Apr 29, 2025


THRICE MICE - Thrice Mice! (Philips 6305 104, 1971)

Infiziert vom Fieber der Beatles-Mania beschlossen die Brüder Rainer und Werner von Gosen im Frühsommer 1966, eine Beat-Band zu gründen. In Flensburg geboren und in Hamburg aufgewachsen, besuchten sie dort das Alexander von Humboldt-Gymnasium im Ortsteil Harburg. Rainer und Werner, beide musikalisch durch Klavierunterricht vorgebildet, übernahmen Bass und Gitarre, ihr Mitschüler und Freund Arno Bredehöft spielte das Schlagzeug. Der Name Thrice Mice (dreimal Mäuse) liess auf ein gewisses Understatement schliessen, wollten die Jungs doch in die erste Liga der damaligen Bandszene aufsteigen. Möglichkeiten dazu boten die zu diesem Zeitpunkt überall stattfindenden Beat-Wettstreite, an denen die Band mit grossem Erfolg teilnahm.

Im August 1966 gewann sie den ersten Preis der Beat Band Battle der Hamburger Gymnasien. Veranstaltet vom Gymnasium Hamburg-Alsterdorf setzten sie sich gegen sechs weitere Konkurrenz-Bands durch. Das Hamburger Abendblatt fand für diese Veranstaltung folgende Schlagzeilen: "Dem Musiklehrer war die Beat-Schlacht zu laut" und "Schiedsrichter sass vor der Tür!". Im Verlauf des Artikels vom 24.August 1966 hiess es weiter: "Ohrenbetäubende Beat-Musik, ohrenbetäubender Beifall, 7 Beat-Bands aus Hamburger Gymnasien kämpften im Schweisse ihres Angesichtes um den ersten Preis der Beat Band Battle. Die Aula kochte. Nur einer schlich sich während der Schlacht aus der Tür. Dem Musiklehrer war es zu laut geworden. Dabei sollte er als sachverständiges Jurymitglied Preisrichter spielen. Das tat er auch, aber mit Distanz. Er setzte sich im Flur vor der Aula auf eine Bank und liess die Musik dort auf sich wirken. Als dann nach zwei Stunden der Lärm im Saal verebbt war, fällte er in aller Ruhe seinen Spruch. Sieger der Schlacht in der Aula: The Thrice Mice vom Humboldt-Gymnasium in Harburg".

Bemerkenswert war, dass Thrice Mice, obwohl nicht Schüler des veranstaltenden Gymnasiums, trotzdem siegten und die Bands des heimischen Gymnasiums auf die Plätze verwiesen. Dies war ein erster Hinweis auf den Ehrgeiz und das Können der drei Jungs. Der Sieg bei der Beat Battle brachte ihnen Ansehen in der auch zu diesem Zeitpunkt schon vielfältigen und bandreichen Hamburger Szene. Die Anerkennung erfuhr einen weiteren Höhepunkt, als Thrice Mice auch als Sieger im Beat-Wettstreit der Harburger Anzeigen und Nachrichten, einer grossen Hamburger Lokalzeitung, hervorgingen. Die Veranstaltung fand im Februar 1967 in der Harburger Friedrich Ebert-Halle vor ungefähr 1200 Zuschauern statt. 24 Bands waren angetreten. Thrice Mice siegten mit fast der Hälfte der Stimmen des Publikums und ein Jurymitglied, delegiert vom Hamburger Starclub, erklärte: "Für mich haben Thrice Mice am besten gespielt".

Die Veranstaltung fand ihr kongeniales Presseecho und der Musikkritiker Willi Hofmann versuchte sich an einer soziologischen und kulturhistorischen Erklärung: "Man muss betonen, dass der Gedanke, von solch offizieller Warte, wie es die Presse heute ist, zu der Volksbewegung des Beat Stellung zu nehmen, ausserordentlich zu begrüssen ist. Wie alle Volksbewegungen kommt der Strom von unten, von den undifferenzierten und schlichten Bewusstseinslagen. Das Naturereignis Beat ist ein riesiger Protest gegen die Zerfaserung der modernen Jazz-Musik, gegen alles Alte und Morsche und gegen Zwang und jegliches Korsett. Es funktioniert wie die Posaunen von Jericho, und es ist ein Wunder, dass die Ebert-Halle bei dem Lärm keinen Schaden nahm. Es ist auch ein Sieg des elektrischen Stromes, den man bekanntlich mühelos verstärken kann und in dem die Singstimmen untergehen, es ist uralte Magie und moderne Technik, Ekstase und Monotonie zugleich. In der stilistischen Enge der wenigen Akkorde und Rhythmen unterscheiden sich die Bands durch die persönliche Leistung. Das pausenlos Hämmernde und das Grelle entspricht der Pop-Art in der Malerei, ein Protest gegen alle pintige Leisetreterei. Keine Rede von Schwüle, es ist der Ausdruck des ganz Direkten ohne jede Umschweife, echtes Zeichen der Zeit doch im Wesen uralt. Die Jugend im Saal konsumierte den Lärm meist mit tiefernsten Gesichtern".

