May 4, 2016


THE SEX PISTOLS - Never Mind The Bollocks, Here's The Sex Pistols 
(Virgin Records V 2086, 1977)

Die Revolte ging von einem Pappdeckel aus, ihre Parole klang weder neu noch originell, und ihre Hymnen waren nichts als lauter Rock’n’Roll, sehr schlicht und sehr schnell und ziemlich falsch gespielt. Doch ihre Wirkungen dauern bis heute an, und von den Folgen wurden auch jene berührt, die den Pappdeckel nie gesehen haben.“Never Mind The Bollocks“, so stand es auf dem Plattencover, in schwarz und gelb und einem grellen pink, das fast so ätzend wie Säure war. Ein paar englische Punks hatten sich den Slogan ausgedacht, der Künstler Jamie Reid hatte den Schriftzug entworfen – diese Botschaft hiess, behutsam übersetzt: „Vergesst die Wi.x.er“. Manche lasen das als Verzweiflungsschrei, manche gar als Kriegserklärung, als Kampfansage an die herrschende Unverbindlichkeit – und was die Sex Pistols damals wirklich sagen wollten, war im Grunde ganz egal: Die Farben reizten die Augen der Käufer, die Platte sah neu aus und versprach, neu zu klingen; das Publikum war bereit, den Musikern zu glauben. Und so kam es, dass ziemlich viele junge Menschen ziemlich schnell dafür sorgten, dass eine Aera zu Ende ging, und eine neue Epoche begann. Sie verhöhnten den dumpfen Gleichklang der faden Siebziger, sie erfanden das, was erst Punk und später New Wave hiess, sie brachten eine Bewegung in Gang, die noch heute teilweise das Lebensgefühl der westlichen Welt mitbestimmt. Das war anno 1977, in der alten Zeit, als das Vinyl noch geholfen hat. 

Heute hätten die Sex Pistols keine Chance mehr: Ihre Platte käme gleich als CD heraus, das Cover wäre ein Quadrat von 12 x 12 cm, und die böse Botschaft, auf so kleine Fläche reduziert, bliebe bloss ein Echo, ein Zitat ihrer selbst: Zu klein und schwach, als dass sie irgendwen verstören könnte. Never Mind The Sex Pistols: Hier kommt die grosse Gleichgültigkeit! Doch 60 Jahre nach der Einführung der Langspielplatte erleben die schönen schwarzen Scheiben nun, dank hartnäckig weiterbestehendem kleinen Fanbereich, eine wahre Renaissance.

Und deshalb gibt es diesen Meilenstein alternativer Lebensweise auch seit einiger Zeit wieder auf Vinyl zu kaufen, und das grosse gelbe Ding wirkt wieder so wie früher. Und wenn ich mir so überlege, ob sich all diese schönen Fantasy-Plattencover von Roger Dean, Rodney Matthews oder Patrick Woodroffe an einer leeren Wand gut machen, so fühle ich mich beim Anblick der Pistols-Scheibe wieder an früher erinnert, und wie toll diese Aufbruchstimmung damals doch war, und wie nachhaltig mich dieser primitive Musikstil doch geprägt hat. Und was das Allerschönste daran ist: Es genügt, den Menschen einen ebenso gürtellinien- wie zeitlosen Slogan vor’s Gesicht zu brettern, und aller Anspruch an Kunstformen oder Aesthetik kann sich im nullkommanix in Luft auflösen. 

Dabei spielt es auch heute noch keine Rolle, mit welchem Song, respektive mit welchem Geplärr man diese Schallplatte, die ganze Denkweisen verändern konnte, beginnen will: Der phänomenale Krach, der gezielte Faustschlag mitten in den guten Geschmack, trifft immer und tut den Geschmackssinnen so richtig schön weh: "Liar", "No Feelings", "Problems", "Bodies", "Pretty Vacant"...der ohrale Schmerz trägt verschiedene Namen. "God Save The Queen" - diese urbritische Hymne beinpisserischer Antikultur, oder "E.M.I.", der unmusikalische Gruss an die damlichste Plattenfirma der Welt, die nichts von den Pistols wissen wollte. Herrlich, wie sich diese Musik gewordenen Provokationen auch heute noch anhören. Und schliesslich der eigentliche Triumphzug, der Kriegsruf gegen den guten Geschmack und den kollektiven Intellekt "Anarchy In The U.K.", die englische Variante von "macht kaputt, was Euch kaputtmacht".

Ich für mich kann nur sagen: Wie wichtig war es, diesen gelebten Dilettantismus, diesen Mittenindiefresseklatsch gegen den guten Geschmack, gegen die mondäne Aesthetik und die Klotzigkeit eingebildeten Intellektualismusses miterlebt haben zu dürfen. Ich sehe dadurch die Bedeutung von Attributen wie 'qualitativ nachhaltig' oder 'anspruchsvoll' heute mit etwas anderen Augen. Der Punk hat mich letztlich gelehrt: Musik kommt nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch und vom Herzen. Aber das haben mir die Hüfte und die Pilzköpfe in den beiden Dekaden vor den Pistols schon geflüstert gehabt. Insofern war ich vorgewarnt.

Es tut einfach gut, zu wissen, dass Kunst nicht alleine durch den Intellekt bestimmt wird. Es ist vielleicht ein bisschen wie beim Möbelkauf in diesen kalten, riesigen "Idioten Kaufen Einfach Alles"-Tempeln: Entdecke die Möglichkeiten...auch wenn Du nix kannst: Ein Billy-Regal kannst Du zusammenbauen, respektive: Auch wenn Du nix kannst: Einen 3 Minuten-Punk kannst Du zusammenbauen, auch wenn Du nicht Billy heisst.









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