Nov 26, 2016


CHRIS REA – Blue Guitars (Ear Books 93840632, 2005) 

"Blue Guitars" nannte Chris Rea ein wirkliches Mammut-Werk, das der Musiker am 14. Oktober 2005 veröffentlicht hatte. Das opulente Werk war in Form eines Buches aufgebaut, welches elf CDs, eine DVD und Abzüge von Gemälden, die Rea angefertigt hatte, enthielt. Ebenso hatte Chris Rea jede Einzelne der elf CDs beschrieben und es waren die Songtexte zu allen Liedern in dem hochwertigen, gebundenen Buch abgedruckt. Chris Rea legte Wert darauf, dass diese Box keinem irgendwie gestalteten missionarischen Zweck in Sachen Blues diesen sollte, aber im Grunde hatte er ein so ähnliches Ziel mit dieser Grosstat praktisch erreicht. Der Ausgangspunkt dieses grossartigen Projekts war, den Blues in den wichtigsten und musikgeschichtlich relevantesten Schattierungen nachzuzeichnen, zusammenzufassen in einem einzigen Werk, um so zu verdeutlichen, wie sich der Blues aus verschiedensten ursprünglichen Quellen bis heute entwickelt hat. "Blue Guitars" war das letzte von fünf Blues-Projekten, welche Chris Rea nach der Heilung von seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs im Jahre 2002 begonnen hatte. Er veröffentlichte dieses ambitionierte Projekt, das die Geschichte der Blues-Musik von der Entstehung bis hin zu den 60er und 70er Jahren darstellen sollte, als ein Medienpaket, das er selbst als sogenanntes "Earbook" ("Ohrbuch") bezeichnete. Er gründete dazu eigens eine eigene Plattenfima, Jazzee Blue/EarBooks, nachdem seine ursprüngliche Plattenfirma ihn während seiner Erkrankung fallen gelassen hatte. Er nutzt den neuen Vertriebsweg, um sich von den Zwängen der Musikindustrie loszusagen.

Die elf Alben enthielten zusammen 137 Songs, die der Musiker zwischen 2004 und 2005 geschrieben und aufgenommen hatte. Inspiriert von Bill Wyman und dessen Buch "Blues Odyssey" machte der Sänger und Gitarrist sich bei diesem Album auf den eigenen Weg, um die Geschichte des Blues nachzuerzählen. Er begann bei den afrikanischen Wurzeln und ging bis zum modernen Blues und Bluesrock, dessen zeitgemässe Ausprägung noch heute aktuell ist. Dabei verwendeten Chris Rea und seine Mitmusiker fast durchwegs authentische Instrumente der jeweiligen Ära und auch die brandneuen Lieder versuchten die Themen zu bedienen, die in jener Zeit für den Blues prägend waren. Einige der mittlerweile sehr raren Elemente wurden extra für das Album angeschafft. So beschrieb Chris Rea in der Zeitschrift Classic Rock, dass sie für den Chicago-Teil ("Chicago Blues") das Studio so eingerichtet gerhabt hätten, wie es ein Muddy Waters oder ein Willie Dixon damals vorgefunden habe. Extra für die Aufnahmen wurden zwei äusserst seltene Verstärker der Marke Supra angeschafft, wie sie damals üblicherweise in den Tonstudios vorzufinden waren. Die Lieder selbst wurden weitestgehend live im Studio aufgezeichnet, wobei für jede CD etwa ein Monat Aufnahmezeit in Anspruch genommen wurde. In Deutschland wurde das Earbook sogar auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Das Projekt war auch kommerziell ziemlich erfolgreich, auch wenn es durch das ungewöhnliche Format erwartungsgemäss nicht in den Hitlisten auftauchte.

