Jul 14, 2017


CHICAGO - At Carnegie Hall (Columbia Records C4X 30865, 1971)

Ende der 60er Jahre trat in der Sendung Beat Club eine amerikanische Band mit dem ungewöhnlichen Namen Chicago Transit Authority auf. Die Gruppe trat mit einer Adaption des Spencer Davis Group Titels "I'm A Man" auf, der allerdings um einige Minuten länger geriet, weil er sich im Mittelteil in einer wahren Perkussions-Orgie ergoss. Ein stampfendes, rhythmisches Stück, das sofort begeisterte, auch wenn es in punkto Gesang der originalen Version der Spencer Davis Group nicht das Wasser reichen konnte. Immerhin bedeutete der Auftritt im Deutschen Fernsehen einen gelungenen Einstieg für die Truppe um die Hauptakteure Terry Kath, Robert Lamm, Danny Seraphine, James Pankow und Peter Cetera und ihrer Band, die aus der namensgebenden amerikanischen Stadt stammte. Die Band besass zu diesem Zeitpunkt in ihrem Heimatland bereits eine beträchtliche Fangemeinde, galt schon bald als die beliebteste Rock-Gruppe an den Colleges und Universitäten. Nach ihrem Debutwerk "Chicago Transit Authority", ungewöhnlicherweise einem Doppelalbum, das 1969 erschienen war und auf welchem sich auch bereits das erwähnte "I'm A Man" befand, veröffentlichte das Quintett in den beiden nachfolgenden Jahren die LP's "Chicago II" (wiederum ein Doppelalbum) und "Chicago III", ehe Anfang April 1971 im Rahmen der sechs hintereinander folgenden Auftritte in der New Yorker Carnegie Hall Aufnahmen mitgeschnitten wurden, die später in einer Box mit vier Langspielplatten zusammengefasst wurden: "Chicago At Carnegie Hall", welche dann im Sommer des Jahres 1971 erschien.

Chicago war eine der ersten Bands, die eine Bläsergruppe integrierte und damit dem rockigen Basisklang eine jazzige Klangfarbe hinzufügte. Eine weitere Besonderheit der Band lag in dem Umstand begründet, dass alle Bandmitglieder komponierten und somit individuelle musikalische Vorlieben in den Gesamtklang einfliessen konnten. In den 70er und 80er Jahren hatten Chicago etliche Erfolge, neben "I'm A Man" auch die weiteren, als Singles veröffentlichten Titel "25 or 6 to 4" (1970), "Saturday In The Park" (1972), "Feelin' Stronger Every Day" (1973), "If You Leave Me Now" (1976), "Hard To Say I'm Sorry" (1982) und "You're The Inspiration" (1984), um nur die erfolgreichsten zu nennen. Nach anfänglichen Erfolgen in Chicago unter dem ursprünglichen Namen The Big Thing ging die Gruppe 1968 nach Los Angeles und veröffentlichte dort 1969 unter dem Namen Chicago Transit Authority (kurz CTA) ihr Debütalbum. Auf Druck der gleichnamigen Verkehrsbetriebe nannte sich die Band bald darauf jedoch nur noch schlicht Chicago. Im Lied "Someday" aus demselben Album verarbeiten sie die Ereignisse, die zur Anklage der Chicagoer Verkehrsbetriebe geführt hatten.

Die erste Platte begann mit mehrminütigen Ein- und Abstimmungsgeräuschen der Instrumente, bevor der Carnegie Hall-Ansager unter anschwellendem Applaus die feierlichen Sätze formulierte: "Good evening. I'm going to opening Carnegie Hall with Chicago". Es folgte das erste Stück "In The Country", dem sich der peppige Titel "Fancy Colours" direkt anschloss. Ein einleitendes Piano-Solo, das dem Folgetitel "Does Anybody Really Know What Time It Is ?" thematisch zuzuordnen war, beendete die erste Plattenseite dieses opulenten Werks. Sie war hauptsächlich gekennzeichnet von den bekannten, melodisch einschwingenden Bläsersätzen und einer abgerundeten Gitarrenbegleitung als eine gelungene Mixtur von jazzigem Soft Rock, der genauer gesagt als Brass Rock definiert wurde. Wer nun davon ausging, dass dieser Musikstil sich auch auf der B-Seite der ersten LP fortsetzte, wurde mit "South California Purples" doch ziemlich überrascht. Gitarren-Virtuosität allererster Güte, präsentiert von dem genialen Terry Kath, erging sich auf über 15 Minuten, eingeleitet und abgeschlossen von den unnachahmlichen Bläsersätzen. Kath zeigte sich hier in bestechender Form, holte mittels seiner Fingerfertigkeit ein wahres Klangfeuerwerk aus seinem Instrument heraus, zeigte tolle Einwürfe mit dem Wah-Wah Pedal und erntete hierfür frenetischen Beifall. Die erste Platte endete schliesslich mit dem Single-Hit "Question 67 And 68", in welchem auch die vokalen Qualitäten von Chicago zum Ausdruck kamen.

