränderung bemühte, doch für die war dieser Sound nicht mehr Tim Buckley.

Das ambitionierteste Stück auf dem Album war schliesslich der Titeltrack "Sefronia", der in zwei Hälften geteilt war: "Sefronia: After Asklepiades, After Kafka2 und "Sefronia: The King's Chain", und präsentierte über weite Strecken eine teilweise Reprise von Buckleys verträumteren früheren Tagen, die ein wunderschönes Marimba-Spiel beinhalteten, seine eigenen 12-saitigen Akkorde, verträumte Congas und ein bisschen an den Gitarren-Stil erinnerte, den beispielsweise Willie Mitchell auf zeitgenössischen Al Green-Aufnahmen gespielt hatte. Es war eine angenehme Erinnerung an die musikalischeren und lyrischeren Ambitionen seiner "Blue Afternoon" Aera, obwohl sie etwas unvollendet erschien und vielleicht mit ein wenig mehr Arbeit noch etwas substanzieller hätte aufpoliert werden können. So wie es ist, war es aber ein schönes Stück und für mich der Höhepunkt dieses Werks.

"Quicksand" und "Stone In Love", die beiden Tracks, die Buckleys als alleinigen Komponisten auswiesen, waren ebenfalls sehr schön aufgebaut, der erste ein straffes, kantiges Stück Funky Rock mit einigen exzellenten Akkordwechseln und einem energiegeladenen Gesang, der zweite ein wiederum hervorragendes Beispiel für Buckley's noch immer exzellenten Gesang. "Martha" schliesslich war ein Song von Tom Waits aus dessen erstem Album "Closing Time", das ebenfalls 1973 erschienen war, und auch hier zeigte Buckley viel Emotionalität in seiner Variante des Titels. Das Arrangement von Streichern und Holzbläsern war üppig, und auch wenn es vielleicht irgendwie als Kontrapunkt wirkte gegenüber dem ansonsten eher erdigen Charakter des Albums, passte es ausgezeichnet zum Rest der Stücke. "Sefronia" erhielt zwar nicht dieselben schlechten Kritikerstimmen wie sein Vorgänger "Greetings From L.A.", dennoch wurde Buckley von einem Kritiker stimmlich mit Neil Diamond verglichen, wobei man durchaus darüber streiten kann, ob das nun tatsächlich ein negativer oder vielleicht sogar doch positiver Vergleich sein soll. "Sefronia" verkaufte sich allerdings deutlich schlechter als sein Vorgänger und seine Beziehung zu seinem Manager, Herb Cohen, wurde zunehmend angespannt. Buckley trank viel und hatte sich mehr mit Drogenmissbrauch beschäftigt, als dass er nach einem Ausweg aus seiner kreativen Sackgasse gesucht hätte.

Buckley wollte für die britische Veröffentlichung von "Sefronia" mit einem Eröffnungs-Auftritt auf dem ersten Knebworth Festival werben, wo er zusammen mit der Sensational Alex Harvey Band, dem Mahavishnu Orchestra, Van Morrison, den Doobie Brothers und der Allman Brothers Band am 20. Juli 1974 auftrat. Das Publikum pfiff den einst so gefeierten Künstler jedoch gnadenlos aus, ein Umstand, der den weitgehend gebrochenen Künstler noch zusätzlich frustrierte. Seine Band bestand zu jenem Zeitpunkt aus Art Johnson (Gitarre), Jim Fielder (Bass), Mark Tiernan (Keyboards) und Buddy Helm (Schlagzeug), und das Set beinhaltete Songs wie "Nighthawkin", "Dolphins", "Devil Eyes", "Buzzin'Fly", "Sweet Surrender" und "Honeyman", und am Ende des Sets eine vierminütige Improvisation, es kursierten in der Folge auch Bootlegs dieser Show. Aufgrund der Tatsache, dass Buckley im Wesentlichen spielte, während die Zuhörer erst auf dem Festivalgelände ankamen und ihren Platz für den Tag einrichteten, zeigte er eine sehr gute Leistung, aber nur Wenige, die ihm zuhörten, waren beeindruckt von seiner Leistung. 1974 nahm Tim Buckley sein letztes Album "Look At The Fool" auf. Schlechte Verkaufszahlen führten jedoch letztlich zur Trennung von seiner Plattenfirma.






Mar 8, 2024


BEN - Ben (Vertigo Records 6360 052, 1971)

Es gibt Platten, die will man einfach mal hören, weil sie legendär und sagenumwoben sind. Meistens sind solche sagenumwobenen Platten irgendwelche Machwerke, hinter denen sich womöglich hinter einem Pseudonym ein bekannter Musiker verbirgt. Oder es handelt sich um Platten, die einfach keiner im Bekanntenkreis in der Sammlung hat, weil sie unbezahlbar sind und im Original zu Mondpreisen gehandelt werden. In diese Kategorie fällt die einzige LP der ansonsten völlig unbekannten Jazz Gruppe Ben, die 1971 ihre einzige Platte auf dem legendären Vertigo Swirl Label veröffentlicht hat. Ben haben auch überhaupt nicht in den musikalischen Katalog des Swirl Labels gepasst, obschon auf dem progressiven Label auch jazzige Acts wie Ian Carr und seine Band Nucleus, die Gruppe Catapilla oder Graham Bond eine Plattform erhielten. Die drei Genannten haben aber auch Sachen eingespielt, die manchmal auch schon nahe am Rock angesiedelt waren. Ben gar nicht, die haben wirklich Jazz gespielt. Vielleicht ist es dem Umstand zu verdanken, dass ich einfach ein brettharter Sammler von Vertigo Swirl Platten bin, dass auch ich diese LP unbedingt haben wollte.


Zu dem legendären Plattenlabel hatte ich bereits einen Blogeintrag gepostet, hier nochmal einige Infos zu diesem insbesondere in Sammlerkreisen hochgschätzten Label: Die Plattenfirma wurde 1969 von der Philips Phonographic Industry gegründet und sollte sich auf Progressive Rock spezialisieren. Bis 1973 erschienen diverse Singles und LPs mit jungen und modernen Künstlern, darunter auch die später berühmt gewordenen Black Sabbath, Gentle Giant, Status Quo, Rod Stewart und Uriah Heep. In späteren Jahren wurde das Programm kommerzieller, unter anderem mit Thin Lizzy, Dire Straits und Metallica. In den 90er Jahren verlor das Label zunehmend seine Selbständigkeit und ging schliesslich in Mercury Records auf. Die Polygram-Gruppe wiederum wurde von Philips an die Universal Music Group verkauft, die ihrerseits in Vivendi Universal aufging. Die Vertigo-Veröffentlichungen der Ära von 1969 bis 1973, die sogenannte 'Swirl-Phase' gelten heute als wegweisend für die Entwicklung der progressiven Rockmusik. Die meisten der klassischen Aufnahmen sind inzwischen wiederholt auf CD erschienen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends begann Vivendi Universal mit einer Reaktivierung des alten Labels, wobei die musikalische Ausrichtung sich von den Anfängen erheblich unterschied.

Die historischen Veröffentlichungen werden gelegentlich als 'Vertigo-Swirl' oder 'Spiral Vertigo' bezeichnet. Bei diesen LPs war der Papiereinleger in der Mitte (das Label im eigentlichen Sinne) gemeint. Auf der A-Seite dieser Platten war auf dem Label das Vertigo-Logo gross abgebildet, auf der B-Seite das Logo in klein mit den Angaben zu Interpret, Titel und Songs. 1973 erfolgte die Umstellung auf das von Roger Dean entworfene sogenannte 'Ufo'-Label ('Spaceship Vertigo'). Das Ende der Swirl-Phase leitete die zuvor beschriebene Kommerzialisierung des Labels ein. Zu Beginn des Labels stand der Progressive Rock, der zu dieser Zeit eine Hochphase durchlebte, im Mittelpunkt der Veröffentlichungen. Typisch waren durchkonstruierte, lange Songs, die sich nicht selten über eine komplette Schallplattenseite erstreckten. Dementsprechend konzentrierte sich das Label auf zumeist progressiv ausgerichtete, auch dem damals üblicherweise als Underground Rock bezeichnete Alben, von denen bis 1973 ('Swirl-Phase') insgesamt 89 erschienen. Single-Veröffentlichungen waren in der Minderheit. Im gleichen Zeitraum gab es lediglich 44 Vertigo-Singles in Grossbritannien, die darüber hinaus fast durchwegs die Charts verfehlten, bis auf wenige Ausnahmen wie zum Beispiel Black Sabbath's "Paranoid", Uriah Heep's "Lady In Black" oder Status Quo's "Paper Plane". Neben den Progressive Rock-Veröffentlichungen bot Vertigo auch Jazz-inspirierten Bands wie Colosseum und Nucleus eine Heimat. Graham Bond verband auf Vertigo Jazz und Progressive Rock. Mit Tudor Lodge und Mike Absalom gab es ferner auch Musik aus der Folk-Szene. Durch die Veröffentlichung der Aufnahmen von Black Sabbath, Warhorse und Uriah Heep war Vertigo auch massgeblich an der Entwicklung des Früh-70er Hard Rock und Heavy Metal beteiligt.

