Jun 20, 2017

CONCRETE BLONDE - Bloodletting (I.R.S. Records EIRSA1028, 1990)

Ich bin fest davon überzeugt, dass es Platten gibt, die einem irgendwann im Leben begegnen wollen. Zu diesen gehört - spät, aber nicht zu spät - eindeutig "Bloodletting" (zu deutsch 'Aderlass') von Concrete Blonde, einer Band aus Los Angeles, deren einziger grösserer Erfolg in ihrem Heimatland eben dieses Album (Platz 49 der Billboard-Charts) und die daraus ausgekoppelte Single "Joey" (Platz 19) wurde. Ihr erstes Album "Concrete Blonde" erschien 1986 und ihr bis dahin letztes, "Mexican Moon" 1993. Anfang der 2000er Jahre kamen sie noch einmal zusammen und rockten danach bis heute weiter. Die eindeutige Chefin von Concrete Blonde war und ist Johnette Napolitano (geboren 1957), Leadsängerin, Bassistin und Songschreiberin. Der fabelhafte Gitarrist James Mankey begleitete sie von Anfang an. Schlagzeuger Harry Rushakoff wurde wegen seiner Drogenabhängigkeit für die Aufnahmen zu "Bloodletting" von dem ehemaligen Roxy Music-Schlagzeuger Paul Thompson ersetzt.

"Bloodletting" präsentierte zehn Songs, von denen keiner wie der andere klang, und die zusammen doch eine faszinierende Einheit ergaben. Ko-Produzent Chris Tsangarides (Judas Priest, Thin Lizzy, Gary Moore, Killing Joke, Japan, Depeche Mode und viele andere) gelang es, die Stärken des Trios auf einzigartige Weise hervorzuheben, und zwar insbesondere die Stimme von Johnette Napolitano, deren Fähigkeiten vom sanften Hauchen bis hin zu heiserem Fauchen er grossartig in Szene setze, ihr glasklares Bass-Spiel und die in jedem Song aufs neue begeisternden Fähigkeiten von Gitarrist Mankey. Nach dem glam-rockenden Auftakt und Titelsong "Bloodletting (The Vampyre Song)", der ein wenig an T. Rex um 1972 herum erinnerte, und dem fast punkig-schnellen "The Sky Is A Poisenous Garden" folgte mit "Caroline" ein unfassbarer Ohrwurm, der sich sehr gut auf Fleetwood Mac's legendärem Album "Rumours" hätte befinden können. Obwohl als Single veröffentlicht, hatte der seinerzeit jedoch keinerlei Erfolg. Das ebenso herzergreifende "Darkening Of The Light" war ebenfalls ein Geniestreich, auf welchem der Musiker Peter Buck von R.E.M. die Mandoline spielte.

Das schleichende "I Don't Need A Hero" schloss sich fast nahtlos an, während "Days And Days" an eine Mischung aus R.E.M., Patti Smith und 'Til Tuesday um die grossartige Aimee Mann erinnerte. "The Beast" rockte gradlinig und eingängig im Stil der Gruppe Heart in den späten 70er Jahren, und "Lullabye" hätte wiederum 'Til Tuesday zur Ehre gereicht. Der Ohrwurm "Joey" war, wie erwähnt, ein Top 20 Hit in den USA und hätte weltweiten Erfolg verdient gehabt, doch trotz seines Einsatzes in dem Schimanski-Film 'Zabou' sollte es auch in Deutschland irgendwie nicht sein. Das abschliessende, tragische "Tomorrow, Wendy", das von einem Mädchen handele, welches an AIDS starb, war die einzige Fremdkomposition des Albums, geschrieben von Andy Preboy (ehemals Wall Of Voodoo). Napolitano interpretierte diesen Song auf unvergleichlich beeindruckende Weise. Das einerseits äusserst sensible, andererseits rockende, streckenweise zwischen den Lautsprecherkanälen hin- und her pendelnde Gitarrenspiel von James Mankey verstärkte die Wirkung dieser Nummer noch um ein vielfaches.

Auf "Bloodletting" fügte sich für Concrete Blonde alles zueinander; es war gleichsam ihr persönliches "Rumours" und hätte es verdient gehabt, zu einem der ganz grossen Alben der Rockgeschichte zu werden. Nummern wie "Caroline", "Darkening Of The Light", "Joey" und "Tomorrow, Wendy" kann man sich immer wieder anhören, ohne jemals genug davon zu bekommen. Warum diese Songs nicht längst im ewigen Gedächtnis der Musikgeschichte lagern, kann man im Grunde nicht nachvollziehen. Selbstverständlich gab es auch auf ihren anderen Alben den einen oder anderen grossartigen Titel, doch mit "Bloodletting" ergriffen Concrete Blonde einmalig den Rockzipfel der Unsterblichkeit. Nur weiss leider kaum jemand davon. Künstlerschicksal.

"Bloodletting" war das dritte Album der US-amerikanischen Alternative Rock Band. Insbesondere die Songtexte zeichneten für einen gehörigen Gothic-Einschlag verantwortlich. Dank der Radioeinsätze des Songs "Joey" wurde "Bloodletting" letztlich zum erfolgreichsten Album von Concrete Blonde. Der kleine Hit vermochte es aber nicht, der Gruppe zum nachhaltigen Durchbruch zu verhelfen. An den Aufnahmen wirkte wie bereits erwähnt Andy Prieboy von der befreundeten Gruppe Wall Of Voodoo mit, indem er seine eigene Komposition "Tomorrow, Wendy" auf dem Keyboard begleitete. Ebenfalls eine befreundete Gruppe war Dream Syndicate, deren Kopf Steve Wynn beim Refrain des Titelsongs unterstützend mitsang. 1988 hatte Napolitano mit ihm zusammen den Song "I Have Faith" für das Dream Syndicate Album "Ghost Stories" geschrieben. Die freundschaftlichen Beziehungen zu R.E.M. trugen doppelt Früchte, denn bei "Darkening Of The Light" spielte der auf Saiteninstrumente mit Griffbrett spezialisierte Peter Buck die Mandoline und der neben seiner Hauptaufgabe als Produzent (zum Beispiel für R.E.M.) auch als Musiker tätige John Keane (u.a. Widespread Panic) die Slide Guitar. "Tomorrow, Wendy" verzeichnete ausserdem Bass Credits für Gail Ann Dorsey, welche viele Jahre für David Bowie arbeitete und drei Soloplatten veröffentlichte.

