Aug 5, 2016


BIG SUGAR - Hemi-Vision (A&M Records 540 600 2, 1997)

Auch mal eine gewagte musikalische Mixtur: Blues, Alternative Rock und Dub Reggae. Unmöglich ? Mitnichten, eher unglaublich, und zwar gut. Bluesmusiker sind ja doch in der Regel eher Puristen, sind vielleicht mal bereit, sich anderer Musikstile zu bedienen, jedoch nie allzu weit von ihrer Musik abzuweichen. Doch die Gruppe Big Sugar wagte das eigentlich Unmögliche, und überraschte mit einem extrem interessanten Sound und mit einem 1997 veröffentlichten Album, das auch heute noch, fast 20 Jahre nach seinem Erscheinen, nichts von seiner Faszination verloren hat. Das Konzept, das die Band bei diesem Album anwendete, fand eigentlich keine Nachahmer, weshalb es noch heute so ziemlich einzigartig in der musikalischen Landschaft steht. Dabei war die Band zuvor alles andere als für seine Experimentierfreudigkeit bekannt. Big Sugar formierten sich im Jahre 1988 in Toronto Ontario (Kanada), bestanden aus dem Gitarristen und Sänger Gordie Johnson, dem Bassisten Terry Wilkins sowie dem Schlagzeuger Al Cross. Die drei Musiker spielten allerdings schon zuvor während längerer Zeit zusammen als Vorgruppe für Molly Johnson's Jazz Performances und als Jam Rock Band mit Mitgliedern des Bourbon Tabernacle Choir.

Molly Johnson brachte die Musik der Gruppe näher zum Rock und wechselte im Zuge dessen auch ihre Begleitmusiker aus. Sie half den neu gegründeten Big Sugar dabei, einen Plattenvertrag zu erhalten, was schliesslich zum Debutalbum, veröffentlicht im Jahre 1991 auf Hypnotic Records führte. Big Sugar überraschten darauf mit einer relativ breitgefächerten Auslegung ihrer eigenen Idee einer Bluesband, indem sie mit allerlei artfremden Elementen experimentierten, jedoch noch nicht ganz so faszinierend wie später dann beim dritten Album "Hemi-Vision". Anfangs spielte die Band noch eher einen traditionellen Bluesrock, der allerdings schon damals Grosses erwarten liess, da sich die Musiker doch immer wieder vor allem als grossartige Jam-Musiker zeigten, die sich nicht davor scheuten, den traditionellen 12-Bar Blues auszubauen und die ausgetrampelten 12-Takt Pfade zu verlassen. Daran arbeitete die Band seit ihrer Gründung bis ins Jahr 2004, als sie sich trennte und ab April 2010, nachdem sie wieder zusammenkam. 

Nachdem Bassist Terry Wilkins die Gruppe 1993 verliess, nahmen Big Sugar das Album "Five Hundred Pounds" mit Hilfe einiger Gastmusiker auf, unter anderem mit dem ausgezeichneten Mundharmonikaspieler und Tenorsaxophonisten Kelly Hoppe, auch unter seinem Pseudonym "Mr. Chill" bekannt. Hoppe brachte traditionellen Blues und Old School Rhythm'n'Blues in die Band und wurde zum offiziellen Mitglied der Gruppe im September 1994. Er sorgte später und vor allem auf dem tollen Album "Hemi-Vision" für die ungewöhnlichen instrumentalen Akzente auf der Mundharmonika und der Melodica. Im Juli 1994 gesellte sich mit Garry Lowe ein neuer Bassist zur Truppe. Lowe kam Mitte der 70er Jahre von Kingston Jamaica nach Kanada. Schon kurz nach seiner Ankunft in Toronto schuf er sich einen Namen als begehrter Tour-Bassist für diverse Reggae-Musiker. Lowe war eines der Gründungsmitglieder der in Kanada sehr erfolgreichen Reggae-Band CULTURE SHOCK. Gitarrist Gordie Johnson war schon damals sehr begeistert von Lowe's Qualitäten am Bass und freute sich sehr über den Einstieg von Lowe in seiner Band.