Überwiegend waren britische Künstler bei Vertigo unter Vertrag, es wurden aber beispielsweise auch Aufnahmen von Kraftwerk aus Deutschland und Flame Dream aus der Schweiz veröffentlicht. Neben der Musik sorgten die häufig aufwändig gestalteten Schallplattencover für Aufsehen: Ein schönes Beispiel für ein solch ungewöhnlich gestaltetes Cover war etwa die LP "Space Hymns" der Band Ramases, einer Gruppe, von welcher später einige Musiker bei der erfolgreichen Band 10cc landeten. Das Cover zeigte eine Rakete, die ins All startete. Das Cover liess sich sechsfach aufklappen ('6-fach FOC'). Dabei entpuppte sich die Rakete als Kirchturmspitze einer riesigen Holzkirche, die in einem Feuerball ins All abhob. Wie bei diversen anderen Vertigo-Veröffentlichungen der Zeit wurde dieses Cover von Roger Dean entworfen, jenem Künstler, der auch die frühen Alben der Gruppe Yes designed hatte. Häufig übernahm auch der Fotograf Marcus Keef die graphische Gestaltung. Seine Cover zeigten in der Regel normale Bilder (oft Landschaften), denen etwas Obskures oder Nichtnatürliches hinzugefügt war. Beispielhaft wären hier die ersten beiden Black Sabbath-Alben zu nennen. Während einige der Bands aus der 'Swirl'-Phase schnell in Vergessenheit gerieten, sind die Plattencover und ihre Gestalter heute noch bekannt.

Viele der Swirl-LPs zählten aufgrund der geringen Produktions- und Verkaufszahlen bald zu grossen Raritäten. Als seltenste Exemplare gelten heute die Platten von Dr. Z ("Three Parts To My Soul" (Okkult) und Ben (Jazz). Auch die LPs von Tudor Lodge (Folk), Dr. Strangely Strange (Folkrock, mit dem damals noch weitgehend unbekannten Gary Moore als Gastmusiker), Mike Absalom (Singer-Songwriter), beide Alben von Cressida (Progressive Rock) und beide LPs von Catapilla (progressiver Jazzrock) zählen zu den besonders seltenen und gesuchten Platten. Der Wert des originalen Vinylalbums von Ben steht inzwischen selbst für eine in en frühen 90er Jahren nochmals aufgelegte Wiederveröffentlichung jenseits der 1000 Euro-Grenze für ein exzellent erhaltenes Exemplar, bis zu sagenhafte 3000 Euro werden indes für eine Original-LP im Neuzustand fällig. Das macht natürlich neugierig: Welcher Sammler zahlt für eine Jazz LP so einen hohen Preis ? Die LP ist inzwischen bereits mehrmals auch auf CD erschienen, und die empfehlenswerteste Version ist beim italienischen Label Akarma erschienen, in Form eines Mini Books im Hardcover. Diese Version kann man durchaus empfehlen, zumal man hier auch für bezahlbare 30 Euro eine klanglich hervorragend restaurierte CD bekommt.

Aber wie klingt diese Musik nun ?

Also erstmal muss man zu Ben sagen, dass es sich bei der Band um ein Projekt von ehemaligen Musikern der Keith Jarrett Band handelt. Leichtfüssig bis verkopft wie Jarrett also ? Nein, angenehmerweise eher fluffiger, ziemlich leichtfüssiger (nicht seichter) Jazz, dessen hektische Teile durchaus als progressiv bezeichnet werden können, nicht nervend, sondern immer sehr geschmeidig, edel, äusserst angenehm. Das ist irgendwo für mein musikalisches Empfinden überhaupt nicht verkopft, obwohl die Musik sehr anspruchsvoll wirkt. Ein bisschen erinnert der Sound von Ben an das Mammuttprojekt Centipede, an den Flöten-Jazz eines Herbie Mann, allerdings ohne jeden Anflug von funkigen Klängen. Besonders der Schlagzeuger David Sheen, der gerne auch perkussive Instrumente dazunimmt, um den Groove zu optimieren, oder da und dort gezielt Congas einsetzt, macht den Sound irgendwie lässig-locker. Ein Leader in der Band Ben ist nicht auszumachen, die Band spielt wie eine homogene Truppe, in welcher jeder Instrumentalist seinen Freiraum findet, um zu solieren. Peter Davey macht dies mit Alto-, Sopran- und Tenor Sax, Flöte und Klarinette, während Alex MacLeery Keyboards beisteuert, und zwar Electric Piano, Moog Synthesizer und Cembalo. Ausser den beiden Multi-Instrumentalisten spielen bei Ben noch der Gitarrist Gerry Reid an akustischer und elektrischer Gitarre, sowie Len Surtees am Bass.

Ueber die beteiligten Musiker ist nichts näher bekannt, es scheint, als hätten sich die Musiker nur gerade für dieses eine Album zusammengetan, denn auch über Konzerte kann man keine Infos finden im Netz. Allerdings kann man etwas über die beteiligten Musiker im Netz finden, was nur bedingt mit Musikschaffen zu tun hat. So hat beispielsweise der Saxophonist Peter Davey eine Technik herausgefunden, wie er mittles eines Saxophons Wasser zum kochen bringen kann (mit Tönen!). Zu schräg eigentlich, um sowas glauben zu können, scheint aber in der Tat wahr zu sein.

Ueber den Keyboarder Alex MacLeery kann man nichts in Erfahrung bringen, ausser dass er in der Band von Keith Jarrett beschäftigt war. Bassist Len Surtees war mal bei den Nashville Teens mit dabei (!) und trat später Peter Green's Band Kolors bei. Der Schlagzeuger David Sheen schliesslich spielte in der Band von Graham Bond und war später mal in einer der zahlreichen Begleitbands von Kevin Coyne tätig.

Mein persönliches Fazit: Da die ausgefallene Platte eine sagenumwobene Aura umgibt, höre ich sie mir natürlich auch genau mit dieser Haltung an, und deshalb finde ich sie wirklich toll. Es ist eine jener Platten, über die erzählt wird, sie hätte sich zum Zeitpunkt ihres Erscheinens kaum verkauft. Man reicht da Stückzahlen herum, die von 50 bis 100 verkauften Exemplaren erzählen, was aber wohl nicht stimmen kann, denn offiziell wurden von Vertigo Swirl-Alben mit ganz wenigen Ausnahmen immer jeweils 1000 Exemplare gepresst. Es kann aber durchaus sein, dass die Platte damals schneller aus dem Verkehr genommen wurde, weil sie sich besonders schlecht verkaufte und gewisse Rückläufer-Exemplare in der Folge vernichtet wurden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass inzwischen für das Original solch horrende Preise auf dem Sammlermarkt bezahlt werden. Es gibt nämlich inzwischen unzählige brettharte Vertigo Swirl Sammler weltweit, die das seltene und begehrte Original liebend gerne in ihrer Sammlung haben wollen.

Tracklist A-Seite:

1. The Influence (10:07)
2. Gibbon (9:12)

Tracklist B-Seite:

1. Christmas Execution (7:20)
2. Gismo (11:49)




Mar 6, 2024

 
BUCKY HALKER AND THE COMPLETE UNKNOWNS - Passion Politics Love 
(Brambus Records 199683-2, 2006)


Bucky Halker ist einer der vielen namenlosen Americana-Musiker aus Amerika, die in regelmässiger Folge Album um Album veröffentlichen - eines besser als das andere, die es nie bis zu unseren Gehörgängen schaffen. In der Regel ist das so - im Falle von Bucky Halker gab es 2006 - über ein Jahrzehnt, nachdem diese Aufnahmen entstanden waren -  immerhin die Chance, eine Platte in der kleinen Schweiz beim feinen Brambus Plattenlabel exklusiv für den europäischen Markt zu veröffentlichen. Wäre diese glückliche Fügung nicht eingetreten, hätte ich bestimmt nie ertwas von diesem wunderbaren Musiker gehört, der sich selbst auf seiner Webseite als Folksänger, Schreiber, Rocker, Lehrer, Gesangsarbeiter ("Labor Songster") und Alt-Country Twanger bezeichnet. 

Nachdem Halker bereits einige Platten auf kleinen Independent Labels veröffentlicht hatte, zum Teil mit nur lokalem Vertrieb, zog es ihn 1993 erst an die kanadische Grenze, wo er innerhalb eines Jahres neue Songs schrieb, die er bei einem erneuten Umzug 1994 nach Chicago mitnahm, und sie dann endlich, im Sommer 1995, in einem kleinen Tonstudio auch einspielen zu können. Es fehlten ihm auch bis dahin schlicht die finanziellen Mittel für eine Studioaufnahme und er konnte den Aufnahmeleiter des Studios, Steve Yates, auch gar nicht bezahlen. Dieser ging das Risiko eines finanziellen Desasters trotzdem ein und stellte nicht nur sein Studio zur Verfügung, sondern halt auch noch bei der Rekrutierung der mitwirkenden Musiker. Am Ende nahm Bucky Halker eine bunte Mixtur an Songs auf, die ein weites musikalisches Feld absteckten, so etwa Countryrock, Blues, Rockabilly, Honky Tonk und verschiedenste Folkrock-Varianten. Mit von der Partie waren unter dem Pseudonym "The Complete Unkowns" folgende Musiker: Gordon Patriarca am Bass, der später Stephen Ellis bei SURVIVOR ablöste, der Ex-FREAKWATER Gitarrist Brian Dunn, Phil Levin von den YELLOWHAMMERS am Schlagzeug  und die SONS OF THE NEVER WRONG-Sängerin Sue Demel für den Background Gesang, sowie in Gastrollen T.C. Furlong an der Pedal Steel und Don Stiernberg an der Mandoline. Der sehr bekannte Jazz Bassist Jim Cox und der gefeierte Tuba-Spieler Dan Anderson schauten ebenfalls für einige Aufnahmen im Studio rein. "Great players and stunning performances" resümierte Bucky Halker damals.

