Feb 22, 2023


WARHORSE - Red Sea (Vertigo Records 6360 066, 1972)

Die Hard Rock Gruppe Warhorse war das Bandprojekt des ehemaligen Deep Purple Bassisten Nicholas John "Nicky" Simper, das in der Blütezeit des aufkeimenden Hard Rocks für leider nur knapp vier Jahre von April 1970 bis Anfang 1974 existierte, in dieser Zeit aber zwei hervorragende Alben produzierte, die noch heute zu den Pionieralben dieses damals neuen Musikstils gehören. Zum Zeitpunkt der Gründung von Warhorse war Nicky Simper längst ein alter Hase, der in den 60er Jahren bereits mit etlichen Musikern und Bands zusammengearbeitet hatte, die sehr erfolgreich unterwegs waren. Den Anfang machten Buddy Britten & The Regents, mit denen er die Single "She's About A Mover" einspielte, die nur knapp die Charts verfehlte. Seine nächste Station waren Johnny Kidd's neu formierten Pirates, denen er beitrat, als diese auf dem Höhepunkt ihrer Karriere standen. Dieser Höhepunkt erhielt ein jähes Ende, als Johnny Kidd am 7. Oktober 1966 bei einem Autounfall starb, bei welchem auch Nicky Simper Verletzungen davon trug, aber überlebte.

Eine zeitlang spielten die Pirates noch weiter ohne ihren Frontmann, bevor Simper dann zum exaltierten Screaming Lord Sutch wechselte, wo er bereits mit späteren Deep Purple Musikern erstmals in Kontakt kam. Er blieb indes nicht lange beim dekadenten Lord, wechselte zu den Flowerpot Men und feierte dort seinen bis dato grössten Hit "Let's Go To San Francisco" im September 1967. Bei den Flowerpot Men spielte der ehemalige Keyboarder der Artwoods, Jon Lord, mit. Nach einer Tournee im Februar 1968 stiegen Simper und Lord aus und gründeten eine experimentelle Band namens Roundabout, aus welcher nach dem Zuzug von Gitarrist Ritchie Blackmore im darauffolgenden Monat März die erste Inkarnation von Deep Purple, bekannt als "Mark I", entstand. Obwohl schon deren erste Single "Hush" ein grosser Erfolg wurde, blieb Nick Simper nicht lange in der Band und stieg schon nach wenigen Monaten aus, zum selben Zeitpunkt übrigens wie Sänger Rod Evans, die beide dann ersetzt wurden durch Roger Glover und Ian Gillan, dem Line-Up, das Deep Purple danach zu einer der berühmtesten Hard Rock Bands machen würde.

Nick Simper spielte in der Folge in der Begleitband von Marsha Hunt und betrieb nebenbei seine eigene noch namenlose Band. Die Zusammenarbeit mit Marsha Hunt endete, als diese schwanger wurde und ihre Bandaktivität auf Eis legte, was Nick Simper dazu nutzte, seinen Hauptfokus nun auf seine eigene Band zu legen. Er komplettierte diese mit den Musikern Ged Peck und Mac Poole aus Marsha Hunt's Band sowie mit dem Sänger Ashley Holt zur ersten Stammbesetzung der nun neu benannten Formation Warhorse. Im April 1970 empfahl Sänger Ashley Holt den Keyboarder Rick Wakeman für die ersten Aufnahme-Sessions, welche zum Debutalbum führen sollten. Dieser konnte jedoch wegen anderer Verpflichtungen nicht bei den gemeinsamen Sessions teilnehmen und nach nur einem kurzen Studio-Intermezzo (das später auch nicht auf dem ersten Album der Gruppe zu hören war) wurde er durch Frank Wilson ersetzt. Nachdem die erste LP "Warhorse" im August 1970 erschienen war und gute Kritiken, aber mangelhafte Werbung seitens der Plattenfirma erhielt, tourte die Band über ein Jahr lang intensiv in ganz Europa, was dazu führte, dass Gitarrist Ged Peck infolge des permanenten Tour-Stresses die Band verliess. Er wurde ersetzt durch den exzellenten Peter Parks kurz vor einer weiteren Europa-Tournee, welche kurz darauf in die Aufnahmen zu diesem zweiten Album mündete.

Als erfahrene Tour-Band und mit dem hervorragenden neuen Gitarristen Peter Parks spielten Warhorse im Frühjahr 1972 das exzellente Album "Red Sea" ein, das den neuen Gitarristen als versierten Songschreiber auswies und ihm entsprechend viel Freiraum bei den Song-Arrangements bot, ohne dass der Gruppensound jedoch zu gitarrenlastig wurde. Im Gegenteil: Die auf dem Debutalbum über weite Strecken dominierenden Orgel-Sounds kamen auch hier wieder zum tragen und drückten manchem Song wie beispielsweise "Back In Time" oder "Sybilla" (mit Twin Guitar Sounds) den Stempel auf. Von den sieben ausgezeichneten Stücken auf der LP ist auch der Coversong "I (Who Have Nothing)" von Shirley Bassey ein Highlight.

Mit dem Album entstand in den Augen mancher Kritiker so etwas wie eine Blaupause des Heavy Metal, denn einige für den späteren Metal typische Merkmale im Sound von "Red Sea" weisen darauf hin, was vor allem an Peter Parks attackenartigen Gitarrensalven liegt, die bei späteren Metal-Platten etwa von Judas Priest typisch waren. Neben all dem Hard Rock, den Nicky Simper's Warhorse spielten, gab es doch auch immer wieder sehr melodiöse Momente, nachzuhören etwa beim Stück "Feeling Better", einer Band-Komposition, die stark an ähnliche Songs etwa von Elton John aus jener Zeit erinnert. Auf der anderen Seite aber gibt es auch mit "Mouthpiece" einen fast 9-minütigen Hard Rock Ueberflieger, der mit einem energetischen und speedigen Schlagzeug-Solo in etwa eine Brücke bildet zwischen Buddy Rich und Ian Paice. So gesehen ist "Red Sea" auch ein ungemein vielseitiges Hard Rock Album.

Mit dieser tollen Platte waren Warhorse mit den damaligen Helden des Hard Rocks wie Deep Purple oder Black Sabbath jederzeit auf Augenhöhe. Was fehlte, war Werbung und ein zündender Single-Hit, der den Musikern leider verwehrt blieb. Weil die Verkäufe des Albums unter den Erwartungen der Plattenfirma zurückblieben, bot sie der Band keinen weiteren Vertrag an und in der Folge verliess Schlagzeuger Mac Poole die Band, um bei der Hippie-Band Gong mitzuspielen. Nick Simper versuchte, mit Warhorse und dem neuen Schlagzeuger Barney James eine etwas mehr funkige Richtung einzuschlagen, was jedoch nicht den gewünschten Kick brachte. Die Band fiel dann auseinander, als Rick Wakeman für sein zweites Soloalbum "Journey To The Center Of The Earth" die beiden Warhorse-Musiker Ashley  Holt und den neuen Drummer Barney James rekrutierte, was Anfang 1974 das Ende für Warhorse bedeutete.

Nick Simper und Peter Parks blieben weiterhin zusammen, gründeten erst die Band "Nick Simper's Dynamite", mit welcher sie eine Single veröffentlichten, um 1977 mit dem ehemaligen Warhorse Schlagzeuger Mac Poole die Band Fandango zu gründen. Nick Simper ist bis heute aktiv, spielt seit einigen Jahren mit einer österreichischen Band namens Nasty Habits zusammen und hat mit dieser 2015 das Album "De La Frog Conspiracy" veröffentlicht.










DR. STRANGELY STRANGE - Heavy Petting (Vertigo Records 6360 009, 1970)

Fragt man nach den genialen Komödianten des Psychedelic Folks, so werden viele - und nicht unbedingt böse Zungen - instinktiv auf das schottische Duo Heron verweisen, die erfolgreicher als alle anderen Hippie-Propheten ihrer Zeit Nonsens gewollt mit Metaphysik verwechselten (oder umgekehrt). Recht eigentlich, und das heisst unabhängig der Verkaufszahlen, wäre dabei jedoch ein Blick nach Irland noch sehr viel ergiebiger. Mitte der 60er Jahre gründete ein verrückt-charmantes Dreiergespann aus Dublin die Band mit dem schönen Namen Dr. Strangely Strange, der zeitgenössische Musikenthusiasten zugegeben zunächst an mässig originelle Vorstadt-Rapper wird denken lassen. Nach zwei recht verschiedenen Alben, die 1969 und 1970 über Island Records und Vertigo Records ohne viel Resonanz erschienen und einer ausgedehnten Tour durch Nord- und Mitteleuropa, war die Band bereits aufgelöst und Geschichte, hatte jedoch während ihrer kurzen Schaffenszeit einen fürwahr eigenartigen wie eigenständigen Mikrokosmos hinterlassen, der sich aus unzähligen Allegorien und modernen Mythen zusammensetzte.

