Dec 18, 2016

WESTERNHAGEN - In den Wahnsinn 
(Hallelujah Communications 5050466-1295-1-2, 2002)

Marius Müller-Westernhagen hat es in diesem Land nicht immer leicht gehabt. Zeitweise kam es mir so vor, als sei es allgemein angesagt, ihn und seine Alben teilweise nichtssagend, arrogant oder gar einfältig zu nennen und den Sänger und Künstler Westernhagen grundsätzlich in Grund und Boden zu werten. Ich habe das nie verstanden, denn ich halte Westernhagen für einen der besten deutschen Künstler, der manche Songs geschrieben hat, die ich auch heute noch als beste Stücke deutscher Poprock-Künstler sehen würde. Vier Jahre nach dem eher ruhigen Album "Radio Maria" liess es Westernhagen bei seinem 2002 veröffentlichten Werk "In den Wahnsinn" wieder ordentlich krachen. Das grossartige Album bestach durchwegs durch einen guten Sound, der für den Musiker Marius Müller-Westernhagen anno 2002 neu war. Daher erinnerte die Platte vielleicht ein wenig an "Das Herz eines Boxers", die damals ebenfalls mit einem neuen Sound aufwartete und auch nicht gut ankam, für mich aber auch zu den besten Veröffentlichungen des Musikers zählt.

Der Titel "Es ist an der Zeit" eröffnete das Album unerwartet rockig und sehr angriffig. Ein Song über Langeweile und die allseits bekannte Ich-Bezogenheit. Ein sehr gutes Statement. Zu dem Song gab es auch ein gelungenes Songvideo mit dem ein oder anderen damals angesagten Prominenten. In "Was du..." sang Westernhagen eine ergreifende Geschichte mit klarem persönlichem Bezug, etwas, das mich bei Westernhagen immer schon beeindruckt hatte: Viele seiner Songtexte erzählen seine eigenen erlebten Geschichten, die man ohne weiteres nachvollziehen kann und sich selber fast immer auch ein stückweit darin wiederfindet. Der auf dem Album zum damaligen Zeitpunkt allgegenwärtige Einfluss des Terrorangriffs von 9/11 war zum Beispiel auch hier spür- und hörbar. "Die Liebe lebt", wie alle Songs auf der Platte mit diesem klasse Sound, war ein Song der Hoffnung. Schon 1977 gab es mit "Träumer" auf Westernhagen's Werk "Ganz allein krieg ich's nicht hin" einen Song mit ähnlicher Thematik. Der Rocker "Böser Engel" war schliesslich ein schneller rockiger, mit irisch-folkiger Geige angereicherter Femme Fatale-Song.

Weiter ging es mit dem Stück "Rosen", das sich nunmehr ganz konkret mit den Anschlägen vom 11. September 2001 auseinandersetzte. Ein Text und eine Musik, die versuchten, das Unfassbare in Worte und Klang zu fassen. Der Song ist absolut beeindruckend und hinterlässt viele gemischte Gefühle. Das damals für weltweite Empörung sorgende Ereignis, das als 9/11 für immer in die Geschichte eingegangen ist, erzeugt auch in mir noch immer viele, auch widersprüchliche Gefühle. Der Titel "Rosen" ist ein Bild davon. Auch das folgende "Lichterloh" setzte sich abstrakt mit den Anschlägen und dem folgenden Krieg gegen den Terror auseinander. Ein beeindruckendes und gutes Stück zu einer schwierigen Problematik, bei der es meist keine klaren, eindeutigen Lösungen geben kann. "Genevieve" war ein leichtfüssiger Reggae, die alte "Alter Mann liebt junges Mädchen"-Geschichte. Ein netter, kurzer Song, der viel Leichtigkeit in das abwechslungsreiche Album brachte, und neben so schwerwiegenden Texten wie jenen zu Krieg und Terror sehr entspannend wirkte. "Nureyev" war dann erneut ein richtig cool rockender Popsong jener Machart, für die der Künstler Westernhagen schon seit jeher steht. Viele, ganz besonders seiner rockigen Stücke hatte schon oft dieses Arbeiterklasse-Feeling, das hier ebenfalls durchschimmerte. 

