Apr 6, 2021


JEFFERSON STARSHIP - Earth (RCA Grunt Records BXL1-2515, 1978)

Als das Sternenschiff Anfang 1974 zu seinem Flug in die Stratosphäre aufbrach, tat es dies mit einigem Rock-Getöse, wovon Titel wie "Ride The Tiger" vom Erstling "Dragonfly" oder "I Want To See Another World" vom Megaseller "Red Octopus" (1975) kundeten. 1978 und drei Platten später war der Rock nicht mehr da. Das Sternenschiff schwebte nun sturmlos im Orbit und schaute hinunter auf den schönen blauen Planeten "Earth". Und schwelgerisch hörte sich das an, so enorm schwelgerisch. Man wäre gerne mitgeflogen und hätte sich diese traumhaft schöne Aussicht hinunter auf unseren Planeten gegönnt. Der Sountrack zu dieser Reise geriet unheimlich leicht, schwebend, unaufgeregt und vor allem: absolut rockfrei. Nun mögen viele Airplane-Fans denken: Das war's, jetzt spielt die Band Muzak, ja fast schon Fahrstuhlmusik, nahe an der Belanglosigkeit. Aber so einfach ist das dann doch nicht. Klar, hier wurde der legendäre Westcoast-Sound so leicht und unbeschwert wie nie zuvor von der Band gespielt, die in den 60er Jahrne einmal eines der bedeutendsten Aushängeschilder der Height Ashbury war. Aber erstens war das lange her und zweitens hatte sich die Popwelt grundlegend verändert. Ich würde meinen, dass "Earth" das Album war, das ganz einfach kommen musste, weil sich Jefferson Starship schon einige Jahre kontinuierlich in Richtung Westcoast Poprock entwickelt hatten.

Noch auf dem Vorgängeralbum "Spitfire" präsentierten sich Paul Kantner und Grace Slick leicht mystifiziert, wie man es seit vielen Jahren von ihnen kannte: "St. Charles" oder "Song To The Sun" waren da noch einmal sehr typische Beispiele. Auch davon war auf der 1978 erschienenen LP "Earth" nichts mehr vorhanden. Stattdessen hievten Jefferson Starship den Zuhörer gleich mit dem wundervollen Opener "Love Too Good" in einen musikalischen Himmel voller Geigen vermittels einem unglaublich schönen, laidbacken und grandios relaxten Sechsminüter. Das war das bislang wirklich entspannteste und trotzdem groovigste Stück, das Jefferson Starship bis dato präsentiert hatten. Dagegen klangen selbst die Doobie Brothers oder Steely Dan fast schon hölzern. Dieses fabelhafte Stück Relaxtsein darf man guten Gewissens in die besten Songs von Jefferson Starship einreihen. Gitarrist Craig Chaquico hatte das Stück komponiert, Gabriel Robles lieferte dazu die seidenweichen und herzerweichenden Lyrics. Robles ist ein grosses Fragezeichen, trotz intensiver Recherche fand ich nichts über den Mann heraus. Jedenfalls muss er ein grosses Herz haben, wenn er solch wunderschöne Texte schreiben kann.

Das nachfolgende "Count On Me" brachte die Band Jefferson Starship erneut in die Hitparaden, das Stück war eine ideale Vorlage für den Sänger Marty Balin, der hier wieder einen seiner immens einnehmenden Songs präsentierte. Diese Nummer war eine Fremdkomposition, geschrieben hatte sie Jesse Barish, der später auch noch den Titel "Hearts" für Marty Balin komponierte. Beide Songs erreichten den Rang 8 in den Charts. Für Jefferson Starship war dies ein erneuter Beweis dafür, dass sie noch immer sehr beliebt waren in den Staaten, und auch mit einem leicht veränderten, weicheren Poprock-Sound durchaus erfolgreich sein konnten. Jesse Barish schrieb auch eine weitere Nummer für das Album "Earth": Das wiederum von Marty Balin gesungene "Crazy Feelin'".