Indes gestaltete sich das Werben für diese Aufnahmen äusserst schwierig. Halker hatte immens Mühe, das ausgezeichnete Songmaterial irgendeiner Platttenfirma verkaufen zu können. Scheinbar sah keines der vielen Labels eine reelle Möglichkeit, mit diesen Songs Geld zu verdienen, weshalb sich Absage an Absage reihte. Halker entschied sich, vorderhand selbst CDs davon zu pressen, wenn er mit den neuen Songs auf Tour ging, nur, um sie vor Ort auch verkaufen zu können. Er verschuldete sich massiv - glaubte aber dennoch an die Songs und tatsächlich wurde seine Hartnäckigkeit letztlich belohnt, wenn auch nicht wirklich nachhaltig, und schon gar nicht finanziell zählbar. Denn das Label ZenMan Records, das die CD übernahm, ging kurz darauf pleite. Halker stand also wieder mit leeren Händen da. Einige Monate später fand sich dann in der Firma Whitehouse Records doch noch eine Plattenfirma, welche das Album offiziell und US-weit veröffentlichtne mochte. Damit aber nicht genug: Dank der Kontakte des Labels zu europäischen Firmen fand sich im Schweizer Unternehmen Brambus Records über eine Dekade später sogar ein Partner, der die Veröffentlichung in Europa übernahm. So war "Passion Politics Love" die erste Platte von Bucky Halker, die nicht nur regional, überregional oder gar amerikaweit erschien, nein, sie wurde sogar weltweit veröffentlicht. Für Bucky Halker ein unglaubliches Ereignis, über das er sich extrem freute und seinen Fans auch treu ergeben war, indem er nach Möglichkeit auf dem ganzen Globus zu tingeln begann, um die in den Plattenläden liegende neue CD auch konzertmässig promoten zu können und viele neue Fans dazuzugewinnen.

Schliesslich wurde die CD in Europa wesentlich stärker beachtet als in Amerika, wo der Markt einfach übersättigt ist mit Musikern wie Bucky Halker: Die Konkurrenz ist schlicht zu gross, als dass er in seinem Heimatland einen Erfolg in einem grösseren Rahmen hätte anstreben können. Hierzulande aber hat Bucky Halker noch heute treue Fans, und sie alle hatten ihre erste Berührung mit diesem fabelhaften Sänger und Musiker mit dem Album von 1996, das es erst 10 Jahre später auch hierzulande zu kaufen gab.

Vor allem textlich sind die 14 Titel der Platte echte Highlights, widerspiegeln sie doch ungefiltert und ungeschönt den realen Alltag, der von allerlei Entbehrungen und Frustrationen geprägt sein kann. Herausragend diesbezüglich etwa "Poverty's Lament" oder "Color Outside The Lines". Auch politische Texte bietet Halker, so in "Don't Let The Bastards", "Democratic Blues" und "Mr. Who's That Guy". Und natürlich ist auch in Bucky Halker's Songtexten die Liebe ein tragender Faktor, nachzuhören im wundervollen Longtrack "Too Far Gone" mit nicht enden wollendem traumhaft schönen Gitarrensolo, oder bei "Heaven In Milwaukee" und "Big Rock Candy Mountain". Musikalisch extrem vielfältig, aber immer eine homogene Einheit bildend, erinnert das Werk in seinem Ganzen ein bisschen an die grossen Singer/Songwriter mit klarem Strassenbezug, wie Mark Germino, John Cougar Mellencamp und Bruce Springsteen.

"Passion, Politics, Love" - Leidenschaft, Politik und Liebe. Die drei zentralen Themen - nicht nur auf dieser einzigartig schönen Americana-Platte, die mir seit vielen Jahren ein ständiger und treuer Begleiter ist.


Mar 5, 2024


DZYAN - Electric Silence (Bacillus Records BLPS 19202 Q, 1974)

Die Gruppe Dzyan, Ende 1971 von dem Multi-Instrumentalisten und Komponisten Reinhard Karwatky in Gross-Gerau, nahe Frankfurt gegründet, spielte einen von der Ethnomusik beeinflussten progressiven Jazz Rock. Der Gründungsformation gehörten Jochen Leuschner (Gesang und Perkussion), Reinhard Karwatky (Bass), Gerd 'Bock' Ehrmann (Saxophon), Harry Krämer (Gitarres) und Ludwig Braum (Schlagzeug) an. Die Musiker kannten sich bereits aus verschiedenen Bandprojekten, Jam Sessions, Jazz-Workshops und Studioaufnahmen. Reinhard Karwatky studierte in dieser Zeit klassische Musik an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim, Dr. Hoch’s Konservatorium - Musikakademie Frankfurt und an der Akademie für Tonkunst Darmstadt (Kontrabass, Trompete, Klavier, Kontrapunkt, Komposition). Ausserdem spielte er Gitarre, Violoncello, Sarangi, Sitar, Rebec und Synthesizer. Neben seiner Vorliebe für klassische Musik interessierte er sich auch für zeitgenössische und elektronische Musik. Während dieser Zeit fokussierte er zunehmend seine Privatstudien in Ethnomusikologie, Weltreligion und Methaphysik. Intensive Studien brachten ihn zur östlichen Philosophie, alten Weisheitsreligionen und zur Esoterik - der Geheimlehre - 'Das Buch des Dzyan': Madame Blavatsky’s berühmtes Werk beruhend auf Zitaten aus dem Buch 'Dzyan', die ihr angeblich in Briefen und Träumen von tibetanischen Mystikern offenbart wurden, das heilige Buch Zentralasiens, in dem die göttlichen Mysterien des Universums und die Reise der Pilger-Seele durch die 'Zeitalter der Menschheit' beschrieben sind. Dzyan ist die Lautumschrift des Sanskritwortes 'dhyana', das geistige Stabilität, Weisheit und göttliches Wissen bedeutet. 

Jochen Leuschner war ebenso in die Geheimlehre von Blavatsky’s Grand-Livre der esoterischen und okkulten Welt eingetaucht und tief von deren grundlegendem Werk 'Das Buch des Dzyan' beeindruckt. Im November 1971 konnte Karwatky für Dzyan mit dem Plattenlabel Aronda einen exklusiven Schallplattenvertrag abschliessen. Die Aufnahmen und Abmischung für das gleichnamige Debütalbum fanden im Februar und März 1972 statt. Schon im April wurde das Album mit einem eindrucksvollen, zur Musik stimmigen Cover veröffentlicht. Dieses Debütalbum ist auch aus heutiger Sicht ziemlich einzigartig. Auf Jazz Grooves basierende Ausflüge in Space Rock Improvisationen, veredelt mit fremd klingenden elektronisch-akustischen Klängen, geschickt vermischten Elementen verschiedener Stile von zappaesken Jazzeinflüssen aus der Zeit von dessen "Hot Rats" bis zu den frühen King Crimson-Alben prägten das Album ebenso wie Fusion-Rock à la Nucleus, Soft Machine, Magma und sogar Van der Graaf Generator ähnlichem Progressive Rock. Diese sehr vielseitige Underground-Musik reicherten Dzyan noch zusätzlich an mit ethnischen und kosmischen Elementen, eingebettet in fremdartig klingende Songs. Die Kompositionen zeigten eindrucksvoll die technischen Fähigkeiten der Musiker, ausserdem einen grossartigen, einen weiten Tonumfang umfassenden Gesang, der auch mehrstimmig arrangiert war.

"The Bud Awakes" klang dabei betont gesangslastig und war ein schönes Beispiel für das exzellente Harmonieverständnis der Band. Der Ethno Psychedelik-Popsong "The Wisdom" erklang in einem fast gotisch anmutenden und feierlichen Ambiente, mit gregorianischen Melodiestrukturen und modalen orthodoxen Texturen, unterlegt von einer erfindungsreichen, unregelmässigen Jazz Rock-Phrasierung und endete mit einem hypnotischen, mantragleichen Thema. Das anschliessende, recht jazzige "Fohat’s Work" wies Zeuhl-Elemente der frühen Magma auf, besonders beim Gesang. "Hymn" präsentierte eine fast schon avantgardistisch klingende Melodie, interpretiert mit Solo Bass-Violine, bizarren und bisweilen schräg klingenden elektronischen Sounds, und endete in einem echten Wohlfühl-Klang. Der "Dragonsong" führte die Band in einen progressiven Jazz Rock, treibend und hypnotisch, unterlegt mit funkigen Untertönen. "Things We’re Looking For" dagegen war eine ruhige, sehr gefühlvolle Ballade mit einer vertrakten Harmonik, unorthodoxen Melodielinien und sehr emotionalem Gesang, der hier exzellent unterstützt wurde durch E-Piano und einem gestrichenen Kontrabass. Das Album endete mit dem rockenden "Back To Earth", geprägt von einem sehr dominanten Bass Riff und einer überzeugenden Gitarrenarbeit: Das beeindruckende Ende einer höchst abwechslungsreichen und sehr aussergewöhnlichen musikalischen Reise. Als das Debütalbum im April 1972 erschien, hatten der Gitarrist Harry Krämer und der Schlagzeuger Ludwig Braum die Band bereits verlassen.