Ob die anwesenden Fans dies genauso empfanden darf bezweifelt werden. Jedenfalls fanden Rainer und Werner von Gosen nach der Veranstaltung vor ihrer Haustür Tulpen, die ihnen junge Anhängerinnen als Zeichen ihrer Verehrung gestreut hatten. Dies war jedoch nicht der einzige Lohn der schweisstreibenden Arbeit. Als Preis hatte der Veranstalter für die vier erstplatzierten Bands die Möglichkeit einer Schallplattenaufnahme ausgelobt, einer EP, auf der sie sich jeweils mit einem Titel präsentieren durften. Trice Mice entschieden sich für die Eigenkomposition "An Invitation". Dieser Titel, der in seiner Art etwas an The Who erinnerte, gab der Band die Möglichkeit, sich professionell durch Vorlage eines Tonträgers weiter nach oben zu arbeiten. Die EP wurde soäter zu einer sehr gesuchten Rarität. Die lokalen Erfolge der Band hielten an und Thrice Mice mussten eine Menge von Auftritten absolvieren, betreut vom dritten von Gosen-Bruder, Jürgen, der als Roadmanager der Band half. Ein Bruch in der Bandgeschichte erfolgte, als Werner von Gosen 1968 zur Bundeswehr eingezogen wurde. Arno Bredehöft erhielt zu diesem Zeitpunkt ein Angebot der Beathovens und verliess die Band für ungefähr ein Jahr. Als Ersatz kamen Gerhard Adlung als neuer Schlagzeuger und Hans-Hermann Jäger an der Orgel in die Band. Nach Beendigung des Wehrdienstes stieg Werner von Gosen wieder in die Band ein; Arno Bredehöft kehrte ebenfalls wieder zurück. Die Urbesetzung spielte wieder zusammen.

Die Band war sich zu diesem Zeitpunkt allerdings bewusst, dass die Dreierbesetzung ihrer Musik bestimmte Grenzen setzte, die nur durch weitere Bandmitglieder überwunden werden konnten. Mit Karl-Heinz Blumenberg (Gesang, Altsaxophon, Perkussion, Querflöte, Gitarre), Wolfgang Buhre (Tenor-, Alt- und Sopransaxophon, Klarinette und Perkussion) und Wolfram Minnemann (Orgel, Klavier, Gitarre) fanden sich drei kongeniale Mitstreiter. Alle Drei verfügten bereits über erhebliche musikalische Erfahrungen. Karl-Heinz Blumenberg hatte zuvor Jazz, Skiffle und Folklore gespielt; Wolfgang Buhre kam vom Jazz und hatte schon mit Chris Barber und Monty Sunshine sowie Albert Nicholas, einem berühmten Klarinettisten, Musik gemacht; Wolfram Minnemann, ebenfalls vom Jazz kommend, hatte zuvor mit einigen Mitgliedern der legendären City Preachers Folklore gespielt. Damit hatte sich die Besetzung gefunden, die Anfang 1971 das gleichnamige Album auf Philips Records veröffentlichte. 

Die musikalischen Lebensläufe der einzelnen Gruppenmitglieder veranschaulichen, welche verschiedenen musikalischen Strömungen und stilistischen Auffassungen nun unter einen gemeinsamen Hut gebracht werden mussten. Die Gruppe erarbeitete sich die Titel im Kollektiv. Nachdem in der Anfangszeit die übliche Beat- und Popmusik gespielt, dann sich am Soul versucht wurde, war dies nun Makulatur. Die Band sah durch das Nachspielen internationaler Hits die konsequente Linie zur eigenen Musik beeinträchtigt. Im Promotionstext der Rolling News ihrer damaligen Plattenfirma wurde der aktuelle Zustand zutreffend wiedergegeben. Dort hiess: "Heute stützt sich die Thrice Mice' Musik auf eine mittelschwere Rock-Basis, die allerdings sehr variabel ausgelegt ist. Jazzeinflüsse sind unverkennbar, ein klassisches Motiv lieferte ihnen ihren grossen Reisser "Vivaldi's Revival", mal eine Progressivfärbung, mal eine Blueswendung. Wir wollen uns keinen Stempel aufdrücken lassen, sagen Thrice Mice. Es gibt Gruppen, die erkennt man beispielsweise immer an ihrer Art Rhythmus. Das mag seine Vorteile haben, aber uns würde es einengen. Zumal jeder von uns mindestens zwei Instrumente spielt. Wir sind offen nach allen Seiten, und wir finden, dass wir dadurch eine Menge mehr ausdrücken können".

Wie sich das äussert, zeigte die Thrice Mice LP. Sie enthielt vier Stücke. Zunächst das erfolgreiche "Vivaldi". Dann "Jo Joe", die eigenwillige Lebensphilosophie eines Mannes, gegenwartsbezogen, aber ebenso sprunghaft wie diese Gegenwart. Für das dritte Opus stand eine Idee von Joachim Ringelnatz Pate: "Fancy Desire", die Geschichte vom Reh im Park, dass sich als Gipsfigur entpuppt. Und dann "Torekov", ein Stück mit einer ganz eigenartigen Story. Einige Mitglieder von Thrice Mice campierten in Schweden und freundeten sich dort mit einer hübschen Finnin an, die immer, wenn sie zärtlich wurde, in englischer Sprache die unwahrscheinlichsten Dinge erzählte. Die Erzählungen dieser Finnin verarbeite die Gruppe zum Textgerüst des Titels "Torekov", benannt nach dem Ort, wo damals die Zelte standen. Die Aufnahmen zum Album fanden im November und Dezember 1970 in den renommierten Windrose Dumont Studios in Hamburg statt. Zuvor hatte sich die Band auch überregional einen Namen gemacht. So trat sie als eine der wenigen deutschen Bands Ostern 1970 beim Pop- und Bluesfestival in der Hamburger Ernst Merck Halle auf, wo ihnen über 10000 Fans zujubelten.