Dr. Strangely Strange waren in erster Linie ein Kind der Dubliner Hippie- und Beatkultur. Tim Booth und Ivan Pawle kannten sich von ihrer Zeit am Trinity College, wo Booth bereits in die lokale Folkszene involviert und an der Gründung des universitätseigenen Folkclubs beteiligt war, während Pawle in der Rhythm & Blues Band The Vampires spielte. Booth war ausserdem ausgebildeter Graphikdesigner und zeichnete eher aus Spass gelegentlich kleinere Comic-Strips, zum Beispiel über die fiktive Band The Mighty Cretins, wohl eine bissige Kontrafaktur der irischen Mighty Avon Showband. Aus einer ganz sicher furchtbar intellektuellen Faszination für die Comics des Marvel-Universums heraus, wählte sich die Band den Helden Dr. Strange als Namenspatron, dessen Abenteuergeschichten immer unheimlich surreal und mystisch inszeniert waren. Zunächst mit Humphrey Weightman, dann mit Brian Trench, die beide jeweils nach kurzer Zeit die Band wieder verliessen, traten Dr. Strangely Strange seit 1967 in nahezu allen gängigen Dubliner Folkclubs und Pubs auf, in denen sie aufgrund ihrer eigenwillig verschrobenen Attitüde und einem leichten Hang zu den gerade in Mode kommenden psychedelischen Klängen aus dem Ausland, nicht gerade Stürme der Begeisterung auslösten, wenngleich sie für die Beatniks und Hippies der Stadt dadurch schnell zu Leitfiguren wurden. Erst spät lernten Tim und Ivan den in England aufgewachsenen Maler und Organisten Tim Goulding kennen, als sich herumgesprochen hatte, dass dieser im Besitz eines Harmoniums sei und da die beiden Musiker ein solches Instrument unbedingt in ihre Kompositionen zu integrieren gedachten, rekrutierte die Band kurzerhand ihren zweiten Tim, der ihr nahezu bis ans Ende ihrer Tage die Treue hielt. Gouldings unhandliches Instrument wurde nun zu Auftritten allwöchentlich durch ganz Dublin und später quer durch Europa geschleppt und trug abgesehen von seinem mühseligen Transport nicht unwesentlich zu dem charakteristisch überweltlichen Sound der ersten LP "Kip Of The Serenes" bei.

Das Trio wurde zu dieser Zeit zum dicht umgarnten Künstler Bohème Mittelpunkt der Dubliner Szene, die in zwei als Orphanages, also Waisenhäuser bekannten Kommunen zuhause war. Dr. Strangely Strange wohnten nicht nur in diesen Häusern, sondern waren gewissermassen auch die Initiatoren der Orphanages, die hauptsächlich als Treffpunkt zahlreicher alternativer Musiker und Künstler fungierten. Besonders Phil Lynott und der noch junge Gary Moore, der sich später als Gitarrist an den Aufnahmen zum zweiten Dr. Strangely Strange "Heavy Petting" mit einem beeindruckenden Gastbeitrag beteiligte, waren häufig in diesem Dunstkreis zugegen, als sie beide noch in der Band Skid Row spielten und einige Jahre bevor sie die so erfolgreiche Rockgruppe Thin Lizzy gründeten. Aber auch Mitglieder der frühen irischen Folkband Sweeney's Men, die Anfang der 70er Jahre viel mit Anne Briggs zusammenarbeiteten und danach in Bands wie Steeleye Span und Spooky Tooth bekannt wurden, waren gern gesehene Gäste in den Orphanages. Anders als ein Grossteil der jungen psychedelischen Folkbands aus England, die spätestens seit 1968 wortwörtlich wie Pilze aus dem Boden schossen, waren die drei Dr. Strangely Strange Protagonisten schon etwas älter, hatten ihr Studium oder ihre Ausbildung bereits hinter sich und konnten sich in ihrer Musik nun richtig intellektuell und pseudo-philosophisch austoben, ohne dabei allzu grossen Jugend-Illusionen anzuhängen. Die zuweilen groteske und surrealistische Komik, mit der sie ihre Songs ausschmückten, fiel zeitlich bemerkenswerterweise in etwa mit den ersten Arbeiten der Monty Phyton-Gruppe zusammen und daran anschliessend bildete wohl das naiv-verrückte Moment im Kosmos der Incredible String Band den wichtigsten Einfluss für das irische Trio.

Doch waren Pawle, Booth und Goulding dabei keineswegs nur Incredible String Band Fans und Epigonen, sondern befanden sich mit dem erfolgreichen Duo künstlerisch durchaus auf Augenhöhe. Pawle war zudem eng mit Robin Williamson befreundet, die beiden wohnten einige Zeit zusammen in einer Kommune in Wales und der geistige Austausch mag dabei nicht unwesentlich gewesen sein. So war es auch Williamson, der seinen Produzenten John Boyd als erstes auf die Band aufmerksam machte, der daraufhin nach Irland reiste, um sich einen Auftritt von Dr. Strangely Strange anzusehen. Nach anfänglichem Zögern verschaffte Boyd den Iren einen Vertrag mit Island Records und produzierte Anfang 1969 ihr erstes Album. Für die Aufnahmen zog die Band für einige Monate nach London und wohnte dort bei ehemaligen Dubliner Studienfreunden, darunter auch der Schriftsteller und Filmemacher Iain Sinclair, der die Aufnahmen und den Londonaufenthalt auf Film dokumentierte. Das diesbezügliche Bildmaterial wurde erst Jahrzehnte später erstmalig veröffentlicht. Ebenfalls während der Zeit in London spielte Ivan, der auch später immer ein Mitglied der Incredible String Band Familie geblieben ist, noch den Klavier- und Orgelpart für deren fünftes Album "Changing Horses" ein.

Schon der erste Song auf "Kip Of The Serenes", das eigenartig idyllische "Strangely Strange But Oddly Normal", mit dem hymnischen Kehrreim, der nicht mehr wiederkehrt, deutete darauf hin, dass Dr. Strangely Strange in gewisser Weise auf einem anderen Stern musizierten und dichteten. Vor allem dichten, denn ihre Songtexte wirkten wie seltsam poetische Gebilde, die sich fast ausschliesslich aus ironischen Anspielungen auf ihre Umgebung, sowie aus literarischen und pseudo-literarischen Allegorien zusammensetzten und kaum einer nachvollziehbaren Logik folgten. Oft wurden dabei surreale Figurenkonstellationen mit schrägen Charakteren wie 'Catman the Minotaur' oder 'Projectionist Zhivago' aufgebaut, aber manchmal war es auch einfach nur der schöne fliessende Klang der Worte, der zählte: "Mistress Mouse and Mr. Puppup sit outside before the door, the younger son's in Jerusalem reporting on the war, and three blind master plumbers have just got back from the moon, and Harvey and the Greaseband are singing words which have no tune". Herrlich. Musikalisch untermalten sie diesen ästhetischen Nonsens mit auffällig traditionellen Mitteln: Mit mehrstimmigem Gesang, sanft gezupften Akustikgitarren, keltischen Flöten, ein paar Klavier-Versatzstücken, nur wenig Perkussion, dafür umso grösseren und himmlischen Orgelflächen. Fast überraschend schien es dabei, dass Dr. Strangely Strange bei all ihrer Verschrobenheit und Schräglage einen unglaublich subtiles Gespür für Melodien besassen und dies sogar so sehr, dass die Songs der befreundeten Incredible String Band demgegenüber doch nur dilettantisch und beinahe unmusikalisch wirkten.

Vielleicht lag es nicht zuletzt an dem Produzenten John Boyd, dass Dr. Strangely Strange damals mit ihrem Debütalbum dem eigentümlichen Kosmos der Incredible String Band näher als jede andere psychedelische Musikkommune kamen. Doch fehlte auf "Kip Of The Serenes" nahezu gänzlich der esoterische, hippie-religiöse Unterton, der auf den Spätsechziger Alben der Incredible String Band immer eine beachtlich grosse Rolle spielte. Stattdessen war es eher ein äusserst reflektierter, beinahe schon poetologischer Tonfall, der auf dem Album der Iren zu vernehmen war. In dieser Hinsicht waren Pawle, Booth und Goulding klassische l'art pour l'art Künstler, in den Songs ging es eben vor allem nur darum, über das Songschreiben zu schreiben. Die vielen ironisch-parodistischen Züge, oftmals ein unterdrücktes Lachen beim Singen, Kommentare aus dem Off und die im Grunde asignifikante Parallelwelt, die in den Texten konstruiert wurde, liessen "Kip Of The Serenes" am ehesten wie eine experimentelle Theaterinszenierung erscheinen, die sich dramatisch auf fünfzig Minuten auswälzte, von denen keine einzige unsinnig vergeudet war.