Krämer studierte klassische Gitarre am Konservatorium der Musikakademie Frankfurt. Er betätigte sich danach als Gitarrenlehrer. Braum schloss sein Studium der klassischen Musik mit dem Staatsexamen als Orchestermusiker und dem Masterdiplom für Schlagzeug und Perkussion an der Akademie für Tonkunst Darmstadt ab. Gleichzeitig wurde er festes Mitglied im Staatsorchester der Rheinischen Philharmonie Koblenz. Karwatky rekrutierte als neuen Gitarristen Eddy Marron, der zuvor beim Jochen Brauer Sextett und der Gruppe Vita Nova mitgewirkt hatte und ein klassisch ausgebildeter Gitarrist mit Studium der Konzertgitarre an der Staatlichen Hochschule für Musik Heidelberg-Mannheim war und den in Darmstadt geborenen und lebenden Schlagzeuger Lothar Scharf, der in Volker Kriegel's Trio und als Solo-Pauker bei den Berliner Symphonikern gespielt hatte. Er studierte klassische Perkussion an der Akademie für Tonkunst Darmstadt und an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Berlin. Er kam in die Band Dzyan als Ersatz für Krämer und Braum. Damit war die Gruppe wieder komplett. In der neuen Formation absolvierten Dzyan in den anschliessenden Monaten eine Reihe von Konzerten. Es waren die ersten Live-Auftritte von Dzyan überhaupt. 

Der Südwestfunk lud die Gruppe im Oktober 1972 zu Aufnahmen in das sendereigene Studio U1 in Baden-Baden ein. Im November 1972 verliessen jedoch der Sänger Jochen Leuschner und der Saxophonist Gerd 'Bock' Ehrmann die Band. Gitarrist Marron übernahm nun auch den Gesang und Dzyan spielten als Trio weiter. Auch in dieser Besetzung wurden mehrere Live-Auftritte gespielt. Jochen Leuschner gründete nach seinem Ausstieg, nur wenige Monate später, mit einigen Darmstädter Musikern die Rockformation Hardcake Special. Die Gruppe veröffentlichte 1974 ein gleichnamiges Album auf dem Brain-Label von Metronome Records, produziert von Frank Dostal. Im gleichen Jahr begann Leuschner seine Tätigkeit beim Plattenlabel CBS in Frankfurt. Nach verschiedenen Positionen innerhalb des Unternehmens wurde Leuschner 1984 mit 35 Jahren der damals jüngste Geschäftsführer des weltweiten Musikunternehmens. Er führte die deutsche Filiale erfolgreich insgesamt 17 Jahre lang. Ende 2001 verliess er das Unternehmen auf eigenen Wunsch. Gerd Ehrmann spielte nach seinem Weggang von Dzyan in erster Linie akustischen Jazz, mit Jürgen Wuchner, Wolfgang Wüsteney, Michel Eicken und einigen weiteren Musikern. Ab Mitte der 70er Jahre war er als Sozialarbeiter in Frankfurt tätig. Der Schlagzeuger Lothar Scharf verliess die Band im März 1973 und stieg bei der Formation Virgo ein. Er wurde ersetzt von Peter Giger, der vom legendären Albert Mangelsdorff Quintett kam. Ab Mai 1973 spielte das neue Dzyan Trio in der Besetzung Marron, Karwatky und Giger. Im Frühsommer 1973 machte Karwatky die Bekanntschaft von Peter Hauke, dem berühmt berüchtigten Produzenten und Gründer des Labels Bacillus Records. Nachdem sich beide über einen Schallplattenvertrag geeinigt hatten, unterzeichneten Dzyan im Juni 1973 einen exklusiven Vertrag mit Bellaphon für das legendäre Bacillus-Label. Ende August nahm die Band ihr zweites Album "Time Machine" im legendären Dierks-Studio in Köln/Stommeln auf, produziert von Peter Hauke, aufgenommen und gemischt von Dieter Dierks. Veröffentlicht wurde das Album im November auf Bacillus Records. "Time Machine" mit seinem psychedelischen Cover, das Helmut Wenske für das Album designete, war im Vergleich zum Debütalbum ein völlig neu und anders klingendes Werk. 

Der Sound der Gruppe bewegte sich zwar immer noch im Jazzrock, öffnete sich aber mehr in Richtung experimentellem Fusion und Free Rock. Als Trio entwickelte sich Dzyan vom Progressive Rock mit Gesang des ersten Albums jetzt in ethnische und jazzige Bereiche mit mehr Raum für abgedrehte exotische Improvisationen, zu einer ungewöhnlichen Form des Acid Rock mit heftigen Ausflügen in Richtung von John McLaughlin's Mahavishnu Orchestra. "Time Machine" war sehr virtuos und zeigte die Musiker mit eigener Ästhetik auf höchstem Niveau. Das Album galt später als eines der Meisterwerke des deutschen progressiven Rocks. Im Niemandsland zwischen Jazz und Rock und als Vorläufer des Post-Rocks der 90er Jahre war "Time Machine" seiner Zeit weit voraus. Nach den Aufnahmen zur LP absolvierte die Band eine Reihe von Auftritten in Deutschland und den angrenzenden Nachbarländern. In den USA wurde das Album "Time Machine" im April 1974 auf dem Cosmic Label veröffentlicht. Anschliessend verliess Schlagzeuger Giger für mehrere Monate die Band, um als Sessionmusiker für das Jazzlabel ECM zu arbeiten und eine Tour mit dem Bassisten Eberhard Weber zu absolvieren. Während seiner Abwesenheit wurde er kurzzeitig von Marc Hellmann (ehemals Dave Pike Set) vertreten. Zwischenzeitlich hatten Gitarrist Marron und Bassist Karwatky ihre musikalische Bandbreite und Ausdrucksformen mit der Verwendung verschiedenster Akustikinstrumente und ihrem Interesse für ethnische und experimentelle Musik weiterentwickelt. Im Hinblick auf die Veröffentlichung eines dritten Albums hatten Produzent Hauke und Mastermind Karwatky den legendären Surrealisten der 70er Jahre Helmut Wenske ('Paintings from Innerspace') auserwählt, auch für das kommende dritte Album "Electric Silence" das Cover zu entwerfen, was sich als Glücksgriff erwies.

Die Aufnahmen fanden im Oktober 1974 erneut im Dierks Studio statt. Auch "Electric Silence" wurde auf Bacillus Records veröffentlicht. "Electric Silence" wurde insbesondere bekannt und berühmt für seine von ethnischen Elementen geprägte aussergewöhnliche Musik und sein extrem psychedelisches und surrealistisches Cover. Dzyan perfektionierten ihre Musik noch mehr in Richtung Improvisation, elektronische Soundexperimente, polyrhythmisch treibende Grooves und raffinierte exotische Klänge und katapultierten die Band in einen faszinierenden mystischen Sound-Kosmos. "Electric Silence" hob ab in überirdische Klangwelten von unglaublicher Schönheit und Eigenart, eintauchend in die ursprüngliche Musik Asiens, zu den mythischen Quellen in Sphären des archaischen Ursprungs, wurde zu einem einzigartigen rituellen Trip in sagenumwobene immaterielle Welten. Die Multi-Instrumentalisten Marron und Karwatky experimentierten auf Sitar, Saz, Tambura, Mellotron, Synthesizern, Bass-Violine und einem geheimnisumwitterten Instrument namens Super-String, vermischt in einem extremen Schmelztiegel von Stilen, Ideen und fruchtbaren Phantasien, während Giger, hoch konzentriert und inspiriert, mit seinem virtuosen Schlagzeugspiel für den Zusammenhalt sorgte. Von dem geheimnisvollen "Kahli" über das mehr funkig angehauchte "For Earthly Thinking" bis zum heftigen "The Road Not Taken", lieferten Dzyan eines der besten und einzigartigsten Alben des Krautrocks ab. 

