Oct 1, 2016

MILES DAVIS - Bitches Brew (Columbia Records GP 26, 1970)

Wohl selten hat es ein so mythenumranktes Jazzalbum wie "Bitches Brew" von Miles Davis gegeben. Auf der einen Seite taucht dieses Doppelalbum immer wieder in allen möglichen Listen in etlichen Fachblättern auf, wo es meist als geniale Verschmelzung von Rock und Jazz gefeiert wird, andererseits scheiden sich an dem Album bis heute die Geister. Jazzkritiker monieren, dass Miles Davis mit der elektronischen Instrumentierung endgültig den Jazz hinter sich gelassen hat, Rockfans wiederum finden die Musik meist unverdaulich. Lassen wir mal die Jazzkritiker getrost beiseite, denn Davis' elektronische Instrumentierung steht der ausufernden Improvisationsfreudigkeit der Musiker keinesfalls im Wege. Es dürften womöglich sehr viele Musikhörer aus reiner Neugier schon mal in das Album hineingehört haben, einfach weil es  so sagenumwobend und vieldiskutiert ist, und das seit seinem Erscheinen im Jahre 1970. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn man vorschnell solche Stilschubladen wie etwa Jazz-Rock (Rock-Jazz, Fusion) beizieht, denn die führen rasch einmal in die Irre. Es stimmt zwar, dass Miles Davis auf dem Werk Instrumente einsetzte, die man eher mit Rockbands assoziieren würde, wie zum Beispiel die elektrische Gitarre, elektrische Pianos und elektrische Bässe, aber dennoch lassen sich die manchmal herbeigeredeten Rockeinflüsse nur schwer heraushören. "Bitches Brew" hat für meine Begriffe sehr wenig mit dem gemein, was unter Rockmusik allgemein verstanden wird. Während Rockmusik über meist eingängige Strukturen verfügt, nämlich Strophe/Refrain/Strophe, wie Kurt Cobain es vortrefflich auf den Punkt brachte, so lösten Miles Davis und seine Mitmusiker diese Strukturen kurzerhand auf.

Die Folge konnte zum Beispiel eine halbstündige Improvisation über zwei Akkorde sein, was wohl kaum je eine Rockband präsentiert hat. Wer also Rockmusik mit ein bisschen Jazz-Improvisation erwartet, wird enttäuscht sein und hätte bestimmt mehr Freude an anderen Alben der Fusion Richtung als an "Bitches Brew". Davis gab seinen Mitmusikern meist nur eine Basslinie und ein oder zwei Akkorde vor und liess sie dann im Studio kreativ vor sich hin improvisieren. Davis hatte sein relativ freies Improvisationskonzept in den späten 50er und den 60er Jahren entwickelt, ausgebaut und schliesslich perfektioniert und wendete es auf "Bitches Brew" im elektronischen Kontext an. Das Resultat waren bis zu 26 Minuten lange, relativ frei interpretierte Stücke die keinem gängigen Schema folgten. Die Musiker auf "Bitches Brew" entwarfen ihre eigene Welt und die hatte herzlich wenig mit Rock im traditionellen Sinne zu tun. Hinzu kam, dass Davis auf den meisten Stücken alle Rhythmusinstrumente verdoppelte. Es spielten also zwei Schlagzeuger, zwei Pianisten und zwei Bassisten mit verschiedenen Solisten gegeneinander an, eine überbordende Masse an Instrumentalismus also.

Doch diese Musik war nicht etwa, auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag, irgendwie chaotisch. Sie folgte lediglich ihren ganz eigenen Regeln und einer internen Logik, in welcher Musiker anstelle irgendwelcher vorgefertigten Strukturen folgend, ihre Improvisationen in Bezug auf einander entwerfen. Das alles war bei "Bitches Brew" indes nicht radikal neu: Davis' Gruppen aus den 60er Jahren, wie auch John Coltrane's Band, von Ornette Coleman's Free Jazz mal ganz zu schweigen, hatten die Jazzimprovisation in diese Richtung schon weiterentwickelt. "Bitches Brew" war lediglich der nächste Schritt in dieser Entwicklung, allerdings einer der wichtigsten überhaupt, denn Vieles, was später in diesem musikalischen Berreich entstand, vor allem, als die Elektronik auch im Rock-Bereich Einzug hielt, zehrte von den elektronischen Ideen auf "Bitches Brew".