Ende 1969 erschien der repräsentative Song "Strangely Strange But Oddly Normal auf dem Low Budget Sampler "Nice Enough To Eat", der sich natürlich weitaus besser verkaufte als das Album. Durch den Sampler zumindest innerhalb Englands zu einiger Popularität gelangt, musste sich die Band auf einen ermüdend langen Tourplan einlassen. Nur kurze Zeit später wurde das zweite Album "Heavy Petting", wiederum in Zusammenarbeit mit John Boyd, eingespielt. Dieses zweite Werk war insgesamt eine hörenswerte, aber deutlich konventionellere Folk Rock Angelegenheit, die nachwievor für manch ungestüme Kapriolen gut war, aber letztendlich nicht die so charakteristische Atmosphäre des Vorgängers präsentierte, weil die Band hier eher ernsthaft und seriös wirken sollte. Gary Moore leistete sich auf dem Stück "Sign On My Mind" ein langes, verträumtes Gitarrensolo, an das man sich auch heute noch gerne erinnert und wer sonst als Fairport Convention Schlagzeuger Dave Mattacks sorgte dazu zum ersten Mal für etwas Rhythmus in der Musik von Dr. Strangely Strange. Die Platte "Heavy Petting" wirkte ausgereifter, weniger humoresk, dafür ernsthafter und mit einer wesentlich weniger stark ausgeprägten folkigen Grundausrichtung. Vielmehr versuchte sich die Band innerhalb der veränderten Landschaft der Folkmusik mit gezielten Rock-Tupfern Eigenständigkeit zu verschaffen, was ihr auch durchwegs gelang. 

Besonders in leicht mystisch wirkenden Stücken wie zum Beispiel dem bereits erwähnten überlangen "Sign On My Mind" war die Entwicklung in Richtung Rockmusik deutlich spürbar. Dieser Titel wurde angereichert durch dieses wundervolle Gitarrensolo des bis dahin noch praktisch unbekannten jungen Gitarristen Gary Moore, der mit seinem bluesigen Spiel dem Stück eine prächtige Erdung verpasste. Songtitel wie "Ballad Of The Wasps", "Give My Love An Apple" oder "Mary Malone Of Moscow" verrieten auch ansprechende Lyrik, welche wiederum ein typisches Stilmerkmal der damaligen Folkmusik darstellte. Nach diesem zweiten und hervorragenden Album fiel das Trio auseinander, Tim Goulding wurde praktizierendere Buddhist und Kunstmaler, während sich Tim Booth der Schauspielerei zuwandte und schliesslich animierte Filme produzierte. Ueber Ivan Bawle's weitere Aktivitäten ist indes nichts bekannt. Das Album "Heavy Petting" geriet aufgrund seiner sogenannten 'Die Cut'-Aufmachung zum mehrfachen Ausklappen der Plattenhülle besonders in Sammlerkreisen zum Kultobjekt der Begierde. Für die originale Vinyl-Ausgabe in Top-Zustand werden inzwischen vierstellige Beträge hingeblättert.

Im Mai 1972 war das Trio dann wieder vereint und gab eine Reihe von Konzerten quer durch Irland. In den nächsten zwanzig, dreissig Jahren arbeiteten die Drei, ab 1980 unter Mithilfe von Joe Thoma, immer mal für kleinere Projekte zusammen. 1998 erschien das kaum wahrgenommene dritte Album "Alternative Medicine" in Eigenregie und als das kleine Plattenlabel Hux Records später eine Sammlung von bisher unveröffentlichtem Material von den 69er und 70er Aufnahmesessions unter dem Namen "Halcyon Days" veröffentlichte, steuerten die drei inzwischen älteren Herren wiederum drei neue Stücke bei. Das Abenteuer von Dr. Strangely Strange blieb danach längst noch nicht abgeschlossen und wurde mit gelegentlichen Auftritten immer wieder mal fortgesetzt.













CRESSIDA - Asylum (Vertigo Records 6360 025, 1971)

Objektiv kann ich beim Vorstellen dieser wundervollen Platte nicht sein. Aber wie sollte das auch möglich sein bei einem Album, das zu denjenigen gehört, die ich mir in meinem Leben mit am meisten angehört habe ? Bis heute hat sich diese Platte in meinen Ohren kein bisschen abgenutzt. Noch immer bereitet sie mir grosse Freude und es sind nicht nur nostalgische Gefühle, welche mir dieses Album inzwischen vermitteln kann, nein, es ist noch immer auch die Ueberzeugung, dass dies eine der wahrscheinlich herausragendsten Produktionen der sogenannten Progressive Underground Aera war, die bis heute sowohl klanglich, wie kompositorisch und vor allem auch instrumental nichts von ihrer Faszination eingebüsst hat.

Cressida waren eine britische Progressive Rock Band, die für ihren sanften, symphonischen Sound bekannt war. Ursprünglich unter dem Bandnamen Charge bekannt, war die Band von 1968 bis 1970 aktiv und nahm zwei Alben für Vertigo auf. Der Grundstein zu Cressida wurde im März 1968 gelegt, als der Gitarrist John Heyworth auf eine Anzeige im Melody Maker antwortete und später nach London reiste, um sich der Gruppe The Dominators anzuschliessen, eine Situation, die er später als hoffnungslos bezeichnete - bis Angus Cullen sich für den Posten des Leadsängers bewarb. Er und Heyworth verstanden sich auf Anhieb, und Heyworth wurde eingeladen, in Cullens Familienwohnung in den Barkstone Gardens in der Nähe von Earls Court zu wohnen. Die beiden begannen ein ernsthaftes gemeinsames Komponieren, schliesslich traten der Bassist Kevin McCarthy und der Schlagzeuger Iain Clark in die Band, die sich ab da Charge nannte. Im Repertoire der Gruppe Charge fanden sich mehrere Coverversionen von Songs etwa der Doors ("Spanish Caravan"), The Drifters ("Save The Last Dance For Me") und Spirit ("Fresh Garbage"), zusammen mit Originalkompositionen von Cullen und Heyworth. Im Sommer 1969, kurz nach seiner Rückkehr von einer Deutschlandtournee, beschloss der Organist der Band, Lol Coker, die Band Charge zu verlassen, um zurück nach Liverpool zu ziehen, seine Schweizer Freundin zu heiraten und das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Er war gerade lange genug geblieben, um auf dem ersten Demo der Band zu spielen, was der Band einen Plattenvertrag mit Vertigo Records einbrachte. Peter Jennings schloss sich als Ersatz für Lol Coker der Band an.

Zu diesem Zeitpunkt entschied sich die Band für eine Namensänderung in Cressida. Keiner in der Band fand Charge einen wunderbaren Bandnamen. Die Musiker entschieden sich schliesslich für Cressida, aus dem William Shakespeare-Stück 'Troilus und Cressida'. Ihre ersten Konzerte unter dem neuen Bandnamen Cressida wurden in Deutschland absolviert, darunter im legendären Star Club in Hamburg, wo sie im Herbst 1969 gemeinsam mit den beiden Formationen Colosseum und East Of Eden gastierten. Ihr damaliger Manager Mike Rosen fuhr ihren Ford Transit und war als Trompeter zeitweilig mit auf der Bühne. Rosen trat später der Gruppe Mogul Thrash bei, verstärkte Cressida gelegentlich auf der Bühne für einige ihrer erweiterten Nummern, die genügend Fläche für das Solieren bieteten. Schon bald aber überwarf sich Rosen mit dem Produzenten Ossie Byrne (der frühen Bee Gees Koryphäe), und von diesem Moment an übernahm Mel Baister die Führungsaufgaben bezüglich der Band Cressida. Andere Ausflüge auf das europäische Festland waren unter anderem auch eine Reise nach Bratislava im November 1969, wo sie gemeinsam mit lokalen Bands auftraten, quasi in Konkurrenz zu verschiedenen Bands aus dem Ostblock; eine Woche lang dauerte diese Reise. Auch mit Black Sabbath traten Cressida gemeinsam auf, so etwa im Brüsseler Theater 140 als Support Act. Aussergewöhnlich war auch ein Anlass im 'Open Circus', einer Veranstaltung in einem grossen Zelt mit Löwenzähmung, Feueressen und anderen akrobatischen Darbietungen in Rouen, Frankreich, wo Cressida zusammen mit Brian Auger, Barclay James Harvest, Man und der Schweizer Progressive Rock Band Circus auftraten.