"Electric Silence" stand letztlich für sich selbst: Abenteuerliche Rhythmen und einzigartiger Jazz-Prog im Grenzbereich des experimentellen Rocks, ein weiteres Meisterwerk. Das Album wurde in den USA auf dem zwischenzeitlich eingestellten Label Passport Records veröffentlicht. Ende 1974 entschloss sich Reinhard Karwatky jedoch als letztes verbliebenes Original-Bandmitglied, als der Gründer und Namens-Inhaber von Dzyan, die Gruppe zu verlassen, womit deren offizielles Ende dokumentiert wurde. Mit dem Bassisten Günter Lenz spielten Marron und Giger als Trio Giger-Lenz-Marron weiter. Das Fusion-Trio veröffentlichte zwei Alben auf Gigers Nagara-Label ("Beyond" 1977 und "Where The Hammer Hangs" 1978). Ihre Musik klang wie eine jazzigere Version von Dzyan, allerdings ohne deren Experimentierfreude und elektronischen Sounds. Reinhard Karwatky komponierte die erste deutsche Jazz Rock Symphonie "Resurrection", welche im Jahre 1975 im Staatstheater Darmstadt uraufgeführt wurde. Ausserdem "Ode To Africa", die sogenannte '1st World Music Symphony', uraufgeführt 1976 ebenfalls im Staatstheater Darmstadt mit Peter Giger und Christoph Haberer. Weitere Werke seines Schaffens waren "Liturgical Colours" für symphonische Streicher und Kontrabass solo, die "Homage To Mahatma Gandhi" für Symphonie Orchester und Chor, sowie zahlreiche weitere Symphonik-Projekte. Reinhard Karwatky arbeitete auch als Musikproduzent, Toningenieur, Komponist und Arrangeur.



Mar 4, 2024


YES - Progeny: Seven Shows From Seventy-Two
(Rhino Records 081227956417, 2015 / Aufnahmen von 1972)

"Progeny" ist eine Nabelschau der besonderen Art: Es ist die auf insgesamt 14 CDs verewigte komplette Präsentation aller sieben Auftritte der Gruppe Yes im Jahre 1972 in den Vereinigten Staaten, die im Jahr darauf in ihrer komprimierten Weise zur grandiosen Dreifach-LP "Yessongs" führte, jenem legendären Konzertalbum, das bis heute zu den besten Live-Momenten des Progressiven Rock überhaupt zählt. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich diese Box überhaupt zu meinen alternativen Plattentipps hinzufügen sollte, aber es ist mir letztlich ein Bedürfnis, allen Yes-Fans und solchen, die es noch immer werden möchten, diese einmalige Kollektion von sieben Auftritten einer der grossartigsten und künstlerisch unbestreitbar herausragendsten aller Rockbands zu empfehlen, denn die nicht ganz billige Investition lohnt sich in jedem Fall, und sei es nur schon wegen der Authentizität, denn hier präsentierte sich die Band an sieben Abenden in allerbester Spiellaune und die jeweils gespielten Titel wirken in sich wesentlich geschlossener, als auf der komprimierten späteren "Yessongs", die aus Titeln aller sieben Auftritte zusammengeschustert worden war.

Für alle Yes-Fans und viele Geniesser von Live-Alben gilt Yessongs" als das progressive Mass aller Dinge: Über eine Million Exemplare des spektakulären Live-Albums, das mit einem der eindrucksvollsten Roger Dean-Artworks aufwartete, wurden innerhalb kurzer Zeit verkauft. Nach ihrem legendären, fünften Studioalbum "Close To The Edge" befand sich die Gruppe in einem kreativen Höhenrausch, der während der 1972er Welttournee wie ein Vulkan zu einem Ausbruch drängte. Fast alle Stationen der Tour waren ausverkauft und die Hallen mit Fans bis zum letzten Platz gefüllt. Erst im Jahre 2014 entdeckte die Band einen längst vergessenen Schatz: Sieben vollständige Konzerte aus den Wochen, die den Gigs der Aufnahmen von "Yessongs" vorangingen. Mit allerneuester Audio-Technologie ging man nun daran, die Original-Bänder mit den Aufnahmen in bester Qualität zu restaurieren und brachte schier unglaubliche Klangdetails zutage, die einen unmittelbaren Sound schufen, der die Zuhörer direkt in die erste Reihe katapultiert. 

"Progeny: Seven Shows From Seventy-Two" eröffnet jeden Ton aller sieben Shows auf insgesamt 14 CDs, also jeweils eine Doppel-CD pro Auftritt. Die Aufnahmen entstanden im Herbst 1972, als die Band von Kanada nach North Carolina und dann nach Georgia und Tennessee reiste, bevor sie am 20. November 1972 in Nassau Coliseum in New York spielte. Die schön aufgemachte Box kommt im Design einer Flip Top Box und enthält ein speziell entworfenes neues Artwork von Roger Dean, der schon damals für die phantastischen Coverdesigns nicht nur für die Gruppe Yes zuständig war. Neu auf dieser Tour war der Schlagzeuger Alan White, der bis heute zum Yes-Line Up gehört und seinerzeit das Gründungsmitglied Bill Bruford ersetzte, der nach den Aufnahmen zu "Close To The Edge" zur Gruppe King Crimson wechselte. Unglaublich aber wahr: White blieben damals ganze drei Tage, um das gesamte Repertoire der Live-Shows zu lernen, bevor er mit Jon Anderson (Gesang), Steve Howe (Gitarre), Chris Squire (Bass) und Rick Wakeman (Keyboards) auf die Bühne ging. Die enorm kraftvollen Aufnahmen zeigen, wie schnell das neue Line-Up musikalisch zusammenfand und eine Einheit formte; hervorragend herauszuhören etwa auf Titeln wie "Roundabout" oder komplexen Suiten wie "And You And I". 

Progeny: Sieben Shows von 72 bietet wie der Name schon sagt, sieben Yes-Shows aus der äusserst kreativen Zeit von 1972. Die Box der Konzerte der Nordamerika-Tour sind eine ideale Ergänzung zu den bisherigen offiziellen Veröffentlichungen "Yessongs" und "Yesshows". Der Unterschied zu den bisherigen Live-Platten aus jener Aera: Der Sound ist wesentlich besser und stellt die bisherigen Platten klangtechnisch weit in den Schatten. Wer Yes mag, der sollte sich dieser Box unbedingt annehmen. Das Jahr 1972 bedeutete für Yes Kreativität pur und absolute Spielfreude und nicht wie die spätere Yes-Phase Popmusik auf hohem Niveau. Der Zuhörer von "Progeny" kann eindrucksvoll miterleben, wie die Musiker an ihren Stücken von Show zu Show wuchsen und welche Schwerpunkte sie jedes Mal legten. Mal durfte der Gitarrist Steve Howe den Ton angeben, ein andermal der Keyboarder Rick Wakeman. Die Gruppe lebte, sie variierte ihr Material, wechselte aus und probierte neu. Da die Konzerte als Folge veröffentlicht sind, kann der Zuhörer miterleben, wie sich die Band veränderte und das Publikum immer wieder aufs Neue mitreissen konnte.

Auch schön ist die Entwicklung des Covers von Roger Dean. Über die einzelnen CDs hinweg entwickelte er sein Grafik-Konzept. Über Roger Dean muss man nicht mehr viele Worte verlieren; sein Grafikstil hat so manche Platten seit den 70er Jahren entscheidend mitgeprägt. Zu den Aufnahmen, die man zufällig in einem Karton entdeckt hat: Dieser Schatz wurde gehoben und den Fans zur Verfügung gestellt. Dazu wurde analoges Equipement verwendet, nicht heutige PC-Technik. Der Klang von "Progeny: Seven Shows from Seventy-Two" wirkt äusserst warm, rein und eben wie damals. Schön zu lesen ist auch das 40-seitige Booklet mit einem Essay von Brian Kehew  Sieben Shows von einer Tour. Wird das nicht öde ? Mitnichten! Alleine der Titel "Yours Is No Disgrace" war jeden Abend völlig anders. Neben dem gejammten Intro spielte Steve Howe sein endlos langes, aber spannendes Solo jeden Abend deutlich anders. Das ist noch heute bei jeder Yes-Show etwas Besonderes. Rick Wakeman variierte die "Excerpts From Six Wives Of Henry VIII" jede Nacht gründlich. Die Ansagen und Kommentare der Band waren von Auftritt zu Auftritt sehr individuell. Selbst das Akustik-Set von Steve Howe geriet, obwohl er die gleichen Titel jeden Abend spielte, sehr spontan umarrangiert und oft durch andere Teile verfeinert. Auch bei den verbliebenen Stücken war irgendwie jeden Abend ein kleines Teil anders gespielt.

"Yessongs" ist seit meiner Jugend mein absolutes Lieblings Live-Album. Ich bin froh, nun diese alternativen Mitschnitte aus dieser Zeit hören und entdecken zu können, auch, um hautnah miterleben zu können, wieviel Energie in diesen frühen Tagen in dieser unglaublichen Band steckte. Der Sound der Aufnahmen ist tatsächlich rauher, aber eben auch besser und klarer als bei "Yessongs". Die Geschichte dieser Aufnahmen setzte sich erst 2005 fort. In der Zwischenzeit galten die Bänder dieser sieben Konzerte offiziell als verschollen. Für die Live-Compilation "The Word Is Live" wurden damals, im Jahre 2005, verschiedene Archive durchstöbert, darunter vor allem Steve Howe's Privatarchiv. Für eine genaue Durchsicht der Warner Brothers Archive in New York war das "The Word Is Live"-Budget nicht gross genug, aber man entdeckte immerhin einige Schachteln mit der Aufschrift 'Yes'. Als dann Jahre später Steven Wilson begann, die Originalalben von Yes zu remixen, ging man auf die Suche nach Bonusmaterial. Dabei fand man in den Schachteln in den Archiven die Multitrack-Bänder von acht Konzerten der USA-Tour aus dem Herbst 1972. Von diesen Konzerten war eines wegen starken Feedbacks unbrauchbar, das vom 25. September in Hartford, Connecticut.

