Nov 12, 2017


MELVINS - Electroretard (Man's Ruin Records MR2002, 2001)

Die Melvins wurden 1983 vom Sänger und Gitarristen Buzz Osborne, dem zukünftigen Mudhoney-Bassisten Matt Lukin und dem Schlagzeuger Mike Dillard, die allesamt zur High School in Montesano Washington gingen, in Aberdeen/Montesano, Washington gegründet. Am Anfang spielte die Band Coverversionen von Jimi Hendrix und The Who, später extrem schnellen Hardcore Punk Rock. In dieser Konstellation nahmen die Melvins ein Demo auf. Als Dillard die Band 1984 verliess, wurde er von Dale Crover am Schlagzeug ersetzt. Die Proben der Band fanden von nun an in Crovers Elternhaus in Aberdeen statt. Wenig später fingen die Melvins an, auch langsamere Lieder zu spielen. Das Resultat war eine Mischung aus Punkrock à la Flipper und Black Flag, Heavy Metal wie Black Sabbath's "Master Of Reality" und 70er Jahre Hard Rock im Stile von Kiss und Alice Cooper. Kurt Cobain, ein guter Freund von Dale Crover, war ein grosser Melvins-Fan und half der Band ein paar Mal beim Transport ihrer Ausrüstung. Cobain versuchte auch, sich der Band als Gitarrist anzuschliessen, scheiterte allerdings, weil er beim Vorspielen so nervös war, dass er alle Lieder vergass. Die Melvins waren 1985 zusammen mit Green River, Skin Yard, Malfunkshun, Soundgarden und den U-Men auf C/Z Records' "Deep Six"-Sampler zu hören und legten somit den Grundstein für das, was später als Grunge bezeichnet werden sollte. C/Z veröffentlichte auch 1986 die erste Melvins-EP: "Six Songs", die im Jahre 1990 als "10 Songs" wiederveröffentlicht werden sollte. Im Dezember 1986 nahm die Band ihr Debütalbum "Gluey Porch Treatments" auf, das 1987 auf Alchemy Records erschien.

Am 23. Januar 1988 half Crover bei Cobain's Band Nirvana während deren ersten Studio-Aufnahmen am Schlagzeug aus und spielte einen Auftritt mit Nirvana noch am selben Tag. Später im Jahre 1988 siedelten Osborne und Crover nach San Francisco um. Lukin blieb in Washington und gründete die Band Mudhoney, er wurde durch Shirley Temple's Tochter Lori 'Lorax' Black am Bass ersetzt. Im Mai 1989 wurde das zweite Album "Ozma" aufgenommen, das durch Boner Records noch im selben Jahr veröffentlicht wurde. "Ozma" wurde von Mark Deutrom produziert, der später auch Mitglied der Band werden sollte. Da Nirvana 1990 keinen festen Schlagzeuger hatten, sprang Crover für eine kurze Tour an der amerikanischen Westküste mit Sonic Youth wieder bei seinen alten Freunden ein. Glücklicherweise gab Osborne die Telefonnummer von Krist Novoselic an seinen guten Bekannten Dave Grohl, der nach der Auflösung von Scream arbeitslos geworden war. Nach den Arbeiten am Album "Bullhead" gingen die Melvins auf Europa-Tournee. Ihr Auftritt in Alzey am 23. Januar 1991 wurde von Produzent Tobby Holzinger auf dem deutschen Indielabel Your Choice Records veröffentlicht. Wieder zuhause angekommen wurde mit "Eggnog" noch eine kurze EP aufgenommen und veröffentlicht.

Lori Black verliess die Band und wurde durch Joe Preston ersetzt. Preston war auf "Salad Of A Thousand Delights" (1992, Box Dog Video) zu sehen, er hatte seine eigene, durch Kiss inspirierte Solo-EP (King Buzzo, Dale Crover und Joe Preston, alle 1992 Boner Records) und spielte auf "Lysol". Die EP "Lysol" wurde später in Melvins umbenannt, da der Produktname ohne Erlaubnis benutzt wurde und Band sowie Label rechtliche Schritte verhindern wollten. Es existierten drei Versionen der EP: die unveränderte Originalausgabe, die Originalausgabe mit schwarz abgeklebtem Lysol-Schriftzug und die Melvins-Version. Preston's Tage bei den Melvins waren bald darauf gezählt, Lori Black wurde als Bassistin auf dem von Kurt Cobain mitproduzierten Major Label-Debüt "Houdini", das im Jahre 1993 bei Atlantic Records erschien, erwähnt, laut Buzz Osborne hatten jedoch er und Dale Crover die meisten Bassparts eingespielt. Nach den Aufnahmen verliess Black die Band endgültig. Bass spielte von nun an Mark Deutrom. 1994 brachten die Melvins zwei Alben heraus: "Prick" auf Amphetamine Reptile Records und "Stoner Witch", das bei Atlantic Records erschien. Nach langen Tourneen, unter anderem gemeinsam mit Nirvana, den Nine Inch Nails, Rob Zombie und Kiss wurde 1996 mit "Stag" das letzte Album der später (von Atlantic) sogenannten 'Atlantic-Ära' veröffentlicht. Da die Musik der Melvins nicht gerade massenkompatibel war, wurden sie 1997 von Atlantic Records wegen Erfolglosigkeit fallen gelassen. Noch im selben Jahr erschienen mit "Singles 1-12" ein Sampler von 12 Singles. 1998 folgte mit "Alive At The F*ckerclub" ein Live-Album, das während der Australien-Tournee von 1997 in Richmond Melbourne entstand.