Cressida spielten zu jener Zeit hauptsächlich an Universitäten und Colleges sowie in damals populären Londoner Clubs wie dem Speakeasy, dem Revolution, dem Blaise's und dem Marquee Club. Ihre erste, schlicht "Cressida" betitelte LP wurde in den Wessex Studios eingespielt und von Ossie Byrne produziert. Es präsentierte Songs aus der Feder von entweder Cullen oder Heyworth, welche bei den entsprechenden Songs dann auch den Leadgesang übernahmen, plus je einen Titel, der von Jennings und von Clark geschrieben worden war. Cressida erlebten schon bald nach der Veröffentlichung der LP, die bei Vertigo Records erschienen war, eine schwierige Phase, als Gitarrist John Heyworth Anfang 1970 gehen musste. Um diese Zeit nahm die Band einen überaus vielversprechenden, sehr kommerziellen Song auf, der als Single "Situation" vorgesehen war, aber Vertigo Records entschied sich dafür, ihn nicht zu veröffentlichen. Heyworth, der ein letztes Stück zum zweiten Album "Asylum" beitragen würde ("Let Them Come When They Will"), obwohl er nicht darauf spielte, wurde durch John Culley ersetzt, der mit Geno Washington gespielt hatte. Das neue Line-Up nahm Cressidas zweite LP "Asylum" im Sommer 1970 auf, wiederum produziert von Ossie Byrne und mit Orchester-Arrangements angereichert von Graeme Hall, aber das Album wurde posthum im Jahre 1971 veröffentlicht, nachdem sich die Band im September 1970 bereits getrennt hatte. Der bekannte Jazz Flötist Harold McNair gastierte auf dem Song "Lisa".

Vertigo Records war mit der Reaktion auf das erste Album der Band trotz eher magerer Verkaufszahlen dennoch zufrieden und stimmte zu, dass die Band ein weiteres Werk aufnehmen sollte. Die Band begann damit, Songs für ein neues Album zu proben, und Ende Juni checkte sie in den I.B.C. Studios ein, um mit der Arbeit an ihrem zweiten Album "Asylum" zu beginnen. Angus Cullen schrieb nun die meisten Songs, aber auch Peter Jennings trug dazu bei, dass dieses zweite Werk der Band ihr erstes bemerkenswert überstrahlte, nicht zuletzt dank einem der denkwürdigsten Tracks auf dem Album, betitelt "Munich". Mit wachsendem Vertrauen in die Studioumgebung spielte die Gruppe eine wichtigere Rolle bei der Produktion von "Asylum", als noch bei den Aufnahmen zum Debutalbum. Darüber hinaus begannen die Musiker, sich von dem kurzen 3 oder 4-minütigen Songformat zu entfernen, das noch den Grossteil des ersten Albums prägte, und experimentierten mit Songstrukturen, die einzigartige Variationen und phantasievolle und spannende Tempowechsel aufwiesen.

Die Entscheidung der Band, ein kleines Orchester in die Arrangements von "Munich" und "Lisa" einzubauen, zeugte von einer enormen Vielseitigkeit in Cressidas Musik. Der Höhepunkt des Albums war aus vielerlei Hinsicht jedoch der letzte Track "Let Them Come When They Will". Das letzte, noch vom geschassten Gitarristen John Heyworth geschriebene Stück war lange Zeit eine wahre 'Tour de Force' für die Gruppe auf der Bühne und sie wollte diesen Longtrack unbedingt aufnehmen. Mit seinen vielfältigen und äusserst abwechslungsreichen Passagen, den erweiterten Gitarren- und Orgelsoli und Perkussions-Sequenzen war "Let Them Come When The Will" fast 12 Minuten lang. Im Gegensatz dazu enthielt die LP auch kurze, skurrile Songs wie "Goodbye GPO Tower" und "Survivor" - sowie ein Instrumental namens "Reprieved". Die zusätzlichen Orchesterelemente wurden am 11. September in Wessex im Studio, in welchem das Debutalbum "Cressida" aufgenommen wurde, zu einigen Songs hinzugefügt. Graeme Hall schrieb die Arrangements und dirigierte das Orchester auf den Tracks, darunter Soli von Harold McNair, einem brillanten und respektierten Jazz-Flötisten. Seine hervorragenden Fills auf "Lisa" brachten ihm eine Anerkennung auf dem Album-Sleeve ein. Im Gegensatz zu dem, was geschrieben wurde, war er nie ein Mitglied von Cressida, sondern einfach ein Session-Spieler, der zu einem Song eingeladen wurde. In ähnlicher Weise wurde in den Credits Paul Layton auf der akustischen Gitarre aufgeführt. Paul war ein Freund von Ossie Byrne und der Band und hatte Angus Cullen eine Gitarre für einige Songs geliehen, aber auch er war nie ein Bandmitglied. Während der "Asylum"-Sessions traten Cressida weiterhin in Clubs und Colleges auf, sowohl in London als auch weiter entfernt in Northampton, Blackpool und Sheffield. Im Juli traten sie zum ersten Mal im Mothers Club in Birmingham auf.

Ende September reiste die Band für ein Konzert in die Schweiz, bevor sie nach Holland reiste, um eine grosse Tournee zu beginnen, die das Plattenlabel Vertigo Records mit Black Sabbath, Cressida und May Blitz arrangiert hatte. Vom 27. September bis 5. Oktober traten sie in Rotterdam, Lüttich, Charleroi, Gent (wo Manfred Mann's Chapter Three die Band May Blitz ersetzte), Brüssel und Köln auf. Nach dieser Tournee war die Stimmung im Cressida-Camp zunehmend niedergeschlagen. Obwohl das erste Album von den Kritikern gut aufgenommen wurde und in ausreichendem Masse für Vertigo Records verkauft wurde, um "Asylum" grünes Licht zu geben, hatte Manager Ossie Byrne es versäumt, eine ausreichende Menge an regulären Buchungen zu sichern, um den Betrieb der Band aufrechtzuerhalten . Die Bandmitglieder gingen im November 1970 getrennte Wege und die kurze Karriere von Cressida ging zu Ende. Ironischerweise wurde ihr zweites Album 1971 einige Monate nach der Trennung der Band veröffentlicht. In vielerlei Hinsicht wurde "Asylum" sogar positiver aufgenommen als das erste Album - wer weiss, was die Gruppe noch erreicht hätte, wäre sie zusammen geblieben. Innerhalb kurzer Zeit schloss sich der Schlagzeuger Iain Clark der Gruppe Uriah Heep an, Bassist Kevin McCarthy wurde Mitglied von Tranquility und John Culley wechselte zu Black Widow. Mit der Auflösung der Band wurden Cressida zu einer Fussnote in der Geschichte der britischen Rockmusik, bis eine neue Generation von Progressive Rock Fans ihre Songs hörte und erkannte, welch gute Musik Cressida gemacht hatten. Angus Cullen und Iain Clark blieben enge Freunde und lebten im selben Dorf in den schottischen Highlands. Nach ernsthaften Bemühungen, ihre ehemaligen Bandkollegen zu finden, um ihnen Tantiemen zu zahlen, die sie für die CD-Neuausgaben von Cressida gesammelt hatten, kamen sie schliesslich mit ihnen in Kontakt. Von seinem Zuhause in der Nähe von Los Angeles, Kalifornien, hatte Kevin McCarthy jahrelang versucht, wieder mit allen in Kontakt zu kommen und schliesslich einen Privatdetektiv im Internet angestellt, der Angus dann schliesslich auch finden konnte. Der Keyboarder Peter Jennings war noch immer in London und John Heyworth war in die USA, nach Portland in Oregon gezogen. Leider starb John im Januar 2010, aber eine seiner letzten Dinge, die er in seinem Leben getan hatte war, John Culley ausfindig zu machen und ihn auch mit dem Rest der Jungs in Kontakt zu bringen.

John Heyworth starb im Januar 2010. Im Jahre 2011 trafen sich drei der vier übriggebliebenen Mitglieder der Band, Angus Cullen, Iain Clark und Kevin McCarthy, erneut mit Peter Jennings. Die Band wurde am 2. Dezember 2011 zu einem einmaligen Live-Auftritt im Londoner Underworld in Camden Town eingeladen. Der schottische Gitarrist Roger Niven kam zu Cressida und spielte diesen Reunion-Gig. Zeitgleich mit der Show war die limitierte Ausgabe eines Vinyl-Albums von zuvor unveröffentlichten Demos, die Cressida vor ihrem ersten Album eingespielt hatten, erschienen. Später waren diese bis dato unveröffentlicht gebliebenen Titel in CD-Form als "The Lost Tapes" erhältlich. Im September 2013 traten Cressida auf dem Melloboat-Festival in Schweden auf, zu dessen ​​Anlass "Choices", eine weitere, limitierte LP mit Archivmaterial, das von Opeth's Mikael Åkerfeldt (einem langjährigen Fan der Band) persönlich ausgewählt wurde, veröffentlicht wurde. Die Band hatte nie die Gelegenheit, in den Vereinigten Staaten zu spielen, da Mercury Records, das damalige Pendant zu Vertigo Records entschied, keines der beiden offiziellen Cressida-Alben in den USA zu veröffentlichen. Ihre beiden Alben wurden in den USA nur als Importe verkauft. Beide Alben von Cressida waren einmalig schön, und insbesondere "Asylum" präsentierte einig der herausragendsten Perlen symphonischer progressiver Rockmusik der damaligen Zeit, die erst sehr viel später richtig gewürdigt wurden.