Und so gelangten die folgenden sieben Konzerte in der "Progeny"-Box ans Licht der Öffentlichkeit:

31. Oktober 1972: Maple Leaf Gardens, Toronto, Ontario, Canada

1. November 1972: Ottawa Civic Centre, Ottawa, Ontario, Canada

11. November 1972: Duke University, Durham, North Carolina, USA

12. November 1972: Greensboro Coliseum, Greensboro, North Carolina, USA

14. November 1972: University Of Georgia, Athens, Georgia, USA

15. November 1972: Knoxville Civic Coliseum, Knoxville, Tennessee, USA

20. November 1972: Nassau Veterans Memorial Coliseum, Uniondale, New York, USA

Bei der Arbeit an der "Progeny"-Box stiess man jedoch bald auf Probleme: Schon beim Originalmix von "Yessongs" hatte Eddy Offord mit der Aufzeichnungsqualität zu kämpfen gehabt. Diese hatte erheblich darunter gelitten, dass jemand die Einstellungen des Dolby-Rauschunterdrückungsystems falsch gesetzt hatte. Obwohl Offord aus den Aufnahmen herausgeholt hatte, was menschenmöglich war, litt "Yessongs" unter dem mässigen, sehr mittigen Klang. Beim Abmischen der Konzertaufnahmen für die "Progeny"-Box stand der Produzent Brian Kehew nun vor dem gleichen Problem wie damals Offord. Zudem hatte er mit uraltem Material zu tun, das jederzeit auseinanderfallen konnte. So wurden die Bänder zunächst einmal in mühevoller Kleinarbeit restauriert. Bei der Korrektur der falschen Rauschunterdrückungseinstellungen und der Abmischung orientierte er sich dann an der Philosophie Steven Wilsons: keine Korrekturen, keine Neuinterpretation, und schon gar keine Overdubs. Man hört das, was damals aufgenommen wurde. So wurde die Konzerterfahrung vom Herbst 1972 originalgetreu in die Gegenwart transportiert. Im Vergleich zu "Yessongs" nahm Kehew zum Beispiel die Instrumente hörbar weit auseinander, um dem damaligen Konzerterlebnis gerecht zu werden: Links aussen steht Steve Howe, rechts Rick Wakeman. Alan White und Jon Anderson hört man in der Mitte, und Chris Squire zwischen Wakeman und White.

Yes lieferten zwar jeden Abend das gleiche Set ab, und als ausgewiesene Perfektionisten spielten sie es so nah an der Studioaufnahme wie möglich, dennoch variierte die Band ihre Stücke von Abend zu Abend leicht. Vor allem Wakeman und Howe spielten sehr frei. Wakemans "Excerpts" waren mal länger, mal kürzer, als man es von "Yessongs" her kannte, immer wieder änderte er Dauer und Abfolge der einzelnen Ausschnitte. Howe ist ein Derwisch an den Saiten, und solierte wie ein Irrer, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Die Authentizität dieser Aufnahmen bringt es mit sich, dass auch der eine oder andere Fehler zu hören ist. So verhaut sich Howe bei "Close To The Edge" in Greensboro, in Durham sind es beim gleichen Stück Wakeman und Squire. Dennoch sind vor allem die freieren Passagen besonders interessant. So ist "Yours Is No Disgrace" jeden Abend das Vehikel für lange Soli. Daneben gibt es, oft direkt davor, kleine Band-Jams. A propos: Wer sich für Fehler interessiert, der sollte sich die Durham-Show unbedingt genau anhören. Immer wieder ist zu lesen, wie unzuverlässig das Mellotron damals war. Ständig verstimmte sich das sensible Instrument. Wer mal hören will, wie ein verstimmtes Mellotron klingt, der kann das auf der ersten Durham-CD fast durchgängig geniessen. Und in Toronto empfing Rick Wakemans Set sogar das lokale Radioprogramm.

Das Besondere an diesen Konzerten ist vor allem die krasse Power, die die Band damals herüberbrachte. Um nur ein Beispiel zu nennen: "Close To The Edge" hat, um Minute 15 herum, extrem dissonante Passagen, die auf der Studioaufnahme nicht annähernd so intensiv wirken. Auch das Stereobild der "Progeny"-Konzerte macht die Box zu einer lohnenden Anschaffung: Durch die originalgetreu breite Anordnung der Musiker wirken die Aufnahmen äusserst authentisch. Aufgrund der grossen Transparenz werden viele Details hörbar. Dem einen oder anderen mag Chris Squire zu leise sein, Fans von Rick Wakeman und Steve Howe dagegen dürften sich darüber freuen, jede einzelne Note ihrer Helden klar und deutlich zu hören. Vor allem Wakeman tritt stärker in den Vordergrund als gewohnt. Der mehrstimmige Gesang ist klar und deutlich, man kann sogar die einzelnen Stimmen auseinanderhalten. Und Alan White ist eine Offenbarung: Der Mann glänzt durch Frische und Energie.

Nun noch zu der Frage nach dem Verhältnis von "Progeny" zu "Yessongs". Gesichert ist, dass die folgenden vier Aufnahmen sowohl auch "Progeny" als auch auf "Yessongs" zu finden sind:

"Roundabout" (1. November, Ottawa)
"Heart Of The Sunrise" (12. November, Greensboro)
"Siberian Khatru" und "Yours Is No Disgrace" (14. November, Athens)

Wer genau hinhört, und Spass an so etwas hat, kann auch versuchen, die anderen Aufnahmen zu identifizieren. So kann man etwa ausmachen, dass Rick Wakeman's Solo-Beitrag auf "Yessongs" vom Konzert in Athens stammt. Den allenthalben gezogenen Vergleich zwischen "Progeny" und "Yessongs" finde ich dennoch vollkommen unsinnig. Ersteres ist eine ungeschminkte Dokumentation von sieben Konzerten einer einzigen Tournee, während letzteres eine Compilation von Aufnahmen ist, die an verschiedenen Abenden zweier verschiedener Tourneen entstanden sind, und die zudem hinterher nachbearbeitet wurden. So nahm Offord einige Overdubs vor: Howe, Squire und Wakeman korrigierten einige Stellen nachträglich im Studio: zum Beispiel ist Steve Howe's Solo in "Yours Is No Disgrace" eine Studioaufnahme und es wurden Ansagen und Publikumsgeräusche gelöscht. "Perpetual Change" und "Long Distance Runaround" / "The Fish" stammen von der vorausgehenden "Fragile"-Tour, das ist auch der Grund dafür, dass Bill Bruford auf "Yessongs" zu hören ist. Die "Close To The Edge"-Stücke hat er nie live gespielt.

Gleichermassen unsinnig ist die Frage, ob man sieben Konzerte mit der gleichen Setliste braucht. Nun, simpler kann eine Antwort nicht sein: "Progeny" enthält sieben Konzerte mit der gleichen Setliste, und wer sieben Konzerte mit der gleichen Setliste haben möchte, der soll sich die Box zulegen. Wer nicht, der nicht. Wer sieben Yes-Konzerte mit der gleichen Setliste interessant findet, aber Angst hat, dass sie bei ihm im Schrank zum Staubfänger werden könnten, der soll sie sich halt bei einem Freund, der sie hat, mal anhören. Und wer sieben Yes-Konzerte mit der gleichen Setliste haben möchte, der soll sich die Box zulegen. Sie ist die Anschaffung allemal wert, nicht zuletzt auch durch das ausführliche Booklet und das durchgängig neue Artwork von Roger Dean, das die Geschichte des zerfallenden Planeten, die auf den Covers von "Fragile", "Close To The Edge" und "Yessongs" erzählt wurde, noch weiter ausdifferenziert. Ich jedenfalls bin begeistert von "Progeny" und hoffe, dass noch weitere Veröffentlichungen dieser Art folgen. Die brettharten Yes-Fans dürsten vor allem nach der "Tales From Topographic Oceans"-Tour, der "Solo-Album"-Tour, der "Relayer"-Tour und der "Drama"-Tour. Es gibt also für Brian Kehew noch einiges zu tun. Yes, das ist - zumindest für mich - so etwas wie eine lebenslange Liebesbeziehung. Da kann ich alles sein, nur nicht objektiv.






