Nov 7, 2016

NATALIE MERCHANT - Leave Your Sleep (Nonesuch Records 522304-2, 2010)

Nach sieben Jahren kehrte Natalie Merchant in ein Tonstudio zurück und veröffentlichte ein Album, das einen Höhepunkt ihrer Karriere markierte. Mit über 130 Musikern vertonte sie sechs Jahre lang Gedichte, die sich mit dem Thema Kindheit auseinandersetzen.

"Ich konnte keine eigenen Songs mehr schreiben", entgegnete Natalie Merchant in einem Interview, auf die Frage, warum sie auf ihrem Studioalbum "Leave Your Sleep" Gedichte vertont. "Um eigene Songs zu schreiben, hätte ich mich abkapseln und komplett von der Welt zurückziehen müssen und in meiner derzeitigen Situation war das vollkommen unmöglich", verriet sie dem Musikmagazin Rolling Stone. Mit den Worten "derzeitigen Situation" sprach die 1963 in Jamestown (New York) geborene Sängerin von ihrer Tochter, die 2003 zur Welt kam. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihr letztes Album mit regulären Studioaufnahmen "The House Carpenter's Daughter", auf welchem sie bekannte Traditionals und Songs aus der damals aktuellen Folk-Szene coverte. Ursprünglich habe sie mit dem Projekt "Leave Your Sleep" ein Album mit Kinderliedern veröffentlichen wollen. Schnell verwarf sie jedoch diesen Gedanken und begann die sechsjährige Arbeit an dem Mammut-Werk. Letztendlich wich Merchant jedoch nicht weit von ihrer ersten Idee ab: Anstatt ein Album für Kinder zu machen, produzierte sie ein Album über Kinder.


Sie selbst nannte dieses Projekt ihr aufwändigstes und persönlichstes Werk: Insgesamt 26 Gedichte des frühen 20. Jahrhunderts, die sich mit dem Thema der Kindheit beschäftigen, fanden sich schliesslich auf dem als Doppelalbum erschienenen Werk zusammen. Dabei beschränkte sich die Künstlerin nicht auf bekannte Lyriker, sondern suchte gezielt nach Gedichten, die zu ihrem Konzept passten. So beinhaltete die umfangreiche Veröffentlichung unter anderem Werke von Robert Louis Stevenson, Edward Lear, Christina Rossetti, Robert Graves und Ogden Nash. "Zunächst hatte ich geplant, ein Album mit Wiegen- und Kinderliedern aufzunehmen, doch dann fragte mich meine Tochter eines Tages, was mit den Menschen passiere, wenn sie sterben würden. Ich beschloss, ihr diese und andere Fragen musikalisch zu erklären", erzählte Natalie Merchant gegenüber dem Billboard-Magazine. So war geplant, das Album zunächst in zwei Teilen zu veröffentlichen, die in einem Abstand von einem halben Jahr erscheinen sollten. Das Management riet jedoch davon ab, da auf diese Weise das Konzept des Albums leiden könnte.

Die folgenden fünf Jahre scharte die ehemalige Sängerin der Gruppe 10.000 Maniacs über 130 Musiker aus der Umgebung New Yorks um sich und nahm das Album ausschliesslich in Live-Sessions auf. Dabei arbeitete sie mit bekannten Ensembles wie dem Wynton Marsalis Quintett, den New Yorker Philharmonikern und dem Chinese Music Ensemble Of New York zusammen. Merchant blickte am Ende zufrieden auf diese Zeit zurück. Es habe sie ungemein inspiriert, mit diesen grossartigen Musikern zusammenzuarbeiten, verriet sie in einem Interview.