Big Sugar machte sich in Kanada vor allem als grossartige Live-Band einen Namen und die Platte "Five Hundred Pounds" wurde fleissig vom Publikum gekauft. Insgesamt konnte die Gruppe alleine in und um Toronto fast 10000 Stück verkaufen, und dies ohne grösserer Werbung oder Radio Airplay. Während dieser Zeit veröffentlichte Gordie Johnson nebenbei auch noch ein Album unter dem Namen DON'T TALK DANCE, zusammen mit Tyler Stewart von den bekannten BARENAKED LADIES und Chris Brown vom BOURBON TABERNACLE CHOIR. 1995 kamen zwei EP's auf den Markt: "Dear M.F.", das eine Coverversion des Traffic-Songs "Dear Mr. Fantasy" war, sowie die EP "Ride Like Hell". Danach drehte ischerneut das Personalkarrussell: Stich Wynston verliess die Band und wurde ersetzt durch Walter "Crash" Morgan. Während der Tournee im selben Jahr erlitt Morgan eine Herzattacke, kollabierte und starb mitten auf der Bühne während eines Auftritts in Iowa. Ein langjähriger Freund der Band, Raffa Dean, half bis zum Ende der Tournee aus und der ehemalige ODDS Gründer Paul Brennan sprang als neuer Schlagzeuger ein, welcher dann auf dem dritten und erfolgreichsten Album "Hemi-Vision" trommelte. 1996 erschien dieses prächtige und sehr vielseitige und clever produzierte Rockalbum, das vor allem auch von seinen dem Reggae angelehnten Dub-Elementen lebte.

Die Single-Auskopplung aus der "Hemi-Vision" LP mit dem Titel "Opem Up Baby" war vor allem einmal auffällig, weil die Gruppe diesen Song gleich in zwei verschiedenen Sprachen veröffentlichte: Als kanadische Band erschien die Nummer einerseits in englisch gesungen, mit dem Titel "Ouvres-Toi Bébé" aber auch in französisch, speziell für die Radiostationen in Quebec. Der Song erntete grosses Airplay und verfehlte seine Wirkung auch bei einem grossen Publikum nicht: Die Platte wurde weltweit veröffentlicht. Sie wurde während einer sechswöchigen Studioarbeit in den
Presence Studios und den Phase One Studios aufgenommen. Gordie Johnson sagte damals, dass dies das erste Album der Band gewesen sei, das mit einem adäquaten finanziellen Polster ausgestattet war seitens der Plattenfirma,  65000 kanadische Dollar standen für die komplette Aufnahme zur Verfügung; ein immer noch lächerlich kleiner Betrag, wenn man da so an die Budgets der grossen Stars denkt. Trotzdem klang das Album wesentlich besser als eine "Low Budget" Produktion. Die Songs waren druckvoll und atmosphärisch perfekt aufgenommen und abgemischt worden und klangen im Vergleich zu früheren Aufnahmen der Band um Längen besser und absolut professionell. 

Die Songs "Gone For Good", "Empty Head" und "If I Had My Way", "La Stralla" und "Skull King" waren auch kompositorisch ein Riesenschritt vorwärts; "Tired All The Time", das bilingual veröffentlichte Single-Stück "Opem Up Baby", "Tommy Johnson" und der Kracher "Diggin' A Hole" mit diesem tollen Megaphon-Gesangseffekt waren echte Perlen. Der Top-Track des Albums allerdings kam erst zum Schluss: "Tobacco Hand" war ein göttlicher Schleicher, ein düsterer geheimnisvoller Rocksong, der sich in seinem Verlauf in ein Dub-Muster verstrickt, aus dem der Titel nicht mehr herauskommt. Dazwischen brachiales Gitarrengewitter, eine mysteriös verhallte Mundharmonika mit echtem "Spiel mir das Lied vom Tod"-Feeling und insgesamt 9 Minuten lupenreine Dramatik. Die Platte wurde 1997 nominiert für einen Juno Award für das beste Rock Album des Jahres. Ausser dem bereits erwähnten "Opem Up Baby", das zweisprachig erschienen war, wurden als weitere Singles auch noch der Rocker "Diggin' A Hole", "If I Had My Way" und "Gone For Good" als 45er nachgereicht.