1999 begann die Zusammenarbeit mit Mike Pattons Ipecac Recordings, das 1999 die ersten beiden Teile der sogenannten 'Trilogie des Wahnsinns', bestehend aus den Alben "The Maggot" (1999), "The Bootlicker" (1999) und "The Crybaby" (2000), veröffentlichte. "The Crybaby" überraschte dabei mit vielen Gastmusikern, wie zum Beispiel von der Band Tool oder Hank Williams III. 2001 erschien dann ein wunderbares Werk der Melvins, das einige Ueberraschungen bot, wie man sie sich von den Melvins zwar gewohnt war, doch die Auswahl verblüffte. Neben einem Coversong der Wipers ("Youth Of America"), von dem viele Musikfans behaupteten, es wäre um Längen besser als das Original von Greg Sage und seinen Musikern, präsentierten die Melvins auch eine fast 10 Minuten lange Pink Floyd-Adaption des Titel "Interstellar Overdrive" vom Frühwerk "The Piper At The Gates Of Dawn". Der brilliant in Szene gesetzte Psychedelik-Rocksong verblüffte dabei mit einem harten und trocken arrangierten Beat, der dem Titel trotzdem seine urwüchsige Psychedelik von Syd Barrett nicht nahm und somit beide Welten perfekt abbildete: Der Psychedelikrock der ausgehenden 60er Jahre und der harte Punk Rock der 90er Jahre. "Electroretard" war eines der zugänglichsten Werke der Melvins, betrachtet man das Songmaterial. Das von Frank Kozik designete Cover-Artwork war typisch für die Melvins. Kozik lieferte auch immer wieder Cover Artworks für die Punk- und Grunge-Bands der damaligen Zeit, so etwa für Nirvana, Speacmen 3, Iggy & The Stooges, Kyuss oder Orange Goblin, nebst zahlreichen weiterne Bands und Musikern aus den verschiedensten musikalischen Bereichen.


Schon der Opener des Albums "Electroretard" mit dem Titel "Shit Storm" war Krach in seiner schönsten Form, doch danach dominierte über weite Strecken ein fetter, donnernder Space-Rock mit mächtigen Gitarren, entrückten Gesangslinien und zahlreichen noisigen Spielereien. Stilistisch irgendwo zwischen Primus und härteren Hawkwind angesiedelt, groovten die Melvins mal überraschend melodisch, mal gewohnt nervenbelastend durch einen abwechslungsreichen Set, der sogar den einen oder anderen Trash-Hit abwarf. Endgültig zur Höchstform lief die Band allerdings beim abschliessenden "Interstellar Overdrive" auf, wo diverse Pink Floyd-Riffs und -Sounds (unter anderem aus deren Stück "Corporal Clegg") zu einem grandiosen Science Fiction-Epos aufgebauscht wurden. Veröffentlichungen auf Frank Koziks Man’s-Ruin-Label hatten oft den Charakter des Intermezzo, erschienen zwischen den Hauptwerken, waren oft hingehuscht oder unbehauen. Und bei den Melvins fiel ja ohnehin zwischendurch immer mal wieder Ergötzliches ab, das sie dann auf Singles in Serie servierten oder eben wie beim Album "Electroretard" als einigermassen krude, dafür umso überraschende und begeisternde Zwischenmahlzeit kredenzten.

Die tiefe Verneigung vor den Wipers ("Youth Of America") stand dabei neben schrulligen, unterschwellig elektronisierten Versionen von "Revolve", "Tipping The Lion B" und "Lovely Butterflies"; auch "Gluey Porch Treatment" wurde rüde inszeniert, und ein apokalyptischer "Shit Storm" eröffnete diesen heiteren Reigen, der mit "Interstellar Overdrive" schliesslich seinen Hawkwind-inspirierten Abschluss fand. Ob die Melvins nach der konzeptionell einigermassen hanebüchenen, wenngleich natürlich musikalisch exzeptionellen und wie immer vergnüglichen Trilogie auf Mike Patton's Ipecac-Label überhaupt noch so etwas wie einen Masterplan hatten, darüber liess sich hier nur spekulieren. "Electroretard" war jedenfalls ein ebenso willkommener, wie überraschender und unberechenbarer Wegbegleiter zu Beginn der 00er Jahre.

Am 13. März 2012 veröffentlichten die Melvins die fünf Titel umfassende EP "The Bulls & The Bees", diese wurde kostenlos als Download über die Webseite des Labels Scion A/V vertrieben. Oft wird versucht, die Musik der Melvins in Schubladen wie unter anderem Grunge, Doom Metal oder Stoner Rock zu legen. Da nur wenige Aspekte der Melvins sich auf diese Genres beziehen lassen, obwohl die Band zweifellos Einfluss auf Künstler dieser Genres hatte, befinden sich die Melvins in ihrer eigenen kleinen Nische der Rockmusik. Kennzeichnend ist dabei vor allem ein extrem langsames Tempo, in dem eine Vielzahl der Melvins-Stücke gehalten sind, sowie eine nicht selten ins Groteske gesteigerte Experimentierfreude. So bestehen teilweise lange Passagen, zuweilen auch ganze Alben aus Drone-/Feedback-Sounds, beziehungsweise unmusikalischen Geräuschszenarien.



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