"Ein Blatt im Wind", präsentierte eine stimmungsvoll in Szene gesetzte Geschichte. Ein Lied über die Suche nach dem Ich, vor dem Bildschirm, in den unendlichen Weiten des Internets. Hier verloren die Bilder durch die unendliche Inflation der Reproduktionen ihre Bedeutung. Wer man war, dass da etwas war, all dies verlor an Bedeutung. Darüber handelte der Song für mich. "Wenn du glaubst" zeigte dann erneut einen eher schwierigen Text über den Glauben, die Zweifel, auch die eigene Selbstüberschätzung, grosse Erwartungen und grenzenlose Zuversicht. Ein Song über all die Dinge, die das Leben halt letztlich auch ausmachen. "Why Don`t You Say Your Name" ist dann der grosse, schreckliche Schock des Albums. Ein Albtraum voller Kotze, Sex, Gewalt und Blut. Der Wahnsinn im Albumtitel war jetzt auf gleicher Höhe. Fliehen war zwecklos mit den blutigen Füssen, man wurde überall erkannt. Also ab dafür wie ein Samurai, auf Wiedersehn. Irgendwann am Schluss des Songs konnte der Zuhörer noch kurz das Lachen registrieren, das man schon bei anderen Songs von Westernhagen gehört hat. Zum Abschluss folgte dann noch "Ist es das ?", eine atmosphärische, irgendwie abstrakt wirkende Nummer, die alles zusammenzufassen schien, dabei aberletztlich eher nur vage blieb.

"In den Wahnsinn" geriet zu einem sehr, sehr gutes Album. Schwächere Songs waren nicht auszumachen, vielleicht wären höchstens "Genevieve" und "Nureyev" verzichtbar gewesen, weil sie sich eher einer lieblichen Banalität bedienten als am kraftvollen und vor allem aussagekräftigen Beispiel der anderen Titel auf dem Werk. Aber vielleicht sollten diese beiden Songs auch genau diesen Kontrapunkt bilden, den ein Werk ja immer auch interessant und nachhaltig macht. Alle anderen Songs auf diesem Album sind aber absolut hervorragend geraten. Das gilt selbstverständlich und insbesondere auch für die Songtexte. Wenn man seit Jahren schon immer wieder vernehmen konnte, dass Westernhagen nicht mehr authentisch sei, dann trifft das meiner Meinung nach auf Westernhagen überhaupt nicht zu. Gute Musiker, die als Künstler ihre eigene Jugend überleben, sind letztendlich immer wie Schauspieler, die sich in andere Situationen hineinleben, aber als grosse Künstler immer auch etwas Eigenes mit einbringen. Und das gelang und gelingt Westernhagen nicht nur auf dieser Platte, sondern auch auf zahlreichen anderen Veröffentlichungen seit vielen vielen Jahren.

Nervig war die Image-Diskussion, die schon seit Langem anhielt und den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Songs des Albums, verstellte. Man erfuhr es durch unzählige Kommentare, dass zum Beispiel Grönemeyer's "Mensch" einen Künstler zeigen würde, welcher souverän seine echten Lebenkrisen meistertw, wohingegen Westernhagen der mimosenhafte Zyniker sei. Ich hielt solche Aussagen schon immer für höchst fragwürdig und nach eigenem Anhören von unzähligen Westernhagen Songs schlicht für unbegreiflich. Grönemeyer's Album "Mensch" war und ist ganz bestimmt sehr gut, die Platte ist ein grosses und sehr persönliches Werk. "In den Wahnsinn" ist dasselbe aber ebenfalls. Beide Platten bedienen verschiedene Stimmungen, sind also inhaltlich kaum vergleichbar. Dennoch zeigen beide Werke ehrliche Songs ehrlicher Künstler, die jederzeit nachvollziehbar und erlebbar sein. Wäre die Platte "In den Wahnsinn" etwa 1989 oder 1998 erschienen, wäre sie wahrscheinlich sowohl ein grosser kommerzieller als auch ein grosser künstlerischer Erfolg geworden. Und "Es ist an der Zeit" ist für mich nicht nur ein hervorragender Opener eines tollen Werks, sondern auch einer der besten Westernhagen-Songs überhaupt. Ich kann jedem die Platte nur empfehlen.






No comments:

Post a Comment