Feb 22, 2023


GRACIOUS - Gracious! (Vertigo Records 6360 002, 1970)

Gracious waren ein hervorragendes Beispiel für die Experimentierfreudigkeit und das sich konsequente Loslösen bekannter Songstrukturen aus der Beat- und Pop-Aera der 60er Jahre. Das schlicht "Gracious!" betitelte Debutalbum, präsentiert auf dem Vertigo Swirl Label im Jahre 1970, zeigte eine Band, die vor keinerlei stilistischen Grenzen Halt machte. So fanden sich einerseits stellenweise noch an die Beatles erinnernde mehrstimmige Vokalsätze, ausserdem noch da und dort vor allem durch die Gitarre eingestreute Bluestupfer, die noch vom Bluesrevival in England zeugten, doch Gracious marschierten konsequent vorwärts und orientierten sich eher am zeitgeistigen Sound etwa von Frank Zappa oder auch King Crimson und bauten vor allem in ihren Longtracks auch Jazzelemente ein. Doch noch war es nicht soweit, denn der Kern der späteren Gruppe Gracious bestand schon sehr viel länger und war in den 60er Jahren noch eher dem traditionellen Sixties Sound verpflichtet. Der Sänger Paul 'Sandy' Davis und der Gitarrist Alan Cowderoy gründeten zunächst die Gruppe The Disciples, noch während ihrer Schulzeit in Esher, Surrey. Davis war der Schlagzeuger und Sänger, Cowderoy spielte Gitarre; zwei weitere Schulfreunde spielten Bass und Rhythmusgitarre. Im Jahre 1968 stiessen Martin Kitcat und Mark Laird hinzu. Kitcat spielte ein Hohner Elektropiano und Laird übernahm neu den Bass. Paul Davis sang und spielte Schlagzeug gleichzeitig, doch mit einem weiteren Eintritt in die Gruppe in der Person des Robert Lipson, welcher den Platz am Schlagzeug einnahm, erlaubte es Davis schliesslich, die Position des Frontsängers einzunehmen.

The Disciples spielten einen durchaus eigenständigen Sound, waren aber vor allem von zeittypischen neuen Rockbands beeinflusst, so etwa von Cream und vor allem vom britischen Blues Revival, das ab 1966 in England viele neue Bands und Künstler ins Zentrum der britischen Musikszene setzte und so war es nicht verwunderlich, dass die Gruppe als erste professionelle Studioaufnahme einen Song von John Mayall wählte. Die Gruppe spielte 1968 auf einer Tour im Vorprogramm von The Who. Zu dem Zeitpunkt waren sie bereits ein grosses stückweit vom Blues abgewichen, gaben ihrem Sound einen etwas grösseren Pop-Appeal und konnten auch einen Plattenvertrag mit dem Produzenten Norrie Paramor an Land ziehen. Tom Rice nahm mit der Band einige hervorragende Demosongs auf, die jedoch leider bis auf zwei Songs, die für eine Single verwendet wurden, nicht veröffentlicht und erst im Jahre 1994 zugänglich gemacht wurden. Aufgenommen in London's Denmark Street Studio überraschten The Disciples mit einem eklektischen Mix mit von Vanilla Fudge inspirierten Rocksongs und Poprock-Titeln, die an die Moody Blues und die Beatles erinnerten. Es handelte sich dabei ausschliesslich um eigene Kompositionen aus der Feder von Davis und Kitcat. Die bei Polydor Records veröffentlichte Single "Beautiful" mit der B-Seite "Oh What A Lovely Rain" waren leider die einzigen beiden Songs, die es letztlich auf Vinyl schafften.


Die Gruppe änderte ihren Namen in Gracious und legten sich einen professionellen Manager zu: David Booth organisierte in der Folge einige Konzerte, unter anderem einen Auftritt als Vorgruppe bei King Crimson. Inzwischen besass Martin Kitcat ein Mellotron, und mit diesem Instrument veränderter sich ihr Sound noch einmal ziemlich radikal. Plötzlich sahen sich die Musiker in einem typischen frühprogressiven Art- und Classic Rock-Umfeld und ihr Auftritt gerade mit King Crimson wurde vielbeachtet und hinterliess Spuren. Der insgesamt dritte Auftritt unter neuem Bandnamen fand am 11. Juli 1969 im Mistrale Club in Beckenham statt. Auch King Crimeistung dieser neuen Band beeindruckt. Schlagzeuger Robert Lipson sagte später: "That changed our lives. Martin got a Mellotron and we were off!" 1969 tourten Gracious, noch immer ohne festen Plattenvertrag und somit ohne Album im Gepäck, während sechs Wochen durch Deutschland. Während dieser Tour stieg der Bassist Mark Laird aus der Band aus. Damit die Gruppe weiter auftreten konnte, übernahm spontan der Bandroadie und Fahrer Tim Wheatley seinen Platz. Er blieb daraufhin fest als Bassist in der Gruppe. Nach diesen Konzerten in Deutschland kehrte die Band nach England zurück, und war auch dort weiter unterwegs. Brian Shepherd, damals der Geschäftsführer vom erst kürzlich neu lancierten Philips-Ableger Vertigo Records, sah Gracious live, war ebenso fasziniert wie begeistert und bot den Musikern spontan einen Plattenvertrag an.