Noch gigantischer war ihr Auftritt beim legendären Fehmarn-Festival vom 4. bis 6. September 1970, wo auch der letzte Live-Auftritt von Jimi Hendrix vor dessen Tod stattfand, als sie vor 25000 begeisterten Fans spielten. Der berühmte Alexis Korner hatte sie angekündigt und wenige Minuten später vor Begeisterung bei ihnen mitgespielt. Von diesem Auftritt wurden später zwei Titel für eine Wiederveröffentlichung des Albums auf CD verwendet, das beim Label Long Hair Music erschien. Thrice Mice hofften ihren Status als semi-professionelle Band mit dem ersten Album zu verbessern. Anfang 1972 läutete sich jedoch das Ende der Band ein, als Rainer von Gosen aus beruflichen Gründen nach Frankfurt verzog. Die verbliebenen Gruppenmitglieder versuchten mit wechselnden Besetzungen Thrice Mice am Leben zu erhalten, letztlich wurde aber die Auflösung der Band beschlossen. Werner von Gosen und Karl-Heinz Blumenberg spielten mit Altona zwei Alben ein. Nach Beendigung seines Engagements bei der Gruppe Altona kehrte auch Werner von Gosen dem Musikbusiness den Rücken. Karl-Heinz Blumenberg war später mit der Band Leinemann erfolgreich; Wolfgang Buhre blieb als Musiker aktiv; Wolfgang Minnemann verschlug es nach Portugal und Arno Bredehöft verstarb.






WALLENSTEIN - Cosmic Century (Kosmische Musik KM 58.006, 1973)
 
Im Spätherbst 1971 gründete der Kunststudent und klassisch ausgebildete Musiker Jürgen Dollase die Rockgruppe Blitzkrieg. Mit ihm rüsteten der amerikanische Gitarrist Bill Barone, der holländische Bassist Jerry Berkers und der deutsche Schlagzeuger Harald Grosskopf die Truppe auf. Noch vor dem Jahresende 1971 spielte das so entstandene Quartett die vier Themen der ersten Langspielplatte ein. Da eine britische Band den Gruppennamen Blitzkrieg ebenfalls für sich beanspruchte, entschied sich Jürgen Dollase für den Albumtitel "Blitzkrieg" und den neuen Bandnamen Wallenstein, nach dem gleichnamigen Feldherrn aus dem 30jährigen Krieg. Zwar kam bei "Blitzkrieg" manches schon von anderen Gruppen bekannt vor, das Ganze war aber sehr virtuos gespielt und zeigte auf, wozu die Rockmusik fähig sein konnte, wenn andere Musikrichtungen (hier vorzugsweise Klassik bis zu den modernen Im- und Expressionisten) nicht nur collagenhaft eingebaut, sondern in den Kompositionen weiterverarbeitet wurden. Dollase schuf aus dem Geist der Klassik eine Musik, die sich nur gelegentlich gewisser Formprinzipien der Musiktradition bediente.

Im Frühsommer 1972 nahmen Dollase, Barone, Berkers und Grosskopf das zweite Album "Mother Universe" auf, für dessen Plattenhülle die Grossmutter Dollases abgelichtet wurde. Die französische Popzeitschrift Best kürte "Mother Universe" zur LP des Monats, mit der Begründung, dass die Musik von Wallenstein einmalig seki, weil es der Band perfekt gelänge, eine Synthese von reiner, melodischer Musik und hartem, brutalem Rock und unfassbaren, an Wahnsinn grenzenden Empfindungen zu kredenzen. Innerlich zeigten sich Wallenstein jedoch immer wieder zerrisssen, und auch der grosse Durchbruch war nicht zu schaffen gewesen, weshalb sich der Bassist Jerry Berkers, der mit "Unterwegs" eine eigene Platte veröffentlichte, sich von Wallenstein trennte und in der Folge nur noch solo auftrat. In den nächsten Monaten gastierten Wallenstein mit der Show wie bei Alice Cooper - lackierte Fingernägel, geschminkte Gesichter (Pressetext) als Trio in der Schweiz und in Frankreich. TV-Auftritte im französischen, österreichischen und Schweizer Fernsehen schlossen sich an. Durch die Sendung 'Klatschmohn' und ein 70-minütiges WDR-Porträt wurden Wallenstein auch in Deutschland am Fernsehen vorgestellt. Vom Mai bis zum August 1973 bediente Dieter Meier den Wallenstein-Bass, danach kam Jürgen Pluta in die Band. Im Juni wurde der Geiger Joachim Reiser als fünftes Wallenstein-Mitglied integriert. Mit Pluta und Reiser spielten Wallenstein am 16. September 1973 auf dem German Rock Festival in Krefeld und waren dort eine der grossen Attraktionen. Noch im selben Jahr erschien "Cosmic Century", das dritte Wallenstein-Album und das erste Werk des Symphonischen Rock Orchester Wallenstein.

Nach langer Besinnungszeit spielten Wallenstein als letzte Gruppe des Labels Kosmische Musik im Januar 1975 das Album "Stories, Songs & Symphonies" ein, mit dem Bandchef Jürgen Dollase eine eigene Idee von allverbindender Musik zu verwirklichen suchte. Das Ergebnis, eine unharmonische Mischung aus Klassik, Jazz und Rock, fand jedoch beim Publikum keinen Anklang. Mitte 1975 verliess der Gitarrist Bill Barone die Band in Richtung USA, und auch der Schlagzeuger Harald Grosskopf (später gelegentlich Mitspieler von Klaus Schulze) trennte sich von Wallenstein. Mit den neuen Mitspielern Gerd Klöcker (Gitarre) und Nicky Gebhard (Schlagzeug) erschienen Wallenstein im Herbst 1975 auf einer sehr erfolgreichen Frankreichtournee. Im Frühjahr 1976 verabschiedete sich auch der Geiger Joachim Reiser. Danach wurde es wieder still um Wallenstein. Erst eine Herbsttournee - zu der auch ein gelungener Auftritt beim 'First Dortmunder Rockdream Festival' am 2. Oktober jenes Jahres gehörte - brachte die Band wieder ins Gespräch.