GRACIOUS - Gracious! (Vertigo Records 6360 002, 1970)

Gracious waren ein hervorragendes Beispiel für die Experimentierfreudigkeit und das sich konsequente Loslösen bekannter Songstrukturen aus der Beat- und Pop-Aera der 60er Jahre. Das schlicht "Gracious!" betitelte Debutalbum, präsentiert auf dem Vertigo Swirl Label im Jahre 1970, zeigte eine Band, die vor keinerlei stilistischen Grenzen Halt machte. So fanden sich einerseits stellenweise noch an die Beatles erinnernde mehrstimmige Vokalsätze, ausserdem noch da und dort vor allem durch die Gitarre eingestreute Bluestupfer, die noch vom Bluesrevival in England zeugten, doch Gracious marschierten konsequent vorwärts und orientierten sich eher am zeitgeistigen Sound etwa von Frank Zappa oder auch King Crimson und bauten vor allem in ihren Longtracks auch Jazzelemente ein. Doch noch war es nicht soweit, denn der Kern der späteren Gruppe Gracious bestand schon sehr viel länger und war in den 60er Jahren noch eher dem traditionellen Sixties Sound verpflichtet. Der Sänger Paul 'Sandy' Davis und der Gitarrist Alan Cowderoy gründeten zunächst die Gruppe The Disciples, noch während ihrer Schulzeit in Esher, Surrey. Davis war der Schlagzeuger und Sänger, Cowderoy spielte Gitarre; zwei weitere Schulfreunde spielten Bass und Rhythmusgitarre. Im Jahre 1968 stiessen Martin Kitcat und Mark Laird hinzu. Kitcat spielte ein Hohner Elektropiano und Laird übernahm neu den Bass. Paul Davis sang und spielte Schlagzeug gleichzeitig, doch mit einem weiteren Eintritt in die Gruppe in der Person des Robert Lipson, welcher den Platz am Schlagzeug einnahm, erlaubte es Davis schliesslich, die Position des Frontsängers einzunehmen.

The Disciples spielten einen durchaus eigenständigen Sound, waren aber vor allem von zeittypischen neuen Rockbands beeinflusst, so etwa von Cream und vor allem vom britischen Blues Revival, das ab 1966 in England viele neue Bands und Künstler ins Zentrum der britischen Musikszene setzte und so war es nicht verwunderlich, dass die Gruppe als erste professionelle Studioaufnahme einen Song von John Mayall wählte. Die Gruppe spielte 1968 auf einer Tour im Vorprogramm von The Who. Zu dem Zeitpunkt waren sie bereits ein grosses stückweit vom Blues abgewichen, gaben ihrem Sound einen etwas grösseren Pop-Appeal und konnten auch einen Plattenvertrag mit dem Produzenten Norrie Paramor an Land ziehen. Tom Rice nahm mit der Band einige hervorragende Demosongs auf, die jedoch leider bis auf zwei Songs, die für eine Single verwendet wurden, nicht veröffentlicht und erst im Jahre 1994 zugänglich gemacht wurden. Aufgenommen in London's Denmark Street Studio überraschten The Disciples mit einem eklektischen Mix mit von Vanilla Fudge inspirierten Rocksongs und Poprock-Titeln, die an die Moody Blues und die Beatles erinnerten. Es handelte sich dabei ausschliesslich um eigene Kompositionen aus der Feder von Davis und Kitcat. Die bei Polydor Records veröffentlichte Single "Beautiful" mit der B-Seite "Oh What A Lovely Rain" waren leider die einzigen beiden Songs, die es letztlich auf Vinyl schafften.


Die Gruppe änderte ihren Namen in Gracious und legten sich einen professionellen Manager zu: David Booth organisierte in der Folge einige Konzerte, unter anderem einen Auftritt als Vorgruppe bei King Crimson. Inzwischen besass Martin Kitcat ein Mellotron, und mit diesem Instrument veränderter sich ihr Sound noch einmal ziemlich radikal. Plötzlich sahen sich die Musiker in einem typischen frühprogressiven Art- und Classic Rock-Umfeld und ihr Auftritt gerade mit King Crimson wurde vielbeachtet und hinterliess Spuren. Der insgesamt dritte Auftritt unter neuem Bandnamen fand am 11. Juli 1969 im Mistrale Club in Beckenham statt. Auch King Crimeistung dieser neuen Band beeindruckt. Schlagzeuger Robert Lipson sagte später: "That changed our lives. Martin got a Mellotron and we were off!" 1969 tourten Gracious, noch immer ohne festen Plattenvertrag und somit ohne Album im Gepäck, während sechs Wochen durch Deutschland. Während dieser Tour stieg der Bassist Mark Laird aus der Band aus. Damit die Gruppe weiter auftreten konnte, übernahm spontan der Bandroadie und Fahrer Tim Wheatley seinen Platz. Er blieb daraufhin fest als Bassist in der Gruppe. Nach diesen Konzerten in Deutschland kehrte die Band nach England zurück, und war auch dort weiter unterwegs. Brian Shepherd, damals der Geschäftsführer vom erst kürzlich neu lancierten Philips-Ableger Vertigo Records, sah Gracious live, war ebenso fasziniert wie begeistert und bot den Musikern spontan einen Plattenvertrag an.

Das erste Album wurde in den Philips Records Studios in London, in der Nähe von Marble Arch, eingespielt. Gitarrist Alan Cowderoy erinnerte sich: "When we first went into the studio to record "The Dream", we genuinely expected to record it in small segments. However our producer Hugh Murphy insisted we play it in one take in the studio, and do any overdubs afterwards. The first album, although less mature than the second, had more direction and was more focused, although "Fugue In D Minor" was always an oddity". Womit wir mitten in den Songs des Debutalbums wären. Der Longtrack "The Dream" präsentierte mit seinen 17 Minuten Lauflänge eine stilistisch sehr unterschiedliche Suite, die einerseits recht psychedelisch klang, vor allem wegen der Mellotron- und Orgel-Verfremdungen, also eigentlich sehr experimentell, zeigte aber auch klar jazzige Elemente, und als wäre das noch nicht genug, konnte die Gruppe auch hervorragende Gesangslinien einflechten, die vor allem in den mehrstimmigen choralen Passagen, deutlich an die Beatles erinnerten. Noch stärker liessen sich diese beatlesken Gesangsharmonien im Opener "Introduction" vernehmen.

Obwohl auch die Gitarre immer wieder teils recht bluesige Soloeinlagen beisteuerte, war es vor allem der Organist Martin Kitcat, der auf dem Album die dominanten Akzente setzte. Sei es das Mellotron, das gerne klanglich verfälscht wurde, die manchmal arg verzerrte Rockorgel oder das nicht minder mit Distortion-Effekten verfremdete Elektropiano: Die Keyboards nahmen in den Kompositionen einen Hauptplatz ein, und nicht selten baute Kitcat Mellotron und Elektrikpiano gleichzeitig in die Songs ein, allerdings immer uch perfekt und akzentuiert gespielt und einander nie reibend oder behindernd. Vielleicht war dies aber auch angezeigt, denn Alan Cowderoy's Gitarrenspiel zeigte auf der anderen Seite relativ wenig Wandlungsfähigkeit, setzte zu oft auf bluesiges Spiel, auch wenn sich dieses wirklich brilliant anhörte und quasi den geerdeten Kontrapunkt zum teilweise etwas abgehobenen und omnipräsenten Keyboardsound bildete.

Das erste Stück "Introduction" präsentierte sich in einem von eingängigen Gesangslinien getragenen songorientierten Format und erhielt in Form von barocken Spinetteinlagen eine dezent klassische Einfärbung. Das expressive Gitarrensolo war dann überraschend bluesrockig gehalten. Mit dem nachfolgenden "Heaven" wurde allerdings eine symphonische Kehrtwende eingeleitet. Elegant in Szene gesetzte Tastenläufe in Form von Orgel, Mellotron und Klavier sorgten hier für einen erhabenen Charakter. Zwischenzeitlich stimmt e eine akustische Gitarre auch eine folkige Zweitmelodie an. Der Gesang mutete schliesslich wie eine Mixtur aus britischer Beat-Tradition und melodienseliger Westcoast-Herrlichkeit an. Im nachfolgenden "Hell" wurde die bis dahin gebotene Stilvielfalt auf die Spitze getrieben. Hierzu gehörte ein von der Hammond erzeugtes Klanggewitter, das von hardrockigen Gitarrenriffs in dramatische Dimensionen gerückt wurde. Als Kontrapunkt wirkte hier der im Mittelteil einsetzende, wiederum etwas beatleske Harmoniegesang recht abstrakt, holte dieses insgesamt aber sehr abgehobene psychedelische Stück auf den Boden herunter.

