Apr 18, 2016


VIC CHESNUTT - Is The Actor Happy ? (Texas Hotel Records TEX 24, 1995)

Sein viertes Album brachte Vic Chesnutt heraus aus dem Schatten seines bis dato zumeist sehr karg umgesetzten Independent Folks, hin zum rockigeren Sound, an welchem der Widespread Panic Gitarrist John Keane entscheidenden Anteil hatte. Nicht nur produzierte er das inzwischen vierte Werk des fragilen Künstlers, sondern er spielte auch fast alle Saiteninstrumente und brachte auch noch den ebenso versierten und späteren Lambchop Musiker Alex McManus mit. Tina Chesnutt, Vic's Ehefrau seit 1990, spielte den Bass und der Cellist David Henry, der später in der Alternative Rock Formation Yo La Tengo einsteigen würde, rundete das Line Up auf dieser Platte ab. Chesnutt, der musikalisch stets auf den Pfaden seiner eigenen Depressionen wandelte, beschrieb den alltäglichen Irrsinn auf sehr eindrückliche Art und Weise, indem er schonungslos und offen seine eigene, vom persönlichen Scheitern geprägte Biographie in seinen Songtexten aufarbeitete. Dies tat er allerdings immer auch mit einem gewissen Schalk im Nacken, was ihm in seinen besten musikalischen Momenten bisweilen in dermassen kreative Höhen katapultierte, dass sie jedem Zuhörer grossen Respekt abverlangten.

Seit einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall im Jahre 1983, bei dem Vic Chesnutt in betrunkenem Zustand mit seinem Auto von der Strasse abkam, war seine untere Körperhälfte gelähmt. Er konnte nur noch mit Hilfe gehen und war daher überwiegend auf einen Rollstuhl angewiesen. Nachdem er sich von seinem Unfall erholt hatte, zog er nach Athens, Georgia. Er fühlte sich in der kleinstädtischen Redneck-Atmosphäre von Zebulon nicht mehr wohl, und im grosstädtischen Athens konnte er seinen liberalen, atheistischen Lebensstil als Bohemian besser ausleben. Er trat der dortigen Band The La Di Das bei, bevor er begann, regelmässig im 40 Watt Club als Solokünstler aufzutreten, wo er dann vom Bandleader Michael Stipe der erfolgreichen Gruppe R.E.M. entdeckt wurde. Stipe ermutigte ihn, sein erstes Album, das karge Little (1990), aufzunehmen, das danach auf dem Independent-Label Texas Hotel erschien. Im Jahr darauf veröffentlichte er auf demselben Label "West Of Rome", danach das dritte Album "Drunk", das, wie sein Name suggeriert, im Wesentlichen in betrunkenem Zustand aufgenommen worden ist. Chesnutt galt zu jener Zeit als Konsument von Alkohol und Drogen in erheblichem Ausmass. Chesnutt unterstützte die Legalisierung von Marihuana als Medikament und trug mit dem Song "Weed To The Rescue" zu der Compilation "Hempilation II" bei, deren Erlös einer US-amerikanischen Organisation zur Legalisierung von Haschisch zugutekam.

Die Platte "Is The Actor Happy ?" zeigte Vic Chesnutt in einer aussergewöhnlich klaren Phase. Seine hier versammelten Lieder erweckten den Eindruck, als wäre hier ein gefallener Musiker zurück auf seinen kreativen Weg gekommen, der ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt. Dies war jedoch eher ein Trugschluss und dem Umstand geschuldet, dass der stets kaputt wirkende, von seinem eigenen Sarkasmus getriebene Musiker hier vor allem vom spielerischen Können der hervorragenden Instrumentalisten profitieren konnte. Die Mitmusiker verstanden es grossartig, die kompositorischen Vorgaben von Chesnutt qualitativ perfekt umzusetzen. Dabei zählte nicht die grosse Geste, sondern die Zurücknahme, was der Intensität der Songs enorm zugute kam. Schon der Opener "Gravity Of The Situation" belegte dies eindrücklich. Chesnutt's bisweilen schräger Sinn für Humor, sein Sarkasmus und sein jederzeit äusserst feinfühliger Geist liessen manchen Song in einem trügerischen Licht vermeintlicher Gemütlichkeit erscheinen - in Wahrheit taten sich dabei Abgründe auf, wie man leicht aus seinen Songtexten heraus spüren konnte. In Titeln wie dem berauschenden "Guilty By Association", einem seiner meiner Meinung nach besten Songs überhaupt, oder zwischen den Zeilen von "Betty Lonely" oder in "Strange Language" manifestierte sich seine Brüchigkeit als Mensch besonders eindrücklich. In der düsteren Selbstreflexion "Free Of Hope" trieb er - zumindest auf diesem Album - seinen Sarkasmus auf die Spitze:

"Up this life of mind free of hope, free of the Past
Thank you God of nothing - I'm free at last"

In diesem Song breitete der inzwischen weitgehend an den Rollstuhl gefesselte Künstler ein unvergleichlich zartes und zugleich reichhaltig instrumentiertes musikalisches Geflecht aus: Banjo, Cello und Pedal Steel Gitarre schmückten diesen Top-Titel zum Paradestück der Platte. Chesnutt selbst bezeichnete dieses Album damals als "wunderschön dummes Konzeptalbum" über sein ambivalentes Verhältnis zu Liveauftritten.

Noch im selben Jahr erschien auch sein nächstes musikalisches Projekt: Das unter dem Namen BRUTE veröffentlichte Album "Nine High A Pallet" mit Musikern der Band Widespread Panic. Hier konnte man den Musiker wohl auf seinem bodenständigsten und musikalisch zugänglichsten Werk erleben. Seine Platten erschienen oftmals auf kleineren Labels, da sich wohl keine grössere Plattenfirma allzuviel Hoffnung auf einen nachhaltigen kommerziellen Erfolg zu versprechen schien. Dies hatte allerdings auf die hohe Qualität seiner Werke keinerlei Einfluss. Vic Chesnutt blieb bis zu seinem Tod einer der eindrücklichsten Künstler der heutigen Musik. Er kreierte mit seinem unnachahmlichen Humor groteske und dynamische Geschichten, die oft von depressiver Stimmung ohne jede Vorwarnung in gelöste Heiterkeit umschlagen konnten. Stilistische Ecken und Kanten waren stets sein Markenzeichen, er verpackte seine mitunter kruden Stories in leise Akustikpassagen und heftige Gitarrenausbrüche gleichermassen, verführte den Zuhörer in seine eigenwillige Welt und tat dies stets mit einem vieldeutigen Augenzwinkern.

Am Weihnachtsmorgen, dem 25. Dezember 2009 berichteten verschiedene Onlinemedien, dass Chesnutt infolge eines Suizidversuchs zunächst ins Koma gefallen und kurze Zeit später verstorben sei. Kurz darauf bestätigte Chesnutt's Plattenfirma Constellation Records, dass der Sänger im Koma liege und sein Zustand kritisch sei. Nur wenige Stunden später wurde der Tod Chesnutt's bekanntgegeben, als Grund wurde eine Überdosis eines Muskelrelaxans angegeben.




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