Musikalisch neu gewandet stellten sich Jürgen Dollase (Keyboards), Gerd Klöcker (Gitarre), Jürgen Pluta (Bass) und Nicky Gebhard (Schlagzeug) von Mitte April bis Ende Juni auf einer Deutschlandtournee vor, zu der auch ein Auftritt beim Deutschrock-Festival in Krefeld an Pfingsten gehörte. Auf der gleichzeitig erschienenen LP "No More Love" (dem auf der Plattenhülle abgebildeten Paar fehlten jegliche Geschlechtsteile) stellte sich das Quartett befreit vom Pathos vergangener Tage vor, blieb aber musikalisch flau und konzeptlos. Nach einem Konzert in Hildesheim am 26. Mai 1978 entliess Jürgen Dollase alle Mitspieler und bereitete mit neuen Musikern einen Richtungs- und Stilwandel vor. Mit Joachim 'Kim' Merz (Gesang), Pete Brough (Gitarre), Michael Dommers (Gesang), Terry Park (Bass) und Charly Terstappen (Schlagzeug) nahm er bereits Mitte 1978 zehn Eigenkompositionen auf, die mit den relativ kopflastigen ersten vier Wallenstein-Produktionen nicht zu vergleichen waren. Die Langspielplatte "Charline" machte deutlich, dass sich Wallenstein für einen kommerzielleren Weg mit gradlinigem Rock, einfacher Melodieführung und mehrstimmigen Gesang entschieden hatten.

Am 10. November stellte sich die neue Wallenstein-Besetzung mit dem aktuellen Pop/Rock-Repertoire erstmals öffentlich in der Mönchengladbacher Kaiser Friedrich-Halle vor. Ihr Auftritt am 7. Dezember beim Dortmunder 'Sound & Music Festival' wurde vom WDR aufgezeichnet und in der Rockpalast-Sendung vom 27.Dezember 1978 ausgestrahlt. Nach einer Frühjahrstournee 1979, bei welcher die Gruppe gefeiert wurde wie sonst nur ausländische Bands (Zeitschrift Pop), und einem Auftritt in der Musiksendung 'Disco' kam die Gruppe zu ihrem ersten und einzigen Singlehit: "Charline" kletterte bis auf Rang 17 in den deutschen Popcharts. Im Sog des Single-Erfolges gaben Wallenstein 1979 mehr als 200 Konzerte, so auch etwa am 12. August 1979 auf dem Loreley-Festival und dem Festival in Pforzheim. Dazu kam am 10. August 1979 ein TV-Auftritt in der Sendung 'Szene'. Auch die im Oktober veröffentlichte LP "Blue Eyed Boys" entstand nach dem neuen Dollase-Konzept: "Eine straight spielende Rhythmussektion, ein prägender Lead-Gesang und ein hervorragender Satzgesang". Der gefällig arrangierte und durchsichtig produzierte Pop-Rock war kommerziell überaus erfolgreich. So verkaufte auch die Single-Auskopplung "Don't Let It Be" mehr als 10000 Exemplare.

Ab 1.1.1980 waren Wallenstein bei EMI unter Vertrag. Dort erschien bereits im März das Album "Fräulein"; bestückt laut der Zeitschrift Musik Express mit Pop sauberster Machart. Die Band promotete das neue Songmaterial auf einer grossen Deutschlandtournee und besuchte, gemeinsam mit den Scorpions, auch die Benelux-Länder, Frankreich, Österreich und die Schweiz. Zwischenzeitlich setzte sich der Gitarrist Pete Brough ab, um in Südafrika ein Mitglied der Gruppe Clout zu heiraten. Jürgen Dollase, Texter, Komponist und Produzent aller Wallenstein-Werke, war 1980 Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule Aachen. Mit der gegen Ende 1980 veröffentlichten Single "Lady In Blue" kam es zum ersten kommerziellen Einbruch. Auch das Album "Sssss ... top", obwohl deutlich Rock-orientierter konzipiert und weitgehend spieltechnisch hervorragend gestaltet, konnte am schwindenden Hörerinteresse nichts ändern. Von März bis Juni 1981 gingen Wallenstein letztmalig auf Tournee. Dann wurde die Band, wie zahlreiche andere auch, von der Neuen Deutschen Welle überspült. Mit englischen Texten, erkannte Dollase, war nichts mehr zu machen. Die 1982 gestarteten Versuche mit deutschen Textzeilen blieben in der Schublade. Ende 1982 schloss Dollase das Kapitel Wallenstein ab: "Ich denke gern daran zurück, weil ich immer von dieser Musik gelebt habe. Aber nun bin ich froh, dass Schluss ist".


Anfang der 80er Jahre erwachte Jürgen Dollase's Faible fürs Kochen und Geniessen durch einen Besuch in dem Pariser Künstler-Restaurant La Coupole. Daneben widmete er sich ab 1988 intensiv der Malerei, zeigte jedoch seine Ölgemälde keinem Galeristen. Seit etwa 1993 wuchs auch sein Interesse am Kochen. Johannes Gross, der damalige Herausgeber der Zeitschrift Capital, ermutigte ihn in den 90er Jahren zu Publikationen auf dem Gebiet der Gastronomiekritik. Bald darauf begann er mit seiner Tätigkeit als Restaurantkritiker. Er arbeitete unter anderem mit den Meisterköchen Hans Stefan Steinheuer und Ingo Holland zusammen an einem Buchprojekt sowie 2007 mit Joachim Wissler für eine Kochdokumentation im Fernsehen. Dollase veröffentlicht seit 1999 regelmässig gastrosophische Kolumnen und Artikel. Den Anfang machten von 1999 bis 2004 kulinarische Texte und Gastronomiekritiken auf der Seite Stil des Feuilletons der FAZ. Von 2004 bis 2016 schrieb er dort die wöchentliche Kolumne 'Geschmacksache'. Seit 2002 schreibt Dollase auch für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Gastronomiekritiken (Kolumne 'Hier spricht der Gast') und Serien wie 'Das besondere Restaurant'.