"Leave your Sleep" zeichnete sich besonders durch seine Vielschichtigkeit aus: Es gab keine einheitliche Musikgattung, der man das Album hätte zuordnen können. In diesem Fall verhielt sich Pop zu Country etwa so wie Blues Rock zu chinesischer Volksmusik. "Wir wollten einen frischen, facettenreichen Sound kreieren, um zu zeigen, wie vielschichtig die Kindheit sein kann", erklärte Co-Produzent Andres Levin. Beiden war es gelungen, ein breites Spektrum an unterschiedlichsten Musikstilen zusammenzustellen. Besonders fiel jedoch auf, dass Merchant auf diesem Album einen Hang zur irischen Folk Musik entwickelt hatte. So klang es bei dem treibenden "Calico Pie", dem friedlichen "Sleepy Giant" oder dem schunkelnden "Adventures Of Isabel" wie in einem irischen Pub, wo das Guinness in Strömen fliesst. Durch die reine musikalische Vielfalt erreichte sie eine Gegenüberstellung von unterschiedlichsten Eindrücken. So prallten exotische Klänge wie etwa die in "King Of China's Daughter" oder das mit indianischen Klängen angehauchte "Indian Names" mit dem souligen "The Peppery Man" aufeinander. Und der Pop Song "Griselda" sah sich dem erdigen Blues "Janitor's Boy" gegenüber, wenn Natalie Merchant "Oh I'm in love with the Janitor's boy, and the Janitor's boy loves me" ins Mikrophon hauchte. Allein das unbeholfene "Topsyturvey-World" ging in endloser Banalität aus Karibik-Percussion und zu lustig gezupften Mandolinen unter.

Besonders hervorzuheben waren die Jazz-Nummer "The Blind Men And The Elephant", die sich durch erstklassige Musiker und intelligente Instrumentierung auszeichnete, die dem Stück eine Mitt-50er Patina verlieh, wie sie authentischer kaum hätte sein können, sowie die in jenseitige Harmonien gekleidete Ballade "Spring And Fall: To A Young Child", die einem Kind den Tod eines Familienmitgliedes erklären sollte. Wehmütig sang Merchant: "Ah! As the heart grows older, It will come to such sights colder. By and by, nor spare a sigh, though worlds of wanwood leafmeal lie".

Das sich über 100 Minuten erstreckende Konzeptwerk geriet zu einem eigentlichen Spiegel der Kindheit. Es malte ein gestochen scharfes Bild von Erfahrungen und Eindrücken, die Kinder in der Welt sammeln: Freude, Einsamkeit, Liebe und Tod. Für Merchant war der Aspekt der ersten Liebe besonders wichtig. "Mein persönlicher Favorit auf der Platte ist 'Janitor's Boy'. Das Gedicht schrieb Nathalia Crane, als sie zehn Jahre alt war. Ich bin fasziniert von der Leidenschaft in diesem Werk", so die Sängerin. Auf ihrem fünften Solo-Album und gleichzeitig ihrem Debut beim Plattenlabel Nonesuch Records führte sie all diese Fäden zusammen und bescherte damit dem Hörer eines ihrer herausragendsten Werke, wenn nicht sogar ihr Bestes. "Mit diesem Album habe ich mir einen grossen Traum erfüllt und ich bin glücklich, ihn mit der Welt zu teilen", erklärte die Künstlerin in einem Interview.

Was zunächst als einzelne Schlaflieder, die Natalie Merchant für ihre kleine Tochter komponierte, begann, wurde zunehmend zu einem riesigen Projekt. Laut der Künstlerin dem grössten musikalischen Abenteuer, das sie bis dato eingegangen war und wohl nie wieder eingehen würde. Neben der qualitativ absolut hochklassigen 26 Songs überzeugte auch die optische Aufmachung des Werks. In der Buchform in einen Schuber gesteckt, bot die Doppel-CD ein 80-seitiges Hardcover-Buch, in welches einerseits Natalie Merchant's Erklärungen zum Werk geschrieben waren, andererseits auch die entsprechenden Gedichte, die Merchant vertonte. Doch nicht nur das: Jedem Songtext war ein Bild des originalen Verfassers hinzugefügt worden, sowie eine kurze Biographie der Schriftsteller(innen), was das Gesamtwerk natürlich noch zusätzlich opulent erscheinen liess, in seiner dadurch entstandenen Komplettheit allerdings erst recht zu einem bis ins Detail liebevoll gestalteten Konzeptwerk erstrahlen liess.










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