MARILLION - Script For A Jester's Tear (EMI Records EMC 3429, 1983)
Fast inmitten der Zeit der Plastikmusik, in welcher es chic war, mit digitalen Schlagzeugen und bombastischen Synthesizern zu spielen, verhalf eine britische Gruppe namens Marillion mit ihrem furiosen Debutalbum um ihren charismatischen Frontman Fish dem dahinsiechenden Progressive/Art-Rock zu neuem Glanz. Genauso wie ihre künstlerischen Vorbilder Genesis und deren ausgeschiedenem Sänger Peter Gabriel setzten auch Marillion auf grosse Gefühle und theatralische Posen. Der ständige Wechsel von intimer Erzählung und gigantischer Soundstruktur, von Minnesang und Predigt faszinierte von Beginn weg. Die endlos epischen Stücke der Band wirken mal tieftraurig und erzählen von tragischen Figuren (etwa im Titelstück "Script For A Jester's Tear"), mal ausgesprochen lieblich und romantisch wie im Stück "Chelsea Monday", mal dezidiert politisch wie im Song "Forgotten Sons", dann aber auch wieder typisch britisch komödiantisch wie bei der "Garden Party", dabei blieb die Gruppe aber stets äusserst kreativ und phantasievoll. Die exzentrischen und exzellenten Texte aus der Feder des kreativen Kopfes Fish und die bombastisch melodischen Musikbilder der Musiker Steve Rothery, Mick Pointer, Mark Kelly und Pete Trewavas machten die Platte zu einem Klassiker des Genres, der in seiner Kreativität und Komplexität eigentlich bis heute seinesgleichen sucht.
"So here I am once more, in the playground of the broken hearts."
So hörten sich die ersten Zeilen einer heute legendären Band aus dem Bereich des Neo Progressive Rocks an, als diese ihr erstes Album musikalisch eröffnete. Schon von den ersten Takten an war klar, dass diese Band etwas Besonderes darstellte. Von diesem beinahe geflüsterten ersten Satz bis hin zum letzten Ton von "Forgotten Sons", bewies die damals alle Fans des Genres überraschenden Marillion, dass sie tatsächlich die legitimen Nachfolger grosser Bands aus dem Bereich der progressiven Musik sein könnten, wie etwa Genesis zu Zeiten von Peter Gabriel. Aber Parallelen und musikalische Anknüpfungspunkte bedeuten ja nicht automatisch, dass es sich um dieselbe Art des Musizierens ging. Vielmehr konnte man Marillion von Beginn weg attestieren, dass Genesis, aber auch andere Bands wie etwa Yes einen grossen Eindruck auf die Musiker der Band ausgeübt haben mussten, wie die Formation schliesslich selber die Eckpunkte ihrer eigenen Vorstellung von hochmelodischem Progressive und Art Rock setzte. Getragen wurde ihre Musik von den sphärisch-elegischen Keyboards von Mark Kelly, den lyrisch-verträumten Gitarren von Steve Rothery, dem akzentuierten, präzisen und stets melodischen Bass-Spiel von Pete Trewavas über dem etwas zurückhaltenden Schlagzeug von Mick Pointer.
Darüber thronte die Stimme von Derek Dick alias Fish, der noch heute zu den ausdrucksstärksten und emotionalsten Sängern dieses musikalischen Genres zählt. Auch von seiner sehr extrovertierten und farbenfrohen Art ähnelte er dem Genesis-Ursänger Peter Gabriel. Und auch seine Songtexte erinnerten in ihrer phantasievollen Art an die frühen Genesis. Die Texte erschlossen sich dem Zuhörer häufig nicht offensichtlich und auf Anhieb und boten damit individuelle Möglichkeiten der Interpretation. Die Themen bedienten die gesamte Palette der menschlichen Emotionen wie Selbstzweifel, Entfremdung, Herzschmerz aber auch die Folgen des Drogenmissbrauchs, die Probleme eines Soldaten und eine augenzwinkernde Betrachtung des Standeswesens.
Die Musik dieses Albums indes war nicht progressiv im Sinne von allzu komplexen Rhythmen oder vertrackten Metren, auch die einzelnen Instrumentalisten legten in ihren Soli keinen Wert auf technische Kabinettstückchen, sondern waren immer songdienlich und blieben dabei auffallend bodenständig. Bei Marillion stand von Anfang an stets der Song als solcher im Vordergrund, dem alles andere untergeordnet wurde. Darüber ging aber nie die Spielfreude verloren und es war in diesem Rahmen immer auch Platz für schöne, manchmal auch gedankenverlorene Soli und minutenlange rein instrumentale Passagen. Der Produzent Nick Tauber und sein Soundtechniker Simon Hanhart verschafften Marillion schon bei diesem fabelhaften Debutalbum einen wunderbaren warmen und erdigen Sound, der hervorragend zu den instrumentalen Eigenschaften der Musiker passte und dem Ganzen damit zu einem wohlig-warmen Gefühl der Intimität beim Anhören führte.