Von 2010 bis 2014 kamen eine kulinarische iPhone-App, von 2010 bis Ende 2015 die Online-Kolumne Esspapier (mit einer wöchentlichen Buchrezension) dazu. Neben der Arbeit für die FAZ schrieb Dollase für den Feinschmecker von 2002 bis 2010 die Serie 'Küchengeheimnisse', deren Rezepte und Analysen teilweise im Feinschmecker-Bookazine Nr. 9 (mit Harald Wohlfahrt) zu finden sind. Ebenfalls im 'Feinschmecker' schrieb er von 2002 bis 2010 die Kolumne 'Wiederbesucht'. In der Kunstzeitung erschien von 2007 bis 2008 die dem Schaffen von Spitzenköchen gewidmete Serie 'Telleranalyse' und von 2008 bis 2009 die Serie 'Fast Forward', die die Kochavantgarde untersuchte. 2008 begann Dollase auch die Zusammenarbeit mit der neu in deutscher Sprache erschienenen Weinzeitschrift 'Fine European Wine Magazin' mit der Serie 'Wein und Speisen'. Seit 2009 schreibt er für das vierteljährlich erscheinende, von Fotograf Thomas Ruhl herausgegebene Magazin 'Port Culinaire' eine Serie über die Avantgarde-Küche.





Feb 4, 2025


ROCCO - Rocco (20th Century Records T-505, 1976)

Der neuseeländische Maori-Soulsänger Leo De Castro, der sich vom progressiven Rock seiner früheren Band Friends abwandte, begann als Solokünstler mit einer bunten musikalischen Mixtur, die aus Elementen des Funk, des Soul, des Rock und auch dem Blues einen ziemlich interessanten und abwechslungsreichen Cocktail servierte. Es war ein Stil, den der Musiker für den Rest seiner Karriere verfolgen würde. Das De Castro Line-Up wurde von Steve Webb und Rob Gray (beide Keyboards), dem ehemals bei den Bands Carson und der australischen Rock'n'Roll-Legende Daddy Cool tätig gewesenen Lan 'Willy' Winter (Gitarre) und John Young (Bass) komplettiert. Später zog Leo De Castro nach Sydney, wo er sich der Funk Band Johnny Rocco anschloss. Die Band benannte sich nach dem gleichnamigen Bösewicht, den der Schauspieler Edward G. Robinson im Film 'Key Largo' aus dem Jahre 1948 spielte. Diese in Sydney ansässige Gruppe von Jazz- und Funk-Musikern spielten eine LP ein, zusammen mit einem der wenigen Maori-Sänger, die sich in den 70er Jahren in australischem Soul-Funk und anderer Musik einen Namen machen konnte. De Castro spielte in einigen weiteren Bands mit, aber mit relativ wenig Erfolg.

Wie viele urbane indigene Musiker auf der ganzen Welt, die von der europäischen Kultur beeinflusst wurden, hatten auch Maori-Musiker oft eine Heimat in der afrikanischen Musik-Diaspora gefunden:Soul, Funk, Reggae und seit einigen Jahren auch Hip Hop. De Castro's Einflüsse waren jedoch wesentlich bodenständiger und folgten dem damals gerade in Australien sehr populären Boogie Rock, der seine Wahlheimat ziemlich fest im Griff hatte. Die ursprüngliche Version der Johnny Rocco Band, die im Februar 1974 gegründet wurde, bestand aus Mark Punch (Gitarre, Gesang; Ex-Mother Earth), Tony Buchanan (Saxophon; Ex-Daly Wilson Big Band), Tim Partridge (Bass; Ex-King Harvest, Mighty Kong) und Russell Dunlop (Schlagzeug; Ex-Levi Smiths Clefs, SCRA, Mother Earth). Sie waren eine der ersten australischen Bands, die Funk und Soul in das Pub Rock-Format integrierten. Leo und Mick Kenny (Keyboards; Ex-Levi Smiths Clefs) traten Ende 1974 zusätzlich der Gruppe bei. Die Band nahm eine erste Version des Stücks "Heading In The Right Direction" auf, die gemeinsam von Mark Punch und Garry Paige geschrieben worden war. Die Sängerin Renée Geyer machte das Lied später durch eine eigene Version berühmt.

Die Johnny Rocco Band war vor allem live eine ziemliche Attraktikon. Das ergab sich zuerst einmal aus dem Umstand heraus, dass die Gruppe zeitweise mit einiger personeller Verstärkung auftrat, bei deren Gelegenheit sie manchmal fast schon ein veritables Big Band Format angenommen hatte, was dazu führte, dass bekannte und weniger bekannte Titel öfters mal zu richtig ausgedehnten Jam-Variationen ausuferten. Insbesondere Bläsersätze und viele Keyboard-Einlagen prägten den Live-Sound und verliehen ihren Songs dadurch einen sehr breit gefächerten Charakter. Besonders auch De Castros Live-Stimme hatte es dem immer zahlreicher werdenden Publikum angetan - auf Tracks wie "Baby's Gonna Make It" klang er beispielsweise schon fast tiefschwarz und brauchte sich vor Konkurrenten aus den USA überhaupt nicht zu verstecken.