"Bloodletting" tauchte in der Thrash-, Death-, Doom- und Black Metal- sowie Gothic-Szene häufig als Album- bzw. Songtitel auf, den Concrete Blonde Song hatten jedoch nur Massacre und Saints Of Ruin gecovert. Die 1991er CD-Single enthielt neben einer für die Radioverwertung geeigneten "Short Version" auch die sechsminütige Albumversion und um eine weitere Minute gestreckte Versionen in Französisch und Deutsch. Die Übersetzungen liess Napolitano nicht von Muttersprachlern anfertigen, was zu einigen Fehlern führte. Ihr Faible für andere Sprachen würde Napolitano auf "Mexican Moon" 1993 zu noch gravierenderen Spanisch-Schnitzern verleiten. Zum weltweiten Achtungserfolg geriet einzig die erste Single-Auskopplung "Joey". Kevin Devine coverte das Lied im Jahre 2007. Napolitano schrieb den Text über eine Liebe, die am Alkohol zu zerbrechen droht, im Taxi auf dem Weg ins Studio zu Ende.

Die fünf Monate nach "Joey" in allen möglichen Formaten nachgeschossene zweite Single "Caroline" erfüllte die Erwartungen nicht. Die Single erschien mit "Days And Days" auf der B-Seite, die 12″-Single zusätzlich mit einer Live-Aufnahme des älteren Stücks "Roses Grow", die CD-Variante nochmals erweitert um Live-Mitschnitte von "The Sky Is A Poisonous Garden" und "Tomorrow, Wendy" sowie das bereits für die "God Is A Bullet" Vinyl-Maxi verwendete Jimi Hendrix Cover "Little Wing". Alle diese Aufnahmen bereicherten im Jahre 2010 die Wiederveröffentlichung des Albums als Bonustracks. An der Entstehung von "The Sky Is A Poisonous Garden" war das Wall Of Voodoo-Mitglied Bruce Moreland beteiligt. Inwieweit dessen überwundene Drogensucht den Songtext beeinflusst hatte, liess sich nicht mit Sicherheit sagen, weil darin kein Grund für das Sterben der weiblichen Hauptperson ausgesprochen wurde. Andy Prieboy beschrieb in "Tomorrow, Wendy" eine reale Begebenheit aus seinem Bekanntenkreis: Eine Prostituierte nahm sich aus Angst vor Aids das Leben. Er fragte Napolitano, ob sie das Stück mit ihm für sein Soloalbum im Duett singen wolle. Ihr gefiel es derart gut, dass sie es auch für "Bloodletting" aufnahm. Angesichts dieser Parallelveröffentlichung, noch dazu unter gegenseiter Mitwirkung, wäre eine Etikettierung mit Coverversion unangemessen.

Die als introvertiert geltende Johnette Napolitano verfiel traurigen, düsteren, hoffnungslosen Inhalten. Sie bekannte seinerzeit, das Album habe eine trübe Stimmung. Und als sie ihr persönliches Tief überwunden zu haben glaubte, gestand sie sogar, der Vorwurf, es handle sich um 'Suicide Music' (Selbstmord-Musik) sei berechtigt gewesen. Napolitanos Seelenleid drückte am eindringlichsten der Song "The Beast" aus. An einer gescheiterten Liebesbeziehung nagend, bezeichnete sie darin die Liebe als Blutegel, Vampir und eine Herzen herausreissende Bestie, des Weiteren als quälenden Wahnsinn, sich als Freund ausgebenden Killer und als Monster aus der Dunkelheit. Das Plattencover unterstützte diese düstere Stimmung perfekt: Vor schwarzem Hintergrund war ein Strauss roter Rosen abgebildet. Eine weisse Rose war darunter, zwar nicht im Zentrum des Bildes, jedoch ihm nahe. Auf ihrer Blüte, ihrem Stiel und einem Blatt befanden sich Blutstropfen.

Der Gruppenname war in weisser, der Albumname in roter Schrift rechts oben, wo keine der Rosen hineinreichte, angebracht. Das "Joey"-Cover korrespondierte in Objektwahl, Farbgestaltung und Symbolträchtigkeit mit dem des Albums: Auf einem schwarzweissen Schachbrettmuster-Boden war eine weisse Vase mit roten Rosen zerschellt. Der Aufprall verursachte Blutspritzer, die offensichtlich von den Rosen, bekanntlich das Symbol der Liebe, herrührten. Das Rosen-Motiv reichte bereits auf das "God Is A Bullet" Single Cover zurück, auf dem vertrocknete Rosen sinnlose Opfer symbolisierten. Napolitano arbeitete das Konzept mit Hugh Browns und Jim Yousling's Unterstützung aus. Sie widmete das Album ihrem engen Freund Ron Scarselli, dem Cover-Künstler des ersten Concrete Blonde-Albums, der kurz zuvor, fast im selben Alter wie Napolitano, an Aids gestorben war.











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