Lässt man einmal die wirklich schöne Aufmachung dieses Buches beiseite (was kaum geht, denn das ist ein echter Hingucker), und liest man das ganz beiläufig im hintersten Winkel des Buches geschriebene Kleingedruckte, dann liest man unter der Angabe der am Projekt beteiligten Musiker folgendes: Chris Rea: Schlagzeug, Bass, Balafon, Perkussionsinstrumente, Mandoline, Banjos, Calimbas, Dobro, Akustische Slide Gitarre, Mundharmonika, elektrische Gitarren, Bottleneck Slide Gitarre, Vibes, Klavier, Hammond Orgel und "Old Recordings" (Samples aus uralten Bluesmotiven). Zwar waren auch noch einige weitere Musiker mit dabei, aber das Meiste hatte Chris Rea selber eingespielt, und das ist doch beachtlich, denn eines stellte ich beim Anhören auch noch der letzten, elften Disc fest: die gebotene Musik verharrte auf gleichbleibend hohem musikalischen Niveau, zeigte immer wieder sehr viel authentischen Charakter, den man nicht einmal nur einem einzigen Künstler zugetraut hätte. 

Schon CD 1 mit dem Titel "Beginnings", dem afrikanischen Ur-Blues gewidmet, war eine einzige Versuchung der Sinne. Eine akustische Offenbarung, deren Authentizität mit letzter Konsequenz perfekt umgesetzt wurde. Hier hatte in der Tat ein Könner seinen Lebenstraum erfüllt. Dieses Album, welches am Anfang des Projektes stand, führte den Hörer auf den Schwarzen Kontinent, wo der Blues seine Wurzeln hat. Die Zeiten waren schwierig und die Sklaverei war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Viele Farbige wurden verkauft und auf andere Kontinente verschifft, oftmals verraten von ihren eigenen Leuten. Die Musik selbst hatte dabei wenig mit dem zu tun, was wir heute als Blues kennen. Die traurige und dunkle Grundstimmung jedoch war damals schon gegeben.

Ob mit "Country Blues", der dank dem unterlegten Vinylknistern und dem wattierten End-Mix an die originalen Schellackplatten etwa eines Jimmy Rogers erinnerte, oder der akustischen Reise den Mississippi hinunter ("Louisiana & New Orleans"): Immer hatte man während des Zuhörens das Gefühl, dass hier ein Mensch total mit seiner Musik verschmolzen ist: Fühlend, leidend, liebend. Die Südstaaten der USA hatten den wohl grössten Einfluss auf die Kultur der Sklaverei in jenen Zeiten. Als die Menschen aus Afrika dorthin verschifft wurden, begann ein regelrechtes Martyrium. Sie lebten in Angst, arbeiteten hart bis zum Umfallen und gewöhnten sich daran, keinen Wert in der Gesellschaft zu haben. So entstand der Country Blues, welcher musikalisch sehr an die Klänge der Südstaaten erinnert. Von Rassismus, Alkoholismus und der Suche nach einem besseren Leben sprechen zum Beispiel die Titel "KKK Blues", "Too Much Drinkin'" und "Ticket For Chicago". Gesellschaftliche Probleme begannen dem Blues ein neues Gesicht zu geben. Bei manchen Musikhistorikern existiert fälschlicherweise die Vorstellung, dass der Blues seinen Ursprung in Louisiana, New Orleans oder dem Mississippi Delta habe. Als die Musik aus Afrika in diese Gegend kam, wurde sie mit lokalen Instrumenten, zum Beispiel der Klarinette, verschiedenen Blechblasinstrumenten, dem Klavier, Banjo und Akkordeon vermischt und es entstand der charakteristische New Orleans Blues. Dieser wurde für viele moderne Blues-Musiker die Basis ihres Schaffens.

Spätestens bei CD 4 ("Electric Memphis Blues") erkannte man dann auch, dass Chris Rea nicht einfach nur stumpf irgendwelche Blues-Spezifikationen herunterleiern wollte, sondern auch thematisch (und geographisch) nie aus dem Ruder lief oder sich irgendwo in der eingeschlagenen Thematik verlor. Memphis klang genauso unangestrengt wie zuvor der "Country Blues", hatte aber einen kulturhistorisch differenten Hintergrund. In gut besuchten Bars war es manchmal ein Ding der Unmöglichkeit, gegen die Menge anzuspielen. Das änderte die elektronische Revolution in der Musik. Der Blues bekam neue Töne, Orgel, Keyboard und Gitarre wurden auf einmal elektronisch betrieben und ein neues Aufnahmezeitalter in den Tonstudios hatte begonnen. Chris Rea machte das im Lied "Electric Guitar" klar, in dem er sang: "Now I can play above the bar noise, Man I'm bigger than the crowd" (Jetzt kann ich lauter als der Krach in der Bar spielen, Mann, ich bin grösser als die Menge). Da wurde kein billiger Effekt gesucht, kein noch so plattes Klischee bedient, nein, hier fand Musik an der Basis des Lebens statt. So hatte Al Green den Soul-Blues seiner Heimat verstanden. Was für eine Liebeserklärung: "Got me an electric guitar - don’t she look so pretty ?" – Gänsehaut pur.