Zu der Zeit trat die Gruppe oft auf, sammelte so auch viele Erfahrungen und bereitete sich lange darauf vor, dieses Album aufzunehmen. Der Original-Gitarrist Mark Punch war gerade zu Renée Geyers Band gegangen, aber er war noch bei der Johnny Rocco Band geblieben, um mindestens zwei der Tracks für das spätere Album mit aufzunehmen - Songs, die er mitgeschrieben hatte: "Heading In The Right Direction", das bald eine Hit-Single für Renée Geyer auf deren Soloalbum "Ready To Deal" wurde, sowie "Sweet Kisses", das Geyer später ebenfalls aufnehmen würde (für ihr Album "Winner"). Das hervorragend produzierte Album präsentierte auch ein paar tighte Instrumental Funk-Workouts mit Jazz-Touch, toller Flöte und ein früher Talkbox-Klassiker mit dem Titel "Number 43", sowie grossartige Percussion-Einlagen von Sunil De Silva. Das später schlicht "Rocco" betitelte Werk wurde ein ganz formidables und stilistisch sehr breit ausgelegtes Album.

Während das Album in Australien auf dem Kleinlabel The Ritz Gramophone Company veröffentlicht wurde, kam auch ein internationaler Deal mit dem amerikanischen Plattenlabel 20th Century Records zustande. Die Band wurde in der Folge schlicht in Rocco umbenannt, und es wurde ein Vertriebs- und Managementvertrag mit der Reizner Music Corporation unterzeichnet. Die Singleauskopplung "Heading In The Right Direction" mit der B-Seite "Funky Max" erschien im August 1975. Harris Campbell hatte Punch abgelöst, der später ebenfalls zur Renée Geyer Band wechselte. Die Johnny Rocco Band veröffentlichte das Album "Rocco" im Mai 1976, das eine zweite Single "Gonna Have A Good Time" mit der B-Seite "Who's This Guy" abwarf. Trotz etlicher weiterer toller Songs auf dem Album wie "Funky Max" oder "Rocco" blieb der Gruppe jedoch der grosse Durchbruch verwehrt, wohl auch, weil die grosse Funk-, Soul- und Disco-Welle zu jenem Zeitpunkt insbesondere in den USA bereits am abklingen war. Rocco kamen wohl einfach etwas zu spät mit ihrem Album, was angesichts der tollen Musik und der absolut tighten und fetten Produktion wirklich schade ist. Weil sich somit ein weitreichender Erfolg nicht abzuzeichnen schien, trennte sich die Gruppe Rocco schliesslich Ende 1976. 

Leo De Castro gründete in der Folge die Kiwi-Band Cahoots mit Tui Richards (damals Ex-Powerhouse), Billy Rylands (Gitarre, Ex-Freshwater und Stevie Wright Band), Phil Pritchard (Gitarre; Ex-Highway und Miss Universe), George Limbidis (Bass, Ex-Highway und Miss Universe) und Doug McDonald (Schlagzeug, Ex-Powerhouse). Im Mai 1977 wurde die Band als 'Leo De Castro And Rocco' aktiv. Am Ende des Jahres war es dann die Leo De Castro Band. Es folgte eine erneute Umbenennung in Heavy Division im Jahre 1978 mit Richards, Russell Smith (Gitarre, Ex-Firma Caine, Mighty Kong, Billy T), Tim Partridge (Bass,  Ex-Kevin Borich Express) und John Watson (Schlagzeug). Nennenswerte und zählbare Erfolge blieben jedoch aus, weshalb der hervorragende Sänger Leo De Castro im Endeffekt ein rein australisches und neuseeländisches Phänomen blieb.





FIVE DOLLAR SHOES - Five Dollar Shoes
(Neighborhood Records NRS-47002, 1972)

Sie hatten vielleicht ein wenig den Sex-Appeal der New York Dolls, viel musikalisches Poprock-Gebräu und schmissen noch eine gehörige Portion Glam Rock hinzu. Dass diese Kombination scheitern würde, war nicht unbedingt vorauszusehen, zumal sich der klassische Glam Rock 1972 gerade in den Startlöchern befand. Interessant war vor allem die Tatsache, dass hier eine Band angetreten war, die mit kräftiger Unterstützung damaliger Profimusiker ein Album einspielte, das sich in qualitativer Hinsicht so gar nicht hinter der grossen und wesentlich prominenteren Konkurrenz zu verstecken brauchte. New York City war damals ohnehin das angesagte Pflaster für die ersten richtigen Glam Rock Bands, und die Truppe um den später auch für den legendären Jobriath Boone aktiven Musiker Gregg Diamond, der auch bei The Creatures spielte, präsentierte auf diesem leider einzigen Album durchaus Songs von Weltklasse-Niveau. Zusammen mit den weiteren Musikern Mike Millius, Tom Graves, Jim Gregory und Scott Woody war die Band Five Dollar Shoes in und um New York durchaus recht populär. Ihr gleichnamiges Album wurde in den legendären Electric Lady Studios in New York City's Greenwich Village aufgenommen. Der Umstand, dass laut nie verstummen wollenden Gerüchten bei den Aufnahmesessions damals auch die beiden in der Band Wicked Lester aktiven Musiker Gene Simmons und Paul Stanley als Background Sänger beteiligt gewesen sein sollen, also jene beiden Hauptakteure der später so erfolgreichen Formation Kiss, machte dieses Album schon früh zu einem begehrten Sammelobjekt insbesondere brettharter Kiss-Fans.