Das erste Album wurde in den Philips Records Studios in London, in der Nähe von Marble Arch, eingespielt. Gitarrist Alan Cowderoy erinnerte sich: "When we first went into the studio to record "The Dream", we genuinely expected to record it in small segments. However our producer Hugh Murphy insisted we play it in one take in the studio, and do any overdubs afterwards. The first album, although less mature than the second, had more direction and was more focused, although "Fugue In D Minor" was always an oddity". Womit wir mitten in den Songs des Debutalbums wären. Der Longtrack "The Dream" präsentierte mit seinen 17 Minuten Lauflänge eine stilistisch sehr unterschiedliche Suite, die einerseits recht psychedelisch klang, vor allem wegen der Mellotron- und Orgel-Verfremdungen, also eigentlich sehr experimentell, zeigte aber auch klar jazzige Elemente, und als wäre das noch nicht genug, konnte die Gruppe auch hervorragende Gesangslinien einflechten, die vor allem in den mehrstimmigen choralen Passagen, deutlich an die Beatles erinnerten. Noch stärker liessen sich diese beatlesken Gesangsharmonien im Opener "Introduction" vernehmen.

Obwohl auch die Gitarre immer wieder teils recht bluesige Soloeinlagen beisteuerte, war es vor allem der Organist Martin Kitcat, der auf dem Album die dominanten Akzente setzte. Sei es das Mellotron, das gerne klanglich verfälscht wurde, die manchmal arg verzerrte Rockorgel oder das nicht minder mit Distortion-Effekten verfremdete Elektropiano: Die Keyboards nahmen in den Kompositionen einen Hauptplatz ein, und nicht selten baute Kitcat Mellotron und Elektrikpiano gleichzeitig in die Songs ein, allerdings immer uch perfekt und akzentuiert gespielt und einander nie reibend oder behindernd. Vielleicht war dies aber auch angezeigt, denn Alan Cowderoy's Gitarrenspiel zeigte auf der anderen Seite relativ wenig Wandlungsfähigkeit, setzte zu oft auf bluesiges Spiel, auch wenn sich dieses wirklich brilliant anhörte und quasi den geerdeten Kontrapunkt zum teilweise etwas abgehobenen und omnipräsenten Keyboardsound bildete.

Das erste Stück "Introduction" präsentierte sich in einem von eingängigen Gesangslinien getragenen songorientierten Format und erhielt in Form von barocken Spinetteinlagen eine dezent klassische Einfärbung. Das expressive Gitarrensolo war dann überraschend bluesrockig gehalten. Mit dem nachfolgenden "Heaven" wurde allerdings eine symphonische Kehrtwende eingeleitet. Elegant in Szene gesetzte Tastenläufe in Form von Orgel, Mellotron und Klavier sorgten hier für einen erhabenen Charakter. Zwischenzeitlich stimmt e eine akustische Gitarre auch eine folkige Zweitmelodie an. Der Gesang mutete schliesslich wie eine Mixtur aus britischer Beat-Tradition und melodienseliger Westcoast-Herrlichkeit an. Im nachfolgenden "Hell" wurde die bis dahin gebotene Stilvielfalt auf die Spitze getrieben. Hierzu gehörte ein von der Hammond erzeugtes Klanggewitter, das von hardrockigen Gitarrenriffs in dramatische Dimensionen gerückt wurde. Als Kontrapunkt wirkte hier der im Mittelteil einsetzende, wiederum etwas beatleske Harmoniegesang recht abstrakt, holte dieses insgesamt aber sehr abgehobene psychedelische Stück auf den Boden herunter.