Die CD "Texas Blues" führte den Zuhörer weiter in die heisse, trockene Wüste, aber auch ins musikalische Grenzgebiet von Texmex, Border Radio und Tejano Roots. Der Blues bahnte sich seinen Weg in den sandigen, heissen wilden Westen, mit seinen endlosen Strassen und seiner brennenden Sonne. Die Musik bekam einen neuen Anstrich durch typische Instrumente, wie man sie in den Wüstenregionen der USA kannte, so etwa die Mundharmonika oder die Slide Gitarre, und es wurde so das Lebensgefühl des zweitgrössten US-Bundesstaates deutlich hervorgehoben. Auch das Migrationsproblem sprach Chris Rea in diesem Album an. Im Lied "The American Way" erzählte er die Geschichte eines illegalen Migranten, der versucht, den amerikanischen Traum zu leben. Wie man unschwer erkennen kann, hat gerade so ein Songthema bis heute seine Wichtigkeit nicht verloren und wirkt aktueller denn je.

Im Laufe der Zeit verlagerte sich das Leben immer mehr in die grossen Ballungszentren und die Menschen zogen aus dem Süden weiter in den Norden. Ganz besonders beliebt war dabei Chicago, eine aufstrebende, moderne Stadt, die viel Arbeit und Wohlstand versprach. Auch die Musik zog mit. Sie behielt als Basis den in Louisiana, New Orleans und Memphis geschaffenen Blues-Stil und vermischte sich dann mit Jazzklängen (vor allem dem Saxophon) was sie intensiver und rauer machte. Der "Chicago Blues" (wie die entsprechende CD auch betitelt ist) änderte auch den Schwerpunkt der Texte und fokussierte jetzt mehr Drogen, Sex, Alkohol und Obdachlosigkeit, aber auch die Hoffnungen einer neuen Generation auf ein besseres Leben, besungen zum Beispiel im Song "Chicago Morning". Die Monotonität eines John Lee Hooker traf hier voll auf die verhaltene Jazz-Virtuosität eines Bobby Broom, was ein einzigartiges musikalisches Gebräu, mit viel Mundharmonika ergab. "Chicago Blues" und die nächste Disc mit dem Titel "Blues Ballads" waren teilweise recht artverwandt, denn als das Klavier beim Blues eine immer vordergründigere Rolle einnahm, entstanden die Blues-Balladen, eine ganz ruhige und künstlich drapierte Unterart der einst wilden und regellosen Musikrichtung. Die Musik der zerbrochenen Leben wurde zur Musik der zerbrochenen Herzen. Die Fundamente des Blues aus der Vergangenheit bestanden jedoch weiterhin.

Jede Generation kreierte nahezu eigene Musikstile, die jedoch vielfach auf den klassischen basieren Ausdrucksformen und Elementen basierten. So nahm die Hippie-Bewegung den Blues, beliess ihm seine klassischen Elemente, veränderte jedoch leicht die Hauptinstrumente. Elektrische Gitarren und Banjos hatten nun den Vorrang und aus dem ehemals harten und kantigen Blues machten unter anderem die Künstler, die bei der Plattenfirma Tamla Motown aus Detroit unter Vertrag standen, ein weiches und angenehmes Hörvergnügen. Unter der Bezeichnung "Gospel Soul Blues & Motown" fasste Chris Rea diese praktisch ausschliesslich von Schwarzen Musikern gesungene und gespielte Art des elektrifizierten Blues zusammen: Eine Fundgrube rhythmisch und tanzbarer Kostbarkeiten, wie man sie bis heute pflegt und die bis heute erfolgreich geblieben ist. "Celtic & Irish Blues" wiederum erzählte eine ganz andere Geschichte, hatte aber ebenfalls historischen Hintergrund, einfach nicht in den USA, sondern in Europa, speziell in Irland. Der Blues bahnte sich seinen Weg durch viele Kulturen, so auch durch die der irischen und schottischen Einwanderer. Mit einer melancholischen Grundstimmung, für welche Schotten und Iren sehr bekannt sind, wurden ganz neue Perspektiven für den Blues und seine Entwicklung geschaffen. Traditionelle Instrumente der nordeuropäischen Immigranten fanden Platz und verpassten der Stilrichtung einen keltischen Anstrich.