"Five Dollar Shoes": Das war schlussendlich eine jener Platten, die man ungefähr zu Mitte der 70er Jahre schon als 5 Mark-Ramschplatte an den Wühltischen allüberall finden konnte. Inzwischen dürfte die Platte äusserst selten sein, und man findet sie nicht mehr unbedingt an jeder Ecke. Obwohl die Platte damals floppte, war sie allerdings wirklich super. Gerade wenn man sich heute solche Platten anhört, dann kann man sich echt fragen, ob der Musikmarkt damals - 1972 - wirklich so übersättigt war, dass man solche Perlen quasi einfach links liegen lassen konnte. Es gab hier durchaus Parallelen zu Mott The Hoople, frühem 70er Rolling Stones-Rock und eben jede Menge frühen Glam Rock zu hören. Vielleicht waren Five Dollar Shoes schlicht und einfach zu früh mit ihrem Album. Womöglich hätten sie ein Jahr später wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als die erste Glam Welle so richtig Fahrt aufnahm. Hört man sich nämlich ihre exzellenten Songs an, so kann man sich diese durchaus irgendwo zwischen damaligen T. Rex und New York Dolls vorstellen.

Rockig und insbesondere exzellent abgemischt offenbarten sich dem Hörer hier zehn absolut zeitlose, und all die Jahre hindurch ziemlich aktuell gebliebene Gassenhauer, die samt und sonders über so etwas wie Hit-Charakter verfügten. Aufgenommen übrigens von keinem Geringeren als Eddie Kramer in den bereits erwähnten Electric Lady Studios, was alleine schon die hohe Qualität der Band verriet. Die Band bestand aus dem Top-Gitarristen Scott Woody, dem Bassisten Jim Gregory, dem Harper und Vokalisten Mike Millius, dem nicht minder exzellenten Keyboarder Tom Graves und dem eingangs erwähnten, sehr versierten Schlagzeuger Gregg Diamond. Von den anderen Musikern der Band gab es später keine nennenswerten Gastspiele in der Rockmusik mehr. Gregg Diamond aber machte sich einen Namen in der Disco-Szene. Das Musikmagazin Billboard bezeichnete ihn gar als einen wahren Pionier der Disco-Musik.

Gregg Diamond hatte bereits einige Jahre vor Five Dollar Shoes im Musikgeschäft gearbeitet, bevor ihm in der zweiten Hälfte der 70er Jahre im Zuge der Disco-Welle der Durchbruch als Produzent und Musiker gelang. Als Schlagzeuger arbeitete unter anderem für die Folk-Sängerin Melanie und den Singer/Songwriter Michael Wendroff. Ausserdem gehörte Diamond zur Band The Principal Creatures rund um den Glam Rock-Sänger Jobriath. In dieser Funktion spielte er auch auf dessen zweitem Album "Creatures Of The Street" mit. Diamonds kommerzieller Durchbruch gelang im Jahre 1976 mit einer Albumproduktion für die eigentlich als Pornodarstellerin bekannt gewordene Sängerin Andrea True. "More, More, More" enthielt mit dem von Diamond geschriebenen Titelsong einen weltweiten Hit, der sich als Disco-Klassiker etablierte und über die Jahrzehnte auch in zahlreichen Filmen Verwendung fand. Diamond arrangierte sämtliche Aufnahmen der LP, ausserdem spielte er unter anderem Klavier und Perkussion. Gemixt wurde das Album von Tom Moulton. Mit Andrea True feierte Gregg Diamond weitere kleinere Hits: "Party Line" (1976) und "N.Y. You Got Me Dancin'" (1977) standen hoch in den amerikanischen Disco-Charts.

Noch 1976 folgte eine Zusammenarbeit mit George McCrae auf dessen Album "Diamond Touch". Danach gründete Diamond sein Studio-Projekt Bionic Boogie, das ihm mit wechselnden Musikern einige Hits in den Disco-Charts bescherte. Besonders erfolgreich war die erste LP "Bionic Boogie" (1977), die sich als einzige seiner Werke auch in den Top 100 der Billboard Albumcharts platzieren konnte. Besondere Aufmerksamkeit erhielt das Cover des Albums, das eine futuristisch gekleidete Frau zeigte, die an einem mit ihrer Brust verbundenen Metallregler drehte und so scheinbar langsam die Temperatur oder Lautstärke in ihrem Körper erhöhte. Die Songs "Dance Little Dreamer" und "Risky Changes" standen 1978 drei Wochen auf Platz eins der Disco-Charts, die folgenden Alben "Hot Butterfly" (1978, unter anderem mit Luther Vandross) und "Tiger Tiger" (1979, mit Jocelyn Brown) waren ebenfalls in den Diskotheken gefragt. Diamond veröffentlichte auch unter seinem Namen zwei Alben; "Star Cruiser" (1978) schaffte den Sprung in die Top Ten. Als Produzent wurde Gregg Diamond 1977 auch für Gloria Gaynors Album "Glorious" verpflichtet. Nachdem die Disco-Welle ihren Höhepunkt überschritten hatte, zog sich auch Gregg Diamond aus dem Musikgeschäft zurück.


Der Gitarrist Scott Woody spielte als Studio- und Tourmusiker einige Jahre beim deutschen Musiker Klaus Nomi, der Sänger Mike Millius, der bereits 1969 ein nur wenig beachtetes Soloalbum veröffentlicht hatte ("Desperado", UNI Records), zog sich ganz zurück, während sich der Bassist Jim Gregory einigen Plattenproduktionen und -projekten von Gregg Diamond anschloss und 1987 auf einem Album von Peter Wolf (The J. Geils Band) mitspielte. Das von Pacific Eye & Ear designete Frontcover Artwork war äusserst geschmackvoll gezeichnet und mit abgerundeten Kanten versehen ein echter Hingucker. Leider gibt es die wundervolle Platte von Five Dollar Shoes bis heute nicht in einer restaurierten Version zu kaufen, weder als CD, noch als Wiederveröffentlichung auf Vinyl. Doch wer sich einmal die Mühe macht, nach der Original-LP umzusehen wird belohnt mit 10 erstklassigen Rock Songs, die zwar dem Geist der Zeit entsprachen, heute aber rückwirkend noch immer sehr frisch und zeitgemäss wirken. Es zeigt sich eben oft erst viele Jahre später, wie gut manche Songs doch einmal waren, wenn man sie sich noch mehr als vier Dekaden später genüsslich reinziehen kann, und sie dabei noch immer so zeitlos und interessant klingen wie damals. "Five Dollar Shoes" ist eine sträflich unterbewertete Platte, damals wie heute. 