Grossartig konnte sich auch Grace Slick wieder in Szene setzen. Auf mindestens jedem Jefferson Starship-Album gibt es diesen einen, umwerfend tollen Song, der perfekt auf das ehemals sexiest Girl der Hippieszene zugeschnitten ist: "Be Young You" auf dem Album "Dragonfly", "Ai Garimasu (There Is Love)" auf der LP "Red Octopus", das sagenhaft schöne "Switchblade" auf der "Spitfire" Platte und hier die Nummer "Take Your Time", meines Erachtens die allerschönste der Grace Slick-eigenen Kompositionen überhaupt auf einem Jefferson Starship Werk. Mit "Show Yourself" lieferte die Sängerin allerdings gleich noch eine zweite Nummer auf diesem Album, die genauso eindrücklich ausfiel. Hier reflektierte sie ihre eigene Kindheit und sie tat dies aus einer wunderschönen, fast kindlichen Sichtweise. Grace Slick und Marty Balin verliessen Jefferson Starship nach diesem Album, worauf sich die Gruppe sowohl Leadgesang-technisch, aber auch musikalisch neu ausrichtete und ihrer Musik wieder einen rockigeren Touch verpassten. Für das 1979 erschienene Nachfolger-Werk "Freedom At Point Zero" holt sich die Band Mickey Thomas als Leadsänger. Ausserdem ersetzten sie den langjährigen Schlagzeuger John Barbata durch den bekannten Drummer Aynsley Dunbar.

Auch einen typischen Paul Kantner Song mit seinen jeweils ziemlich mystischen Songtexten kann man auf der LP "Earth" hören. Hier heisst dieser Titel "All Nite Long" und ist als Gemeinschaftswerk fast der gesamten Band deklariert. Hier präsentiert die Gruppe noch einmal jene unfassbar genialen mehrstimmigen Gesangsarrangements, mit welchen schon die Vorgängerband Jefferson Airplane in den 60er Jahren begeistern konnte. Mit dem beschwingt-relaxten Titel "Runaway", gesungen von Marty Balin, gelang der Band ein weiterer Single-Hit in den Charts, der fast so erfolgreich war wie die zuvor lancierte Auskopplung "Count On Me". "Runaway" erreichte Platz 12 in den Billboard Charts. Als dritte Single wurde dann noch "Crazy Feelin'" nachgereicht, der Titel schaffte es immerhin noch auf Rang 54 der US-Hitlisten als höchste Platzierung. Sowohl Grace Slick, wie auch Marty Balin strebten danach eine Solokarriere an, scheiterten aber letztlich, oder sagen wir es so: Beide konnten nicht annähernd den Erfolg ihrer angestammten Bands erreichen. Die Konsequenz war, dass Grace Slick schon bald darauf wieder mit an Bord stieg, wenn auch anfänglich erst als Gastsängerin (auf "Modern Times"), Marty Balin stiess dann später ebenfalls wieder dazu.

Noch ein paar Fakten: Das Album "Earth" erreichte in den USA Platz 5 in den Billboard Charts, verkaufte sich besser als zuvor "Spitfire". Die Gruppe absolvierte eine US- und Europatournee und geriet beinahe in eine handfeste Randale in Deutschland, als die Band sich weigerte, ohne Grace Slick aufzutreten, da diese erkrankt war. Das enttäuschte und rabiate Publikum zerstörte das Equipment der Gruppe, Gitarren und Verstärkeranlagen gingen zu Bruch, worauf Jefferson Starship dann noch zu einem Playback in einer deutschen TV-Sendung auftraten. Danach stieg Grace Slick unmittelbar aus der Band aus und flog zurück nach hause. Marty Balin blieb noch für einen Auftritt mit geliehenem Equipment am Knebworth Festival in England, wo Jefferson Starship sich mit Genesis die Stage teilten, quittierte anschliessend ebenfalls seinen Dienst. Zurück in den USA, schied kurz darauf auch der Schlagzeuger John Barbata aus der Band aus. Nicht ganz freiwillig allerdings: Er erlitt einen schweren Autounfall und wurde durch Aynsley Dunbar ersetzt.

Ich halte die Platte "Earth" bis heute für ein sträflich unterbewertetes Album. Natürlich sprechen die Verkaufszahlen für sich und ein toller fünfter Platz in den LP-Charts ist schliesslich für amerikanische Verhältnisse auch eine unglaublich grosse Leistung. Trotzdem hört man immer wieder, das Album wäre uninspiriert, seicht, ja langweilig. Es ist auch das Werk, das die meisten Jefferson Fans (Airplane wie Starship) nicht in ihrer Sammlung haben. Ich kann das nicht nachvollziehen. Klar: Rockmusik wird man hier kaum finden, aber de von Jefferson Starship 1974 eingeschlagene musikalische Weg fand hier in diesem letzten Werk in Originalbesetzung ihren Höhepunkt. Relaxter und sonniger klangen sie weder davor, noch je wieder danach, auch nicht, als sie sich 1989 unter dem Namen Jefferson Airplane wieder fast in Originalbesetzung zusammenfanden.



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