Mit der "Fugue In 'D' Minor" folgte ein Ausflug in die Musik der Renaissance. In dem Stück, das an Johann Sebastian Bach erinnerte, dominierte das Cembalo, begleitet von Bass und Gitarre. Das Album kulminierte schliesslich in der langen, bereits erwähnten Suite "The Dream", einer wunderbaren Kombination aus psychedelischen Gitarren und symphonischen Keyboards, immer wieder durchsetzt von schönen mehrstimmigen Gesangspassagen, sowie mittendrin einem winzigen Schnipsel aus der Beatles-Melodie von "Hey Jude". Insgesamt geriet "Gracious!" trotz einiger unausgeglichener Momente zu einem der interessantesten Beispiele für die Experimentierfreudigkeit des frühen Progressive Rock. Es gilt auch bis heute als eines der typischsten Alben, das auf dem Sammlerlabel Vertigo Swirl Records erschienen war. Die Gruppe spielte im Jahr darauf ein weiteres Album für das Mutterlabel Philips ein ("This Is Gracious!"), das viele Kritiker noch für etwas besser hielten als das Debutalbum. Die Gruppe selber zerfiel aber schon kurze Zeit später in seine Bestandteile. alan Cowderoy sagte zum Auseinanderbrechen der Gruppe: "Robert left first. We carried on with a new drummer (Chris Brayne), but the magic and camaraderie were dissolving. Martin was next to go". Das zum Quartett geschrumpfte Unternehmen Gracious spielte noch einmal Konzerte in Deutschland (im Sommer 1971), an welchen Paul Davis nunmehr sang und auch das Mellotron spielte. Nun gesellten sich auch noch Probleme bezüglich Geld und unterschiedlichen musikalischen Vorstellungen hinzu, worauf sich die Musiker schliesslich nicht mehr sahen, sondern nur noch direkt auf der Bühne an den Konzerten trafen.

Nachdem sich die Band kurze Zeit später aufgelöst hatte, verabschiedete sich der Schlagzeuger Robert Lipson vom Musikgeschäft. Ein letzter "Reunion"-Gig fand am 6. April 1972 im Marquee Club in London statt, danach war Feierabend. Alan cowderoy arbeitete danach für einige Plattenlabels, so beispielsweise bei Decca Records, Vertigo Records, Stiff Records, A&M undetlichen anderen, blieb dem Musikbusiness also letztlich treu, wenn auch nicht mehr als aktiver und professioneller Musiker. Der Keyboarder Martin Kitcat verkaufte sein gesamtes Equipment und wanderte nach Amerika aus. Der ehemalige Roadie und Fahrer, der Bassist Tim Wheatley, stieg bei der Gruppe Taggett ein und nahm mit dieser Band unter der Leitung des Produzenten Tony Hicks ein Album für EMI Records auf. Er eröffnete ein eigenes Tonstudio, half auch bei Sänger Paul Davis auf dessen Soloversuchen mit und blieb ebenfalls im produzierenden Bereich im Musikgeschäft hängen. Ebenso der Sänger Paul Davis, der später beim Musical Jesus Christ Superstar mitwirkte und mit Tim Rice weiter zusammenarbeitete, hauptsächlich als Session-Sänger. Bevor Davis schliesslich definitiv nach Deutschland umsiedelte, nahm er noch an einem Musikprojekt teil, an welchem auch der Keyboarder Bill Livsey, Rob Townsend und die Bläsergruppe aus Graham Parker's Begleitband The Rumour mitwirkten.

1995 trafen sich der Bassist Tim Wheatley und der Schlagzeuger Robert Lipson wieder und begannen mit den Arbeiten an einem neuen Gracious Album. ein japanisches Plattenlabel zeigte Interesse an einer Neuveröffentlichung, und so spielten die beiden Musiker zusammen mit Sev Lewkowicz (Keyboards, Gesang und Gitarre), Stuart Turner (Gitarre) und Richard Ashworth (Gesang) für die Plattenfirma Centaur Discs noch einmal ein Album ein. Zur Qualität und Zeitlosigkeit von Gracious' Debutalbums brachte es viele Jahre später ein Kritiker folgendermassen auf den Punkt: "This is one of those albums that does have some inconsistent moments and a rambling feel at times yet despite it all this is exactly what I like in music. It is adventurous, exciting, unpredictable and spontaneous. I enjoy the album from beginning to end and despite the awkwardness that occurs from time to time I simply don't find it detracts from the overall excitement of the album. The boldness and enthusiasm are what makes this for me. Certainly not a masterpiece but well worth having in any prog collection as one of those obscure additions that's worth checking out from time to time".







Feb 18, 2023


 JACO PASTORIUS - Truth, Liberty & Soul
(Live In NYC • The Complete 1982 NPR Jazz Alive! Recordings)
(Resonance Records HCD-2027, 2017)

Im Sommer 1982 hatte Jaco Pastorius gerade Weather Report verlassen und war weithin als der beste E-Bassist der Welt bekannt. Er hatte ein neues grosses Ensemble, die Word of Mouth Big Band (benannt nach dem Pastorius-Album von 1981, das einen Grossteil seines Repertoires lieferte). Die Gruppe versammelte einige der besten jungen Persönlichkeiten des Jazz und des Fusion Sounds und erinnerte auf verblüffende Weise daran, wie breit gefächert Pastorius' Talente waren: Er war in der Lage, seinen sprudelnden Jazz-Funk im grossen Stil zu arrangieren, indem er ein eher traditionelles Jazzband-Format verwendete. "Truth, Liberty & Soul" stammt vom Auftritt der Band in der Avery Fisher Hall im Lincoln Center während des Kool Jazz Festivals in jenem Jahr. Den ultimativen Höhepunkt des Albums lieferte allerdings nicht die gesamte 22-köpfige Band: Pastorius' langes, Hendrix-zitierendes Solo auf "Bass and Drum Improvisation" würde ich persönlich noch heute als etwas vom Herausragendsten bezeichnen, das dieser tolle Musiker je gespielt hat.

In seinem kurzen Leben revolutionierte Jaco Pastorius das Jazz-Spiel der Bassgitarre und bestimmte in den 70er Jahren die Musik der wichtigsten Jazz-Fusion Musiker Pat Metheny und Weather Report zu einem Grossteil mit. Sein grösster Ehrgeiz jedoch bestand darin, eine eigene Big Band zu gründen. Dieses im Jahre 2017 erstmals veröffentlichte Live-Set fängt einen fulminanten zweistündigen Auftritt von Pastorius' gefühlvollem, swingendem und sehr ausgelassenem Word-of-Mouth-Orchester im Jahr 1982 ein, mit dem Saxophonisten Bob Mintzer, dem Trompeter Randy Brecker und dem Mundharmonika-Maestro Toots Thielemans als prominenteste Mitmusiker. Das im Soul-Jazz angesiedelte Pastorius-Sahnestück "The Chicken" lebt von Pastorius' sich ständig verändernden Basslinien, der schnelle Charlie Parker Bebop-Klassiker "Donna Lee" entfaltet sich auf kühne Art und Weise als Unisono-Bass- und Tuba-Thema, während beispielsweise "Three Views Of A Secret" von Toots Thielemans dominiert wird, der fast schwebende, an Gil Evans erinnernde Harmonien erzeugt. John Coltrane's Klassiker "Giant Steps" ist ebenfalls ein Highlight hier.

Klanglich ist "Truth, Liberty & Soul" zweifellos die am besten klingende Word-of-Mouth-Aufnahme aller Zeiten, insbesondere im Vergleich mit den Live-Alben "Invitation" von 1983 und deren erweiterter, zweiteiligen, nur in Japan veröffentlichten Version des vollständigen Konzerts, aus welchem "Invitation" ursprünglich zusammengezogen wurde ("Twins I & II: Live in Japan, 1999, Warner Brothers Japan). Und auch die posthume Veröffentlichung "The Birthday Concert" von 1995, die erste Live-Performance einer Reihe von Big Band Auftritten, die später zum Kern-Repertoire der Word of Mouth Big Band werden sollten, aufgenommen auf der Party zum 30. Geburtstag des Bassisten in Fort Lauderdale, reicht nicht an "Truth, Liberty & Soul" heran. Das hier Gebotene ist Musik, die buchstäblich aus den Lautsprechern springt, um den kompletten Raum zu füllen, mit einem derart funky ausgelegten Soul, herrlich swingenden, Be Bop-streifenden improvisatorischen Streifzügen und freien Improvisationen von bemerkenswerter Gruppensynchronität, dass man nur staunen kann.