Ihren Namen borgten sich Marillion übrigens vom Fantasyautor J.R.R. Tolkien, ("Herr der Ringe") und dessen Buch "Das Silmarillion", das die Vorgeschichte zu "Herr der Ringe" bildet. Auch hier konnte man, was die Ideenvielfalt, die lyrische Ausdruckskraft, die ausgesprochene Detail-Verliebtheit, die epische Breite, den Humor und die Freude anbetrifft, grosse Parallelen feststellen. Schliesslich wurde auch im Cover-Artwork für das Album, das von Mark Wilkinson designed wurde, bereits eine Konstante für die folgenden Alben gelegt: der traurige Narr (The Jester), den Fish live oft auch selbst darstellte mit Make-up und Verkleidung, sollte dabei zentraler Ausgangspunkt sein. Doch die Farben seines Kostüms verblassten bereits, so dass eher eine düstere Figur zurückblieb, was auch eher zu der düsteren Stimmung vieler Songs passte.
Marillion genossen von Beginn weg vor allem wegen der theatralischen Performance ihres charismatischen Frontmannes Fish an Konzerten einen ausgezeichneten Ruf, aber natürlich auch, weil Sie allesamt hervorragende Musiker waren, die ihre Studioaufnahmen im Konzert auch packend darbieten konnten. Fish’s Songwriting und die Emotionalität, mit der er seine Texte vorbrachte, war der von Peter Hammill durchaus ähnlich, der musikalische Unterbau wiederum erinnerte oft und gern an die bereits zitierten Yes oder die frühen Genesis, dennoch hatten Marillion schon zu Beginn ihren eigenen unverwechselbaren Stil entwickelt und klangen zu dem Zeitpunkt des Erscheinens ihres Debutalbums auch moderner als die grossen Vorbilder.
Mit nur 6 Songs bei einer Gesamt-Spielzeit von fast 47 Minuten merkte man diesem Album schon ohne es zu hören an, dass es sich hier nicht um die üblichen Strophe/Refrain Kompositionen handelte, allerdings verlor sich die Band nie in unnötig langen Instrumentalpassagen, sondern setzte mehr auf Dramaturgie und Aufbau. Marillion waren für die damalige Zeit erfrischend anders und reihten sich mit Fish als ihrem Sänger und Komponisten schon von Anfang an unter die ganz grossen und bekannten Vertretern des britischen Progressive und Art Rock ein. Alle 6 Songs des Albums erzählten an sich eine eigene, abgeschlossene Geschichte, dennoch gehörten sie alle irgendwie zusammen, und man nahm beim Anhören das gesamte Werk auch als ein Ganzes wahr. Das gelang vor ihnen nur wenigen anderen Bands. So boten einem Marillion die Möglichkeit, ein komplettes Album als Ganzes zu empfinden, aber auch einzelne Songs als in sich geschlossen zu erleben. Vor allem dieser Umstand lässt keinen der Songs als "Hauptsong" oder "wichtigsten Titel" des Werks erkennen. Jeder Song steht zwar für sich, ist aber auch ein Teil eines wirklich überwältigenden Ganzen.
Wer sich auf Marillion einlassen will, sollte viel Zeit mitbringen, denn viel zu häufig wird die Band auf ihren grössten Hit "Kayleigh" vom Album "Misplaced Childhood" reduziert, der zu den erfolgreichsten Pop-Songs der 80er-Jahre gehörte, aber nicht wirklich repräsentativ für das musikalische Schaffen der Band ist. Vielmehr braucht man als Hörer Geduld, um die Musik der Band in all ihren Schichten zu erfassen. Aber Freunde von Bands wie Pink Flody und den bereits mehrfach erwähnten früheren Genesis oder aber eines Peter Gabriel können hier ein reichhaltiges Gourmetvergnügen für ihre Sinne finden - und das 1983er Debutalbum "Script For A Jester's Tear" ist dafür der beste Einstiegspunkt. Selbst Musikfans, welche mitdem klassischen Progressive oder Art Rock sonst nicht viel anfangen konnten, freundeten sich damals mit Marillion an, spätestens nach ihrem grössten Hit "Kayleigh" von 1985, der eben auch über die nötigen Pop-Qualitäten verfügte. Steve Hogarth, Fish's Nachfolger ab 1988, machte seine Sache dann auch recht ordentlich. An die Intensität von Fish kam er aber meiner Meinung nach nicht ganz heran.
1997 wurde dieses Werk in Form einer digital remasterten Doppel-CD wiederveröffentlicht. Dieses phantastische Package enthielt neben dem originalen Album in restaurierter Form eine Bonus CD, auf welcher unter anderem die Single "Market Square Heroes" in zwei verschiedenen Versionen präsentiert wurde und auf welcher ihr furioses "Three Boats Down From The Candy", sowie das fantastische, überlange "Grendel" in der "Fair Deal Studio-Version" enthalten war. Das 19 Minuten lange meisterlich in Szene gesetzte Epos "Grendel" ist die beste und längste Nummer, welche die Band je einspielte. Die Single und ihre B-Seiten waren auf dem Debutalbum nicht enthalten. Sie wurden damals bereits vor der Veröffentlichung des Albums auf den Markt gebracht. Mit "Chelsea Monday", "He Knows You Know" und einer weiteren Single B-Seite ("Charting The Single") wurden noch drei Demosongs in Rohform für die Bonus CD berücksichtigt. Neben ihren grandiosen Studio-Veröffentlichungen "Misplaced Childhood" und "Clutching At Straws" legten Marillion mit ihrem fantastischen Debutalbum ein dramatisches und lyrisches Kunstwerk vor, das in jeder anspruchsvollen Rock-Sammlung einen Ehrenplatz einnehmen sollte.