Auch war damals die Darbietungsweise neu: "Bitches Brew" machte vor allem durch die Besetzung mit Topmusikern, die auf elektronisch verstärkten Instrumenten zu hören waren, wie etwa Chick Corea, Herbie Hancock, Jack De Johnette, Tony Williams, John McLaughlin, Dave Holland und Ron Carter ungemeinen Druck. Über Basslinien und Schlagzeugrhythmen, die eher an James Brown als an die Beatles oder die Rolling Stones erinnerten, entfalteten die Musiker ein Kaleidoskop an Soundideen und spielten sich in Ekstase, um kurz darauf wieder zu ruhigeren Tönen zurückzukehren. Und über all dem thronte majestätisch Miles' Trompete in einer lyrisch-melancholischen Art, die mit den Exzessen der Band eine wunderbar eigensinnige Einheit bildete.

Man kann Miles Davis durchaus als den Jahrhundertmusiker des Jazz im 20. Jahrhundert bezeichnen, ein wahrhaftes Chamäleon, das sich immer wieder neu erfunden hat. Vergleichbar ist meiner Meinung nach in der Bildenden Kunst vielleicht am ehesten Picasso, der sich auch immer wieder neu erfunden hat und die Kunst des 20. Jahrhunderts umspannt. In ähnlicher Weise gilt dies für Miles Davis im Bereich des Jazz, ohne die Tatsache schmälern zu wollen, dass Picasso sicher ein Jahrtausendkünstler war, was ich so für Davis nicht in gleicher Weise behaupten will. Wenn ich es recht sehe, so sind es vor allem drei Alben, mit denen Davis Jazzgeschichte geschrieben hat und die in der Sammlung jedes Jazzliebhabers stehen sollten: als erstes "Birth Of The Cool" (1948), ein Album, das nach der Bop-Ära eine neue Epoche einleitete, dann "Kind Of Blue" (1959), das manche als das bedeutendstes Jazzalbum aller Zeiten bezeichnen, und schliesslich eben "Bitches Brew", mit dem Davis sich abermals neu erfand und das bei weitem mehr ist als ein Jazz-Rock-Album.

Seinerzeit irritierte "Bitches Brew" die Jazzwelt durch die "Elektrifizierung" des Jazz, besonders auch des Trompetensounds, etwa durch die Verwendung eines Wah Wah Pedals oder den Einsatz von klangverfremdenden Echo- oder Hall-Geräten. Sieht man das Album aus heutiger Perspektive, so ist klar, wie wegweisend, ja epochal es gewesen ist. Man muss es kennen, wenn es auch nicht so eingängig ist wie etwa "Kind Of Blue". Aber je öfter man es hört, umso mehr erschliessen sich dem Zuhörer seine inneren Strukturen. Das Konzept von "Bitches Brew" hat meiner Meinung nach auch einen Touch von Avantgarde. Für Jazz Rock Verhältnisse lässt Miles Davis seine Protagonisten sehr frei und ungestört improvisieren. Schon das erste Stück der Platte "Pharaoh's Dance" ist ein Musterbeispiel für technisch saubere und höchst kreative Spielweise. "Feio" ist für meine Ohren ein mit elektronischen Instrumenten gespielter Free Jazz und wirkt fast am anstrengendsten. Die Musiker bekamen lediglich eine Bass-Linie und durften dazu musizieren. Das Ergebnis ist ein dunkler, ungewisser Hauch des Geheimnisvollen, so wie alle Stücke des Albums, von denen vor allem auch "Sanctuary" und "Spanish Key" für mich persönlich zu den künstlerischen Höhepunkten zählen, auch wenn man kaum eine spezielle Nummer aus dem Werk herausstellen mag, da es vor allem in seiner Gesamtheit wirkt.

Für Fusion-Einsteiger würde ich "Bitches Brew" nicht empfehlen, zu kompliziert sind doch Melodien und Harmonie. Wer sich dennoch traut, der bekommt die wahrscheinlich besten Improvisationen John McLaughlins und von Miles Davis selber zu hören. Alle Musiker lassen zu jeder Sekunde des 106-minütigen Fusion Klassikers Talent, Spielfreude und Erfahrung erkennen. Wer sich die Zeit nimmt, kann in eine Welt eintauchen, die noch heute als exzeptionell bezeichnet werden kann. W
er an einer eingängigen Verschmelzung von Rock und Jazz interessiert ist, der ist hier falsch. Man muss sich wirklich intensiv mit "Bitches Brew" auseinandersetzen und Neuerungen gegenüber ziemlich offen sein, um diese Musik schön zu finden. Hat man aber erst einmal die ersten Hürden genommen, dann entfaltet sich einem eine wirklich wunderbare Klangwelt, die ihresgleichen sucht. Ein berauschendes Werk in jeder Hinsicht.







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