Doch das Konzert bot noch viel mehr: Schöne, elegant komponierte Balladen, kontrastreich und raffiniert gespielt, ja sogar eine Reggae-Melodie und - während Pastorius' gemeinsamer "Bass And Drums Improvisation" mit Andrew Erskine - eindeutige Verweise auf Jimi Hendrix, wenn die Beiden die amerikanische Nationalhymne anstimmen. Dass dies eine NPR-Aufnahme ist, bedeutet, dass der Klang tadellos ist, jedes noch so kleine Detail, um die volle tonale Darstellung von Pastorius' Linien wiederzugeben, ist hautnah erlebbar. Jaco Pastorius dominiert nur ganz selten, sondern fungiert weitgehend als Moderator für sein Ensemble, bestehend aus Peter Erskine, seinem ehemaligen Freund von Weather Report am Schlagzeug und Don Alias (ebenfalls ​​am Schlagzeug), den Saxophonisten Mintzer, Frank Wess und Howard Johnson und den Trompetern Randy Brecker, Lew Soloff und Jon Faddis. Auch wenn Jaco Pastorius mal mit seinem Spiel in den Vordergrund tritt, begleitet oft nur von einem kleinen Hauch Trompete und/oder Klavier, behält er immer die Kontrolle, bleibt er immer sparsam und unauffällig und sieht sich als Teil des Ensembles. Wenn seine Bass-Perlchen Wassertropfen wären, würden sie die Schüssel niemals überfüllen.

"Donna Lee" ist einer der Höhepunktes des ersten Teils des Konzerts - die Pauken kontrastieren mit einer an Sun Ra erinnernden, futuristischen Stimmung in den Refrains. "Soul Intro / The Chicken" enthält als Intro eine Fanfare wie aus einer dieser Late Night Talkshows der 80er Jahre, bevor das titelgebende Huhn ins Getümmel springt, um Jitterbug zu spielen. Das Stück entpuppt sich als wahrer Wohlfühl-Moment. Toots Thielemans spielt bei mehreren Stücken auf der Mundharmonika, aber seine Beiträge haben meist eher begleitenden Charakter. Er ist auch klar effektiver in seinem Spiel, wenn er begleitet statt bläst, was wiederum ein bisschen an Duke Ellington's Musik erinnert. "Reza / Giants Steps" ähnelt einem waschechten E-Bass Konzert, so ein wenig wie in jenen Momenten in Miles Davis' Second Great Quintet, als Tony Williams solierte, die Musik unter Kontrolle hielt und seine Mitmusiker den Raum um ihn herum füllten. So zeigt das auch Jaco Pastorius hier: Zeitweise spielt er so schnell, dass man sich fragt, ob Irgendjemand so etwas überhaupt transkribieren könnte. Es ist ein bisschen so, als würde man sich fragen, wie man die Temperatur eines Sterns misst: Besser nur im Licht schwelgen und das Geschehen staunend in sich aufsaugen. "Truth, Liberty & Soul" ist eine wahre Sternstunde des Jazz Fusion, eine der brilliantesten Aufnahmen von Jaco Pastorius und einer der besten Jazz Live-Auftritte, den man seinen Ohren und seinem Herzen gönnen kann.







BILLY STRINGS - Home (Rounder Records 1166100637, 2019)

In einer Welt voller musikalischer Schurken sucht man nach Helden. In einer musikalischen Landschaft, die durch die wilde Kommerzialisierung der Branche in Graustufen umgewandelt wurde, sucht man nach Farbe. Wo sich Gleichheit wie eine Pandemie ausgebreitet hat, sucht man nach etwas, das einem wieder daran erinnert, woher man gekommen ist und wohin man gehen möchte. In der Bluegrass-Welt führt diese Strasse zu Billy Strings. Seit Jahren wird jedes Mal dieser Name genannt, wenn sich die Diskussion darum dreht, wer die Country-Musik aufrütteln könnte. Wir kennen inzwischen so einige neuere Interpreten, die sich um die Zukunft der Countrymusik bemühen. Musiker etwa wie Chris Stapleton, Jason Isbell, Sturgill Simpson, Tyler Childers, Cody Jinks, Margo Price - nd es werden immer mehr. Aber wenn man sich die Welt des Bluegrass anschaut und wissen möchte, was in diesem Bereich so wirklich Innovatives geschieht, dann landet man, ob man will oder nicht, früher oder später bei Billy Strings. Bluegrass ist eine der ältesten Formen der Countrymusik überhaupt, und Billy Strings hält daran fest, während er diesen traditionellen amerikanischen Musikstil zurück in die Zukunft holt, wie kaum Jemand vor ihm in den vergangenen Jahren.

Billy Strings wurde am 3. Oktober 1992 in Lansing, Michigan, als William Apostol geboren. Sein Stiefvater Terry Barber war ein Banjo-Picker in der Michigan Bluegrass-Szene, obwohl er nie professionell spielte. Barber übte einen grossen Einfluss auf seinen Sohn aus und machte ihn in jungen Jahren mit dem traditionellen Bluegrass bekannt. Bill's Stiefvater zeigte ihm die Musik der grossen Traditionalisten des Bluegrass, wie Doc Watson, Del McCoury, David Grisman, Bill Monroe, John Hartford, Ralph Stanley, Earl Scruggs und Larry Sparks. Billy Strings ist jedoch auch ein Fan von Metal und insbesondere dem Stoner Rock, sieht sich daher auch beeinflusst von der Musik eines Jimi Hendrix, von Johnny Winter und Black Sabbath. Er spielte in seiner Jugend auch in diversen Hard- und Alternative-Rock Bands.

Das Magazin Rolling Stone kürte Billy Strings im Jahre 2017 zu einem der Top Ten 'New Country Artists'. Am 12. Februar 2018 veröffentlichte der Rolling Stone einen Artikel mit dem Titel 'Bluegrass Prodigy Billy Strings Plots 2018 Spring Tour' und verhalf dem jungen Innovator des Bluegrass damit noch stärker zu landesweiter Popularität in den USA. Schon zuvor hatte er allerdings Auszeichnungen einheimsen können. Die International Bluegrass Music Association zeichnete ihn 2016 mit dem 'Momentum Award' als Instrumentalisten des Jahres aus. Die Zeitschrift Bluegrass Situation ernannte ihn 2016 zu einem sogenannten 'Szene-Tastemaker'. Lisa Snedeker von Huff Post wiederum proklamierte "Turmoil And Tinfoil" als eines der besten Alben des Jahres 2017. Im September desselben Jahres landete es auf Platz 3 der Billboard Bluegrass Charts. Im März 2018 veröffentlichte der Rolling Stone Strings' erstes Musikvideo "Dealing Despair" von seinem Album "Turmoil And Tinfoil". 2018 spielte er schliesslich fast 200 Konzerte.

Dann erschien im Folgejahr das bislang beste Album von Billy Strings mit dem Titel "Home", und wie es der Albumtitel schon suggerierte, ging der Musiker dabei weit zurück in der Geschichte des Bluegrass, aber auch seiner eigenen musikalischen Wurzeln, die wie bereits erwähnt, sehr vielfältig waren und sind. Aus dieser Perspektive heraus schuf Billy Strings ein extrem spannendes Werk, das sowohl den Bluegrass zelebriert, aber auch alte amerikanische Folk-Themen präsentiert. Spannend hört sich das etwa im Titel "Guitar Peace" an, bei welchem Billy Strings dezente synthetische Sounds einsetzt, um derart arrangiert ein modernes Momentum in einen ansonsten sehr traditionell gehaltenen Folksong einzubauen und ihn somit in die Moderne zu transportieren. In eine ähnliche Kerbe haut auch der sich auf über sieben Minuten ausbreitende Titelsong "Home", der eine ganz eigentümliche Stimmung erzeugt: Einerseits ist das ein in Mol-Akkorden gehaltener klassischer Folksong, der sich aber dank dem Einsatz eines Streicher Ensembles sehr episch ausbreitet und sich dabei während seiner grossen akustischen Reise auch mal an Mike Oldfield ähnliche Gitarrenklänge heranwagt, verbunden mit leicht arabischen Klängen, was diesem Titel eine selten schöne und subtile Spannung angedeihen lässt, die den Hörer wunderbar einlullt.