Im Süden der Vereinigten Staaten wanderte der Blues nicht nur nordwärts in Richtung Chicago, sondern er kam auch nach Lateinamerika. Gleichzeitig brachten die afrikanischen Sklaven den Blues aus der Heimat nach Brasilien, wo er eine eigene Entwicklung durchlief. Es entstand eine Mischung aus Mississippi Blues, dem Bossa Nova und sogar dem Reggae. Doch anstatt von Texten, welche Sonne und gute Laune vermitteln sollten, waren die leitenden Themen in dieser Entwicklungsstufe des Blues eher dunkel und traurig. Davon zeugen die Titel auf der entsprechenden CD mit dem Titel "Latin Blues". Die Zeiten änderten sich immer wieder und überall, Generationen kamen, entwickelten sich und vergingen wieder, und auch der Blues durchlief im Laufe der Jahrzehnte eine deutliche Metamorphose. Nach 200-jähriger Entwicklungsgeschichte ging die Musikrichtung wieder zu ihren Wurzeln zurück. Man hörte wieder das Ursprüngliche, das Alte, heraus.

Vor allem durch die Flower Power-Bewegung zu Ende der 60er Jahre, aber auch mit dem Einsetzen zum Beispiel des sogenannten 'British Blues Revivals', von Grossbritannien ebenso ausgehend wie von den USA etwa durch Musiker wie Alexis Korner oder John Mayall, bekam der Blues neue Elemente, was ihm ein neues Gesicht verschaffte. Die Hippies versahen ihn mit dem Lebensgefühl ihrer Generation und wollten, durch die nicht veränderte Basis, den Vorgängern dieser Musikrichtung ihren Respekt zollen. Diese CD beschloss Chris Rea's Projekt der Blueshistorie, und er zollte darauf speziell den heute bereits zu Legenden gewordenen Musikern und Bands wie den Yardbirds, Them oder John Mayall's Bluesbreakers seinen Tribut. Dieser spezielle und grösstenteils elektrifizierte Bluesrock, den Jimi Hendrix schliesslich zum eklektischen Bluesrock werden liess, fand sich zusammengefasst auf der elften CD "60's & 70's", dem chronologischen Schlusspunkt auf diesem ebenso umfangreichen wie märchenhaften Musikprojekt.

Dem 11 CD's umfassenden Ear Book war auch eine DVD als kleines Extra beigelegt worden, welche den Entstehungsprozess von Rea's Album „Dancing Down The Stony Road“ aus dem Jahre 2002 zeigte. In dem Film erzählte der Musiker über seine schwere Krebskrankheit und auch von seinem Wunsch, ein allumfassendes und quasi ultimatives Bluesalbum zu produzieren. Interviews mit den Bandmitgliedern gaben zahlreiche beeindruckende Aufschlüsse über die Inangriffnahme und die Ausführung dieses ehrgeizigen Projekts und zeichnete den Produktionsprozess des Albums vom Songschreiben bis hin zur Aufnahme nach. Der Musiker Chris Rea hat sich mit diesem Werk selbst ein Denkmal gesetzt. So etwas hat es zuvor nie gegeben, und ein Werk solchen Umfangs wird es wohl auch nicht mehr geben. Unglaublich, mit welcher Hingabe und Kompetenz Chris Rea dieses ehrgeizige Projekt umgesetzt hat. Die optische Aufmachung er Box ist ebenfalls beeindruckend: Auf insgesamt 76 Seiten zeigt Chris Rea nicht weniger als dreissig seiner Gemälde, deren bevorzugter Mittelpunkt stets die Gitarre darstellt. Ausserdem sind in dem Buch sämtliche Texte der 137 Songs nachzulesen, und schliesslich präsentiert der Künstler auch noch Fotos all seiner Gitarren-Modelle, die er bei diesem Projekt zum Einsatz gebracht hat. Ein Traum in Blues.



















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