Mit der "Fugue In 'D' Minor" folgte ein Ausflug in die Musik der Renaissance. In dem Stück, das an Johann Sebastian Bach erinnerte, dominierte das Cembalo, begleitet von Bass und Gitarre. Das Album kulminierte schliesslich in der langen, bereits erwähnten Suite "The Dream", einer wunderbaren Kombination aus psychedelischen Gitarren und symphonischen Keyboards, immer wieder durchsetzt von schönen mehrstimmigen Gesangspassagen, sowie mittendrin einem winzigen Schnipsel aus der Beatles-Melodie von "Hey Jude". Insgesamt geriet "Gracious!" trotz einiger unausgeglichener Momente zu einem der interessantesten Beispiele für die Experimentierfreudigkeit des frühen Progressive Rock. Es gilt auch bis heute als eines der typischsten Alben, das auf dem Sammlerlabel Vertigo Swirl Records erschienen war. Die Gruppe spielte im Jahr darauf ein weiteres Album für das Mutterlabel Philips ein ("This Is Gracious!"), das viele Kritiker noch für etwas besser hielten als das Debutalbum. Die Gruppe selber zerfiel aber schon kurze Zeit später in seine Bestandteile. alan Cowderoy sagte zum Auseinanderbrechen der Gruppe: "Robert left first. We carried on with a new drummer (Chris Brayne), but the magic and camaraderie were dissolving. Martin was next to go". Das zum Quartett geschrumpfte Unternehmen Gracious spielte noch einmal Konzerte in Deutschland (im Sommer 1971), an welchen Paul Davis nunmehr sang und auch das Mellotron spielte. Nun gesellten sich auch noch Probleme bezüglich Geld und unterschiedlichen musikalischen Vorstellungen hinzu, worauf sich die Musiker schliesslich nicht mehr sahen, sondern nur noch direkt auf der Bühne an den Konzerten trafen.

Nachdem sich die Band kurze Zeit später aufgelöst hatte, verabschiedete sich der Schlagzeuger Robert Lipson vom Musikgeschäft. Ein letzter "Reunion"-Gig fand am 6. April 1972 im Marquee Club in London statt, danach war Feierabend. Alan cowderoy arbeitete danach für einige Plattenlabels, so beispielsweise bei Decca Records, Vertigo Records, Stiff Records, A&M undetlichen anderen, blieb dem Musikbusiness also letztlich treu, wenn auch nicht mehr als aktiver und professioneller Musiker. Der Keyboarder Martin Kitcat verkaufte sein gesamtes Equipment und wanderte nach Amerika aus. Der ehemalige Roadie und Fahrer, der Bassist Tim Wheatley, stieg bei der Gruppe Taggett ein und nahm mit dieser Band unter der Leitung des Produzenten Tony Hicks ein Album für EMI Records auf. Er eröffnete ein eigenes Tonstudio, half auch bei Sänger Paul Davis auf dessen Soloversuchen mit und blieb ebenfalls im produzierenden Bereich im Musikgeschäft hängen. Ebenso der Sänger Paul Davis, der später beim Musical Jesus Christ Superstar mitwirkte und mit Tim Rice weiter zusammenarbeitete, hauptsächlich als Session-Sänger. Bevor Davis schliesslich definitiv nach Deutschland umsiedelte, nahm er noch an einem Musikprojekt teil, an welchem auch der Keyboarder Bill Livsey, Rob Townsend und die Bläsergruppe aus Graham Parker's Begleitband The Rumour mitwirkten.

1995 trafen sich der Bassist Tim Wheatley und der Schlagzeuger Robert Lipson wieder und begannen mit den Arbeiten an einem neuen Gracious Album. ein japanisches Plattenlabel zeigte Interesse an einer Neuveröffentlichung, und so spielten die beiden Musiker zusammen mit Sev Lewkowicz (Keyboards, Gesang und Gitarre), Stuart Turner (Gitarre) und Richard Ashworth (Gesang) für die Plattenfirma Centaur Discs noch einmal ein Album ein. Zur Qualität und Zeitlosigkeit von Gracious' Debutalbums brachte es viele Jahre später ein Kritiker folgendermassen auf den Punkt: "This is one of those albums that does have some inconsistent moments and a rambling feel at times yet despite it all this is exactly what I like in music. It is adventurous, exciting, unpredictable and spontaneous. I enjoy the album from beginning to end and despite the awkwardness that occurs from time to time I simply don't find it detracts from the overall excitement of the album. The boldness and enthusiasm are what makes this for me. Certainly not a masterpiece but well worth having in any prog collection as one of those obscure additions that's worth checking out from time to time".







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