Mar 3, 2024


PHISH - Slip, Stitch & Pass (Elektra Records 62121-2, 1997)

"Slip Stitch & Pass" war das zweite offizielle Live-Album der amerikanischen Rockband Phish. Es wurde am 28. Oktober 1997 veröffentlicht und bot neun Tracks eines Konzerts der Band vom 1. März 1997 in der Markthalle in Hamburg, die Teil von Phish's Europa Tour desselben Jahres war. Man konnte hier zum erstenmal überhaupt die Titel "Mike's Song" und "Weekapaug Groove" auf einer offiziellen Phish-Veröffentlichung hören, obwohl beide Songs schon seit den 80er Jahren Teil des Bandrepertoires waren. Drei der neun Songs des Albums waren Coversongs: "Cities" von den Talking Heads , "Jesus Just Left Chicago" von ZZ Top und der traditionelle A-Cappella-Standard "Hello My Baby". Darüber hinaus zitierte die Band im letzten Jam-Abschnitt von "Mike's Song" Pink Floyd's "Careful with That Axe, Eugene" sowie Elemente und Texte aus dem Doors Titel "The End". Das Ende von "Weekapaug Groove" wiederum interpolierte den Endabschnitt von "Can't You Hear Me Knocking" der Rolling Stones. Der Jam auf "Wolfman's Brother" war ein Indiz für den Streifzug der Band in die Funkmusik, der die Improvisation der Gruppe in den nächsten Jahren dominierte. Der Song enthielt auch einen Vorgeschmack auf das Instrumentalstück "Dave's Energy Guide". Der bekannte Grafiker Storm Thorgerson entwarf das Albumcover zu "Slip, Stitch & Pass".

Phish blieben bis heute vor allem für ihre Improvisationen und Jamsessions bekannt. Ihre Musik umfasst ein weites Spektrum von Genres, darunter Rock, Fusion, Bluegrass, Folk, Blues und Progressive Rock. Obwohl die Gruppe kaum im Radio oder auf im Fernsehen zu hören war, entwickelte sich durch Mundpropaganda eine grosse, inzwischen enorm grosse Fangemeinde. Phish wurden 1983 in Burlington von Trey Anastasio, Jeff Holdsworth und Jon Fishman gegründet, die alle die University of Vermont besuchten. Nur wenig später schloss sich ihnen Mike Gordon an und 1984 begannen sie auch ausserhalb der Universität aufzutreten. Kurz nachdem Keyboarder Page McConnell 1985 Mitglied von Phish geworden war, verliess Holdsworth die Band. Anfang 1988 nahmen Phish ihr Debütalbum "Junta" auf, das sie ausschliesslich als Musikkassette bei ihren Konzerten verkauften. 1989 folgte "Lawn Boy", das 1990 auf dem Independent Label "Absolute A-Go-Go", einem Sublabel von Rough Trade erschien. 1991 tourten Phish durch Amerika, verloren jedoch Ende des Jahres ihren Plattenvertrag, als Rough Trade Insolvenz anmeldete. Elektra Records nahm die Band unter Vertrag, und 1992 folgte auf ihrem neuen Label "A Picture Of Nectar". Die Band tourte weiterhin durch das Land, während Elektra Wiederveröffentlichungen der ersten beiden Phish Alben auf den Markt brachte.

Während ihrer 1992er Tour hatten Phish bei mindestens einem ihrer Konzerte (in Stowe (Vermont) am 25. Juli 1992) Carlos Santana zu Gast. Santana jammten bei den Songs "You Enjoy Myself", "Llama", "Santana's Jam #1", "Santana's Jam #2", "David Bowie" und "Catapult" an jenen Abend mit. Dies belegen zwei CD-Veröffentlichungen aus dem Jahre 1992, eine mit dem Titel "A Phishy Story", deren Aufnahmen aus Providence und Stowe stammen, eine andere CD mit dem Titel "Jammin' Santana", deren Aufnahmen vom gleichen Tag aus Stowe stammen. Ob es sich bei diesen CDs um Bootlegs handelt, ist nicht bekannt, da Phish während dieses Zeitraumes keinen Plattenvertrag hatten. Anfang 1993 erschien Phish's viertes Studioalbum namens "Rift". Im nächsten Jahr folgte "Hoist", aus dem die Single "Down With Disease" ausgekoppelt wurde. Ende 1994 wurde "Crimes Of The Mind" veröffentlicht, ein Album, das die Band bereits 1991 zusammen mit The Dude Of Life (bei vielen der Phish-Songs auch als Mittexter aufgeführt) aufgenommen hatten. Weitere Veröffentlichungen in den 90er Jahren waren unter anderem das Doppel-Livealbum "A Live One", die Studio LPs "The Story Of The Ghost" und "Billy Breathes" (vor allem das letztgenannte bekam exzellente Kritiken), die Live-LP "Slip, Stitch & Pass" und schliesslich die 6 CD's umfassende Box "Hampton Comes Alive", in der zwei ganze Konzerte enthalten waren. Das Album erreichte sogar Goldstatus.

Anfang 2000 konnten Phish ihren Erfolg mit dem Album "Farmhouse" und der dazugehörigen Single "Heavy Things" fortsetzen, doch schon im Oktober des gleichen Jahres trennten sich die Musiker vorübergehend, um sich anderen Projekten zu widmen. Von 2001 bis 2003 veröffentlichte Elektra zwanzig Livealben der Band und im Dezember 2002 begannen Phish auch wieder live aufzutreten. Sie tourten noch eineinhalb Jahre, veröffentlichten 2004 noch ein letztes Studioalbum in Form von "Undermind" und gaben schliesslich ihre endgültige Trennung bekannt. Im März 2009 kam die Band wieder zusammen und spielte im Sommer einige Konzerte in den USA. Im September desselben Jahres erschien schliesslich ihr 14. Studioalbum "Joy", auf das eine ausgedehnte Nordamerikatournee folgte. Auch in den seitdem folgenden Jahren tourten Phish durch Nordamerika. In den Monaten Juli und August 2017 spielten Phish 13 Konzert unter dem Titel The Baker's Dozen im Madison Square Garden in New York. Jedes Konzert hatte eine individuelle Setlist; es wurde kein Song zweimal gespielt.




Mar 2, 2024


DEATH ALLEY - Black Magick Boogieland (Tee Pee Records 175-1, 2015)

Lemmy kann in Frieden ruhen, denn es gibt Bands, die sein Erbe für immer und drei Tage hochhalten werden, denn Lemmy war gradlinig, felsenfest, verlässlich, eine grundehrliche Rockerkaut. Unter den legitimen Thronfolgern des Speed Rock à la Motörhead waren Death Alley aus den Niederlanden ganz weit vorne. Death Alley verehrten Hawkwind und die Stooges, spielten psychedelischen, schnellen Rock'n'Roll mit jeder Menge Soul und lieferten eine High Energy-Performance ab, von der viele andere Bands im digitalen Zeitalter nur träumen können. Dabei folgte ein rasend schnelles Gitarrenriff auf das nächste und die Rhythmusgruppe rannte um ihr Leben. Death Alley, die sich selbst in der ebenso selbstbewussten wie hoffnungsvollen musikalischen Kategorie 'The New Wave of Dutch Loudness' sahen, gaben von vorne bis hinten absolut Vollgas. Dabei streiften sie weit mehr als nur den Geist von Lemmy, waren stilistisch bisweilen ausgesprochen nahe an Hawkwind, insbesondere beim Longtrack "Supernatural Predator", aber auch beim Protopunk etwa der 60er Jahre Legende MC5 und auch die bleischwere Düsterheit der frühen Black Sabbath konnte manin vielen Songs spüren.

Die Band um den ehemaligen The Devil's Blood Gitarristen Oeds Beydals stammte aus Amsterdam und bestand neben dem Leader noch aus dem ehemaligen Gewapend Beton Sänger Douwe Truijens, dem Bassisten Dennis Duijnhouwer und dem vormals ebenfalls bei Gewapend Beton und White Slice tätig gewesenen Schlagzeuger Ming Boyer. Auf zukünftigen musikalischen Hardrock-Weltkarten wird das leider eher weitgehend unbekannte "Black Magick Boogieland", oligarchisch und diabolisch, doch gütig beherrscht von der sogenannten Death Alley, sicherlich irgendwann einmal einen grösseren Bekanntheitsgrad erreichen, was zu hoffen wäre, insbesondere des Umstandes wegen, dass es Detah Alley leider schon seit bald fünf Jahren nicht mehr gibt. Death Alley gaben alles, was das Rockerherz begehrt: KLlassischen Hard Rock, Lemmy-Rock'n'Roll, klassischen Mitt-70er Underground und eine Bleischwere, die so manch anderer Rockcombo einfach fehlt. Death Alley klangen selbst dann noch hammergeil, wenn sie sich in scheinbar uferlosen und bisweilen recht hypnotischen Jams verloren.

Illegale Substanzen dürften im Hoheitsgebiet Death Alley's wohl auch hin und wieder eine Rolle gespielt haben, zentraler Faktor aber muss die Musik gewesen sein, die Musik der coolen Typen beiderlei Geschlechts mit Lederjacken und kaputten Hosen und Moralvorstellungen. Diese bildeten die überwältigende Mehrheit im "Black Magick Boogieland" und hätten bevorzugt und nicht nur metaphorisch ums Feuer getanzt. Den Charakter der alles dirigierenden Musik konnten die Rückkehrer mangels relevanter Vorbildung nicht adäquat beschreiben, eine Person gab exemplarisch zu Protokoll, sie hätte durch den Lärm schlagartig den Drang verspürt, dem Leibhaftigen in einer Tour mittels obszöner Gesten zu huldigen, welche eindeutig nicht mit Anstand und Moral in Verbindung hätten gebracht werden können. Mutmassungen, Gedanken, wirre Ideen, die so beim Hören dieses unglaublichen Albums entstehen können. Ein Trip, der einfach packt und einen mitschleift, egal ob man will oder nicht.