Die dritte LP-Seite wies in ihrer Abfolge ähnliche Strukturen auf. Mit dem Titel "Sing A Mean June Kid" präsentierte Terry Kath wiederum sein imposantes Gitarrenspiel auf allerhöchstem Niveau, ehe das gesangsorientierte "Beginnings" die dritte LP-Seite ausklingen liess. Seite 4 machte dann unmisverständlich deutlich, dass die Musiker eine klassische Ausbildung im Gepäck hatten und ein breites Instrumenten-Repertoire beherrschten. Das epische "It Better End Soon" befasste sich thematisch mit einer kritischen Anti-Kriegshaltung, nicht ungewöhnlich zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Titels, der auf die ausgehende 68er-Bewegung zurückging. Das insgesamt fünfteilige Set beinhaltete neben einem Flöten- auch ein Gitarrensolo und endete folgerichtig mit dem Untertitel "Preach", was sinngemäss mit einer Moralpredigt gleichgestellt wurde. Das war einer der bemerkenswerten Eckpunkte dieser Gruppe: Chicago offenbarten und verhehlten in den ersten Jahren ihres Schaffens nie ihre Herkunft, die dem links-intellektuellen Spektrum Amerikas zuzuordnen war und aus dem sich bereits eine Vielzahl von weiteren Polit-Musikgruppen rekrutierten.

Auf der dritten Vinylplatte dieses Sets fanden sich neben der weiteren Konzertansage, die in einem eher instrumental-orientierten, sehr rockigen "Introduction", eingebettet war, zwei weitere, jedoch sehr unterschiedliche Titel. Während "Mother" einen Hauch Funk-Jazz herüberwehen liess, zeigten sich die Musiker beim Stück "Lowdown" von ihrer später weiter entwickelten sanften Seite, die der Formation einige Zeit später zum kommerziellen Durchbruch in den internationale Charts-Listen verhalf. Die Rückseite begann mit dem Stück "Flight 602", einem ebenfalls kriegsverneinden Song, ehe sich "Motorboat To Mars" anschloss, gefolgt von dem frühen Hit "Free", dem sich ein sanftes, klavierlastiges Stück mit dem Titel"Where Do We Go From Here" anreihte. Die LP Nummer 3 endete mit " I Don't Want Your Money". Auch auf dieser Platte zeigten Robert Lamm, Terry Kath und ihre Mitstreiter, dass sie über ein breites musikalisches Spektrum verfügten, das sich keineswegs nur über die späteren kommerziellen Hitsongs in den Hitparaden definieren liess.

Die vierte und letzte LP schliesslich enthielt neben "Happy 'Cause I'm Going Home" ein interessantes und abwechslungsreiches Potpourri von Songs, das durch die nahtlosen, im Mittelpart kaum mehr als nur angespielten Titel fliessenden Übergänge, einem klassischen sogenannten 'Medley' ähnelte. Unter dem Haupttitel "Ballet For A Girl In Buchanon" verbarg sich ein rhythmischer, von fetzigen Bläsersätzen begleiteter Vortrag, der erneut einen tieferen Einblick in die damalige Schaffensperiode der Gruppe ermöglichte. Die dazu gehörende B-Seite, also die achte Plattenseite insgesamt, zeigte nochmals den politischen Hintergrund des Brass Rock-Stils der Band, indem mit dem angriffigen "For Richard And His Friends", eine eindeutige Kritik an der Kriegswirtschaft des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon geübt wurde. Die schrillen, verzerrten Gitarrensound waren deshalb auch in diesem Kontext zu sehen und mussten als Anti-Haltung zu der die Zivilisation zerstörenden US Kriegsmaschinerie in Vietnam bewertet werden. Was mit Misstönen begann, endete auf dieser Seite in den Single-Auskoppelungen "25 Or 6 To 4" und "I'm A Man", die den krönenden Abschluss eines frenetisch gefeierten, sechs Tage währenden Auftritts der Gruppe in der legendären Carnegie Hall bildeten.

Ab den frühen 70er Jahren waren Chicago auf vielen Festivals ein fester Bestandteil. Später tourte die Gruppe durch Amerika, Europa und Japan, wobei sie auf diesen Konzertreisen jeweils auch Live-Alben produzierte. In der zweiten Hälfte dieser Dekade vollzog die Truppe einen musikalischen Richtungswechsel und pflegte eher einen Soft Rock-Stil. der ihr dann zunehmenden kommerziellen Erfolg mit diversen Single-Auskoppelungen bescherte.
Nachdem sich der Gitarrist Terry Kath am 23. Januar 1978 selbst tötete, drohte die Band auseinanderzubrechen. Bis dato hatten Chicago bereits elf offizielle Alben eingespielt. Der Verlust des Gitarristen liess die Band in der Folgezeit nicht davon abhalten, weiter Musik einzuspielen. Nach einigen Umbesetzungen existierte die Gruppe schliesslich über 40 Jahre und hat mittlerweile auch mindestens so viele Alben herausgebracht, wobei ihr Gesamtwerk noch weitaus mehr Platten umfassen dürfte, denn es sind unzählige Raub- oder Bootleg-Alben bekannt, die teilweise Konzerte in überraschend guter Qualität präsentierten. Auch wenn die Band bis heute weiterhin live zu erleben ist, dürfte sie von ihrer einstigen musikalischen Explosivität inzwischen doch so Einiges verloren haben.






No comments:

Post a Comment