HARMONIUM - Les Cinq Saisons (Celebration Records CEL-1900, 1975)

Die kanadische Band Harmonium aus Québec startete anfänglich als Folk-Gruppe mit französisch gesungenen Liedern, bevor sie sich stärker dem progressiven Rock zuwandte und 1975 mit ihrem zweiten Werk ein Konzeptalbum vorlegte, das im weitesten Sinne als Progressiver Folkrock bezeichnet werden kann. Vom ursprünglich akustischen Trio zur fünfköpfigen Gruppe erweitert, kreierten die Musiker um Sänger und Songschreiber Serge Fiori eine akustische Welt, die aus fünf Jahreszeiten besteht. Dabei widmeten sie jeder der bekannten vier Jahreszeiten je einen Song, sowie einer fünften Jahreszeit namens "Harmonium" fast eine ganze LP-Seite im Longtrack "Histoires sans Paroles".

Das Album "Les Cinq Saisons", das auch unter dem etwas längeren Titel "Si On Avait Besoin d'Une Cinquième Saison" bekannt ist, startet mit "Vert" (grün), das logischerweise den Frühling akustisch begrüsst. Und das tut der Song mit einer verhaltenen Flöte, die im Verlaufe des Songs weitere intrumentale Unterstützung erhält durch die weiteren Instrumente der Band, und dieser Einstieg ist sehr natürlich, fröhlich unbekümmert und wiederspiegelt den Frühling gekonnt und harmonisch. Der Sommer-Song "Dixie" geht dann in eine leicht jazzige Richtung, erinnert ein bisschen an den typischen Vaudeville-Sound der 40er Jahre, swingt auf sehr lockere Weise und ist zwar eher untypisch für die Band, jedoch sehr "summerlike" und man spürt das Flirren der Hitze förmlich aus den Noten. Der Herbst heisst hier "Depuis L'Automne" und ist ein Longtrack, der es auf über 10 Minuten Lauflänge schafft, all die abwechslungsreichen Stimmungen des Herbstes gekonnt abzubilden, angefangen vom noch lieblichen Spätsommer über die sich ändernden Farben der Natur bis hin zum kalten, feuchten und grauen Novembermorgen. Den Spannungsbogen kredenzen die Musiker hier gekonnt mit Arrangementspielereien und erzeugen damit abwechslungsweise September-Unbekümmertheit, über erste Oktober-Melancholie bis hin zur November-Depression, die man auch wirklich spüren kann. Der Winter schliesslich heisst dann "En pleine Face" (im ganzen Gesicht) und lässt einem die Kälte an den Backen spüren, aber auch die Schönheit einer verschneiten Winterlandschadft vor dem geistigen Auge erkennen.

Das Paradestück dann Harmonium's selbst erdachte fünfte Jahreszeit, dokumentiert und spürbar gemacxht im Longtrack "Histoires sans Paroles", das eine über 17 Minuten lange akustische Reise durch viele unterschiedliche klimatische Erfahrungen bietet: Von heiss über kalt, von trocken bis verregnet: Hier erlebt die Seele des Hörers alle Höhen und Tiefen gleichzeitig, nicht hinter- oder nacheinander, sondern bunt und wild zusammengenommen. Die Band spielt hier gekonnt mit Gefühlen, mit Stimmungsschwankungen und mit gefühlvoll inszenierten Wechseln im musikalischen Gesamtbild, die trotz manchem vertrauten Klangbild wie zum Beispiel einem klar bei Mike Oldfield belehnten instrumentalen Thema, das auch auf dessen LP "Tubular Bells" hätte sein können, trotzdem immer kompakt und harmonisch bleiben und den Zuhörer am Ende in wundervoller Behaglichkeit zurücklässt, nachdem eine Tour de Force der Empfindungen nach etwas mehr als einer Viertelstunde das Seelenwetter wieder zur Ruhe kommen lässt. Für die erhabensten Momente nicht nur hier, sondern bei allen Stücken dieser wundervollen LP sorgen die Flöte, das Mellotron und die akustische Gitarre, die bei diesem Werk sehr stark eingesetzt werden. Der Gesang ist eher verhalten, hilft meist vor allem die Stimmungen mit Worten zu bekleiden und ist insgesamt äusserst spärlich vorhanden. Den grössten Teil der Platte hört man instrumentale Musik, was es dem Hörer erlaubt, seine eigenen Gefühle in der gehörten Musik zu suchen und zu finden, was eine sehr schöne Erfahrung ist bei diesem Werk.

Diese LP hat das gewisse Etwas. Dieses bestimmte Element an Nachhaltigkeit, das es fühlbar, spannend und unvergessen macht. Vielleicht ein bisschen wie Jethro Tull's "Thick As A Brick", auch wenn Harmonium den folkigen Anteil in ihrer Musik noch stärker gewichtet als der manchmal doch eher rockige Ian Anderson mit seiner Truppe. Das Musikmagazin Rolling Stone listete 2015 das Werk auf Rang 36 der 50 besten, je veröffentlichten Progressive Rock Platten.