Auf der anderen Seite der Spiel-Skala stehen natürlich auch traditionelle Bluegrass-Themen, schwungvoll und sehr unterhaltsam präsentiert etwa in den Songs "Watch It Fall" oder "Running". Doch sind es immer wieder die langen Stücke, bei denen Billy Strings aufblüht. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der ebenfalls fast acht Minuten lange Titel "Away From The Mire", den man einerseits als Bluegrass-verwandten Countrysong erkennen mag, der sich aber im weiteren Verlauf als eine sehr intensiv erzählte Geschichte im folkloristischen Stil vor einem ausbreitet. In diesem Aufbau mag man durchaus John Prine-ähnliche Muster erkennen, denn dieser erzählerische Stil war auch immer eines der Markenzeichen des Genannten. Der Mittelteil von "Away From The Mire" ist dann durchaus als progressiver Bluegrass zu bezeichnen und widerspiegelt ein bisschen den Live-Charakter von Billy Strings, der ja an Konzerten auch gerne mal die 20 Minuten sprengt, wenn er in die Jams geht. Dieser Song ist denn in meinen Augen auch das Highlight dieses Albums, auf keinen Fall aber ein Uebersong, der sich von den anderen Songs zu sehr abhebt: Nein, das ganze Album ist wundervoll, denn es bietet für jeden Fan dieses Musikstils gleichermassen Entdeckenswertes:

Fans der Jam Band Phish werden beispielsweise auf "Away From The Mire" und dem ebenso langen und explorativen Titelsong stehen, während Bluegrass-Puristen vermutlich mehr auf "Everything's Same", "Highway Hypnosis" und die Harmonien von "Freedom" schauen, um das zu finden, wonach sie suchen. Billy Strings ist ein grosser Innovator und ein riesiges Talent im Country-, Roots- und Bluegrass-Bereich und hat seinen grossen Erfolg vor allem in den USA mehr als verdient. Die Musik von Billy Strings gibt uns die Möglichkeit, wieder zu träumen, und das auf ergreifende und vereinnahmende Art und Weise.







Feb 5, 2023


 THE CRYSTAL VOYAGER BAND - Crystal Voyager
(Warm & Genuine Records 2907 010, 1973)

Crystal Voyager war eigentlich zweierlei: Sowohl die Band, als auch das Filmprojekt eines gewissen G. Wayne Thomas aus Neuseeland. Das Album, um das es hier geht, wurde 1973 veröffentlicht und dürfte längst vergessen sein. Weil es sich bei diesem Album aber um ein ebenso interessantes, wie hörenswertes Werk handelt, möchte ich es gerne näher vorstellen. Es gibt inzwischen viele interessante Momente in der Rockmusik, die dank umtriebigen und liebevollen kleinen Plattenlabels noch einmal das Licht der Welt erblicken, um eine späte Würdigung zu erhalten. Dabei kommt so manch verschollene Perle ans Tageslicht, von deren Existenz man kaum etwas gewusst hat, oder das vielleicht einem kleinen Kreis von Musikenthusiasten noch nach Jahrzehnten ein Begriff war und ist. Mir war dieses Werk absolut unbekannt, bis ich es vor einigen Wochen erstmals hörte und mich seit einigen Hördurchgängen nachhaltig zu beeindrucken vermag.

G. Wayne Thomas wurde in Auckland, Neuseeland, geboren und verbrachte seine frühen Jahre in Timaru im südlichen Teil der Insel. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustands seiner Mutter zog die Familie später nach Christchurch, wo G. Wayne Thomas die Cashmere High School besuchte. Hier trat er der Schulband bei und spielte mit grosser Begeisterung auch Rugby in der Schulsport-Mannschaft. Mit seiner Schulband spielte er zumeist Coverversionen von in Neuseeland populären Pop- und Rocksongs. Sein erster Job war nicht im musikalischen Bereich nagesiedelt, sondern er wurde Produktionsassistent bei CHTV 3, einem Fernsehsender in Auckland. Einige Zeit später zog er mit einem Stipendium in der Tasche nach Australien, um Theaterproduktion am National Institute Of Dramatic Art (NIDA) zu studieren. Während dieser Zeit arbeitete er nachts als Stage Manager für Frank Strains Theatre Restaurants, bevor er eine Vollzeitstelle bei der damaligen Elizabethan Theatre Trust Company annahm, heute bekannt als Opera Australia.

Um 1972 herum begann G. Wayne Thomas damit, Songs zu schreiben, sich selbst und andere Musikbands zu produzieren und auch semiprofessionell zu singen. Während dieser ersten Phase in seiner Eigenschaft als Musiker und Produzent schuf er zahlreiche Fernseh- und Radiowerbespots für Australiens führende Werbeagenturen. Einer dieser Aufträge erforderte einen längeren Aufenthalt im Ausland,  was schliesslich dazu führte, dass er für Warner Brothers einige lukrative Aufträge an Land ziehen konnte. Mit diesen wertvollen neuen Kontakten bestens für ein eigenes Musikprojekt ausgestattet, startete er die nächste Phase in seiner beruflichen Karriere.

Nach seiner Rückkehr nach Australien gründete er zusammen mit Jon English sein eigenes Plattenlabel namens Warm & Genuine Records, dessen Name eine Antithese zur Realität des Musik-, resp. Plattengeschäfts darstellen sollte. Seine Intention war es, Künstlern und Bands eine Möglichkeit zu schaffen, ihre Musik zu veröffentlichen, an der ansässige Plattenfirmen kein Interesse zeigten. So produzierte G. Wayne Thomas die erste Single seines Partners Joe English: "Turn The Page" schoss an die Spitze der australischen Charts. Es folgte Jon English's erstes Album "Wine Dark Sea", welches er auch produzierte. Diese Single und die nachfolgende LP wurden über das australische Polygram Label veröffentlicht, auf dem G. Wayne Thomas dann auch sein erstes Soloalbum "G. Wayne Thomas" herausbrachte. Es folgte noch im selben Jahr seine inzwischen dritte Single "Everything in You" mit der B-Seite "Call My Name" sowie die vierte Single, betitelt "Come Tomorrow Morning" mit einer Version von Kris Kristofferson's Song "I’ve Got To Have You" als Single-Rückseite: Ebendieser Titel wurde dann kurze Zeit später von Carly Simon ebenfalls gecovert und wurde zu einem grossen Hit. 

Nun häuften sich die Auftragsangebote natürlich, und 1973 wurde G. Wayne Thomas von David Elfick gebeten, den Soundtrack für einen Film mit dem Titel 'Crystal Voyager' zu schreiben und zu produzieren. Zu diesem Zweck gründete Thomas kurzerhand eine reine Studio-Formation namens The Crystal Voyager Band, deren Mitglieder Bobby Gibbert (Keyboards), Mick Lieber (Gitarre, Ex-Python Lee Jackson, Ashton, Gardner & Dyke) und Rod Coe (Bass) hiessen. Als Schlagzeuger war John Proud mit an Bord und G. Wayne Thomas selbst steuerte die Akustikgitarre und den Gesang bei.

Der Film 'Crystal Voyager' basiert auf den Heldentaten des amerikanischen Surf Hippie-Kids Knee Boarder und des 'Inside The Wave'-Filmkamera-Manns George Greenough, der auch die treibende Kraft bei der Erfindung des heute weltberühmten Fish Eye-Kameraobjektivs (Fischauge) war. Der Film zeigte auch die Band Pink Floyd in den letzten Szenen, in denen George Greenough eine Kamera um seinen Kopf schnallte, um im Inneren des hohlen Abschnitts der Welle namens 'The Tube' zu filmen. Diese Sequenzen wurden berühmt und fanden bei der Gruppe Pink Floyd einige Jahre lang Zugang in deren Live-Auftritten. Die Szenen regten die Fantasie des europäischen Publikums an, als der Film über ein Jahr lang im Londoner West End als Double Feature mit dem Zeichentrick-Film 'Fantastic Planet' (La Planète Sauvage') von René Laloux lief.

Die Musik auf dem Soundtrack zum Film 'Crystal Voyager' ist ein bemerkenswert schöner Mix aus Byrds-ähnlichem Folk Rock, gepaart mit feinen psychedelischen Momenten und einigen progressiv klingenden Momenten. Da der hippieske Anteil am Gesamtsound jedoch dominierte, war das in sich sehr stimmige und unterhaltsame, exzellent aufgenommene und abgemischte Album zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1973 wohl doch schon fast zu spät dran, um noch die buchstäblich hohen Wellen zu schlagen. Das Album geriet bald in Vergessenheit, bis es 2007 in Japan erstmals auch als CD veröffentlicht wurde - nur um auch da nur eine Fussnote zu bleiben. Schade: "The Crystal Voyager" ist auf jeden Fall eine Entdeckung wert.