Death Alley spielten in ihrem "Black Magick Boogieland" einen klassisch instrumentierten Rock, dessen Stilmittel zwar durchaus altbekannt waren, der aber spektakulär wirkte durch die allgegenwärtige Energie und Hingabe seiner Protagonisten - 'kompromissloser Rock', diesen Begriff hatte ich zuvor schon seit längerem nicht mehr in den Mund genommen, bei Death Alley kam mir diese Umschreibung jedoch endlich mal wieder zurück ins Bewusstsein. Das Herzblut tropfte diesem Punk-fueled Boogie-Rock nicht nur aus jeder Rille, es peitschte - versetzt mit ehrlichem Schweiss einer jeden Körperöffnung - geradezu in alle Richtungen. Als besonders verführerischen Höhepunkt möchte ich den "Supernatural Predator" bezeichnen, der klingt, als coverten Warrior Soul mit voller Wucht und allem, was sie haben, sowie elektrisierend unlauteren Absichten einen guten Hawkwind-Song, mit Farida Lemouchi (The Devil's Blood) als hintergründiger Melodieträgerin. Besonders in diesem Epos, aber auch sonst erinnert der Gesang auf "Black Magick Boogieland" an Kory Clarke. Das durchaus beeindruckende 'Manische' vieler Passagen gemahnt auch an die famosen Graveyard (Schweden), die da und dort durchschimmern.

Alles, wirklich alles geriet auf diesem fabelhaften Rocktrip überschäumend und war lediglich im Sinne einer leichten Catchyness notdürftig kanalisiert in packenden Songs. Death Alley verbanden somit die punkige Power Hawkwind's oder auch einiger High Energy Rockbands der 90er Jahre mit dem musikalischen Ansatz der Besten aus dem Kreis der aktuelleren Retro Rock Bands. Und mit einer ungehörigen Portion zum Teil psychedelisch geschwängerter Dunkelheit: Das 'K' in "Magick" war von seiner Bedeutung dem Rockin' 'Ö' in Motörhead gleichzustellen. Ein leider eher wenig beachtetes, doch völlig zeitlos gut rockendes Statement einer Band, von welcher ich mir ausser den drei offiziellen Alben, die allesamt empfehlenswert sind, auf jeden Fall mehr gewünscht hätte.





BLACK BONZO - Lady Of The Light (B&B Records BCD005, 2004)

2004 erstmals veröffentlicht in Schweden, 2012 nochmals international aufgelegt mit Bonustracks ist das erste Album der schwedischen Rock Band Black Bonzo eine der seltenen Perlen des sogenannten "Vintage Rock", der auch wirklich alt klingt, und zwar sowohl vom Instrumentarium der Band bis hin zum finalen analogen Endmix, bei welchem ich eigentlich nur staunen kann, denn analoge Mixdowns werden in der Regel nur noch für Vinyl-Pressungen angefertigt. Dank der vielen technischen Möglichkeiten von heute kann man aber tatsächlich von analogen Master-Bändern fertige Mixdowns absolut verlust- und verfremd-frei digitale Dateien anfertigen, die dann den analogen Sound 1:1 auf die CD bringen. Einziger Wermutstropfen: Es fehlt letztlich das vertraute Knistern, das sich auch nach hundertfachem Anhören der CD nicht einstellt.

Die Band aus dem schwedischen Skelleftea besteht aus Magnus Kärnebro (Gesang), dessen vokalistische Darbietungen bisweilen frappant an den jungen David Byron von Uriah Heep erinnern, Joakim Karlsson (Elektrische und akustische Gitarren, Flöte und Gesang), Anthon Johansson (Bass und Gesang), Mikael Israelsson (Schlagzeug und Gesang), sowie Klas Holmgren (Hammond B3 Orgel, Klavier, Mellotron und ebenfalls Gesang).

Black Bonzo machen musikalisch dort weiter, wo Uriah Heep, Mountain und Deep Purple musikalisch ungefähr 1972 unterwegs waren. Oder sie spinnen den Gedanken von Titanic weiter, die nach dem Debutalbum den ganzen Rock in den Schrank verbannten, um fortan vor allem perkussiven, ziemlich massentauglichen Dancefloor-Lala zu machen. Solchen Kommerz findet man auf Black Bonzo's Debutalbum nicht. Eher - wenn ich mal beim Vergleich zu der norwegischen Band Titanic bleiben will - Sound im Stile von "Searchin'", dem Opener von Titanic's Erstling aus dem Jahre 1970. In der Tat dominiert bei Black Bonzo zumindest auf dieser Debut-Platte erstmal die Hammond Orgel. Daneben sind aber auch die verwendeten Gitarren und vor allem die dazugehörigen Verstärker wahrscheinlich mindestens 40 Jahre alt, denn genau so klangen früher die Gibson Les Paul's über die obligaten Marshall-Türme.

Am allernächsten kommt der Sound von Black Bonzo für mich allerdings an meine heimlichen Rock Helden von Warhorse. Denn wie bei Nick Simper's damaliger Band, wird hier der ganz spärlich in die Kompositionen eingestreute typische Progressive Rock der damaligen Zeit hörbar. Der Kernsound ist aber trotzdem klassischer Hard Rock, der mit besagter Hammond Orgel und dem wuchtigen Sound verzerrter Gitarren und gerne auch mit Mellotron in perfekten, sich nirgends offensichtlich anbiedernden Abläufen oder Schemas erdig und ehrlich und qualitativ exzellent rockt. Auch an die ersten beiden Alben der Hard Rock Band Uriah Heep ("Very 'Eavy Very 'Umble" und "Salisbury") erinnert Black Bonzo's Musik, im wesentlichen aufgrund von Magnus Kärnebro's Gesangslinien und auch wegen der oft zentral eingesetzten Hammond Orgel.

Es ist auch überhaupt keine Platte, die man sich nach zwei-, dreimaligem Hören in den Schrank zurückstellt und vergisst, so wie das bei einem Grossteil der heutigen auf alt getrimmten Rockmusik junger Bands leider der Fall ist, die lediglich an der Rock-Oberfläche kratzen, denen aber die Liebe und Demut und natürlich auch die Athentizität fehlt. Dafür sind die Kompositionen auf diesem Black Bonzo Album einfach zu hervorragend und der Sound wirklich alt, staubig und muffig: Man will sie sich bald wieder auflegen, sobald man wieder Lust auf guten alten Hard Rock hat.

Der Opener, das Titelstück "Lady Of The Light" bietet bei einer Länge von 7 Minuten ein Paradebeispiel für den eingangs erwähnten "Vintage" (Old School) Rock: Eine Nummer, die sich ständig weiterentwickelt, fabelhafte Gitarrenläufe zeigt und insgesamt von einer mächtigen Hammond Orgel getragen wird. Vielleicht nicht der zentrale Song der Platte, jedoch ein erster eindrücklicher Höhepunkt, den die Band jedoch locker als Messlatte der weiteren Titel des Albums setzen kann. Es gibt keinerlei Ausfälle, das Niveau sämtlicher Kompositionen hört sich gleichbleibend hoch an. "Brave Young Soldier", "Fantasyworld" und "Where The River Meets The Sea": Es sind vor allem die langen Stücke, bei denen man eintaucht in eine wundersame Welt der Variationen, Spannungsbögen und Arrangements-Spielereien. Daneben wirken die eher kurzen Songs mit dreieinhalb bis viereinhalb Minuten Lauflänge knackig, kompakt und kompositorisch perfekt umgesetzt - mal mit einem sich in den Gehörgängen festklebenden charakteristischen Refrain, mal gänzlich ohne Chorus. Hier können beispielsweise "New Day", "Freedom", "Jailbait" und "Leave Your Burdens" begeistern.

Alles in allem ist dies ein klasse Erstlings-Album einer Band, die es wie nur Wenige verstanden hat, den typischen Hard Rock von Anfang er 70er Jahe ins Hier und Jetzt zu transportieren, ohne als billige Kopie zu klingen, und vor allem: Ohne alten Helden lediglich nacheifern zu wollen. Die Musiker sind allesamt hervorragende Künstler, die nicht nur hier, sondern auch auf den Folgealben "Sound Of The Apocalypse" (2006) und "Guillotine Drama" (2009) den Traum des Vintage Rock auf gleichbleibend hohem Niveau weiterspinnen konnten. Als die Gruppe danach pausierte, entstand drei Jahre später die Nachfolge-Band GIN LADY, in welcher die meisten der Black Bonzo-Musiker wieder mit an Bord waren, und die 2012 ihr Debut Album präsentierte, das erneut den Vintage Rock von zuvor zelebrierte, vielleicht noch etwas kerniger und mit weniger Anteil an progressiven Elementen wie die Musiker das unter der Black Bonzo Flagge kredenzt hatten, aber ganz genauso unterhaltsam.