Uebrigens noch zum irgendwie mysteriös bezeichneten Titel "Opem Up Baby": Auf dem CD Cover wird der Titel "Opem" statt "Open" geschrieben, was sonderbar wirkt. Wenn man auf den Titel der französischen Version schaut: "Ouvres-Toi Bébé", dann müsste der Song in seiner englischen Fassung eigentlich "Open Up Baby" heissen. Es ist nicht bekannt, ob da wirklich ein Druckfehler vorlag, oder ob die Band das absichtlich falsch geschrieben hatte, denn auf der Band-Webseite wird das Stück ebenfalls als "Opem Up Baby" tituliert. Man kann also davon ausgehen, dass dieser mutmassliche Schreibfehler bewusst so gewählt war. Das passt ein bisschen zum ohnehin manchmal recht mystisch wirkenden Sound der Truppe.


Das nachfolgende Album "Heated" war 1998 noch wesentlich erfolgreicher, erhielt gar Platin in Kanada und ab 1999 spielten die beiden Musiker Johnson und Hoppe auch akustische Duo-Ggigs unter den Bezeichnungen LITTLE SUGAR und - noch sympathischer: TWO FOOLS ON STOOLS. Im Juli desselben Jahres trat die Gruppe Big Sugar auch auf dem reaktivierten Woodstock Festival auf. Im Folgejahr (2000), erschien unter dem Titel "Extra Long Life" ein reines Dub-Album, allerdings unter dem Bandnamen ALKALINE. Danach erschienen noch die Werke "Brothers and Sisters, Are You Ready ?" und eine 2 CDs umfassende Werkschau mit dem Titel "Hit & Run", die einerseits eine Kompilation ihrer bekanntesten und erfolgreichesten Songs bedeutete, auf einer zweiten CD aber auch noch ein Konzert der Gruppe präsentierte. 

Die Band Big Sugar, bekannt für ihre donnernden und hochdynamischen Konzertauftritte, stets ohne feste Setliste, spielten ihr letztes konzert am 31. Dezember 2003 im Shaw Conference Centre in Edmonton Alberta, bevor sie sich kurz darauf trennte. Gordie "Grady" Johnson gründete kurz darauf die Gruppe GRADY und trat später der Independent Rockband WIDE MOUTH MASON bei als deren Bassist. Kelly Hoppe gründete die Gruppe MR. CHILL & THE WITNESSES, eine Roots Music Band. Mojah und Garry Lowe gründeten ebenfalls zusammen eine neue Band mit dem Namen TRUTH AND RIGHTS REVUE, eine reine Reggae Band, mit der sie auch ein gleichnamiges Album veröffentlichten. Seit 2010 spielen Big Sugar wieder zusammen und veröffentlichten 2011 auch ein weiteres Studiowerk ("Revolution Per Minute"). 

Gordie Johnson hat sich in den vielen Jahren seines aktiven Musikschaffens auch einen Namen als Produzent, Mixer und Session Musiker gemacht. Er hat Alben und einzelne Songs unter anderem für Gov't Mule, Warren Haynes, Taj Mahal, Bushwick Bill, Toots Hibbert, Nashville Pussy, Wide Mouth Mason, The Trews, Joel Plaskett Emergency, The Respectables, Tim Chaisson, Len, The Ghost Wolves, Jungle Rockers, Reel Big Fish, Chris Duarte, John Ford, Chris Kirby und Meredith Shaw produziert. Als Musiker und Aufnahmeleiter war er ausserdem für Chris Robinson, Rich Robinson, Default, Honky, Len, Molly Johnson, Jonny Lang, Ashley MacIsaac, The Bourbon Tabernacle Choir, Big Rude Jake und viele weitere tätig. Als Mixdown Engineer hat er ausserdem Alben von The Black Crowes, den North Mississippi Allstars, Sarah Slean, Len, Molly Thomson and The Glorious Sons veredelt.







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