Nov 30, 2016


GRAHAM PARKER AND THE RUMOUR - Heat Treatment 
(Vertigo Records 6360 137, 1976)

Obwohl Graham Parker schon als Jugendlicher von einer Karriere als Rockmusiker träumte, musste er sich nach seinem Schulabschluss zunächst mit Jobs als Tankwart, LKW-Fahrer oder in einer Gummischlauchfabrik über Wasser halten. Ab 1970 spielte er in verschiedenen erfolglosen Bands, die von Spanien bis nach Marokko tourten. 1975 kehrte Parker nach London zurück, wo ihm der Chef von Stiff Records Dave Robinson die Möglichkeit gab, einige Demos aufzunehmen. Zudem machte Robinson Graham Parker mit der gerade gegründeten Band The Rumour bekannt, die aus Brinsley Schwarz (Gitarre), Martin Belmont (Gitarre), Andrew Bodnar (Bass), Bob Andrews (Keyboards) und Stephen Goulding (Schlagzeug) bestand. Sie sollten fortan für die nächsten fünf Jahre Parker's Begleitband bilden. Graham Parker And The Rumour spielten einen sparsamen und gitarrenbetonten Bluesrock, der sich gleichzeitig stark mit Soul und Rhythm'n'Blues vermischte. Besonders Parker's rauhe Stimme verlieh den Songs einen ganz markanten Touch. Diese Musik entfaltete vor allem auf der Bühne ihre besondere Wirkung, sodass Graham Parker And The Rumour sich schnell zu einer der beliebtesten Live-Bands in England entwickelten.

Parker's Begleitmusiker waren alte Hasen. Sie spielten schon in den frühen 70er Jahren als Brinsley Schwarz einen Pubrock-orientierten Country-Rock, der ziemlich erfolgreich war und auch einige bekannte Songs abwarf. Aus dem Dunstkreis von Nick Lowe und Dave Edmunds, die sich ebenfalls in diesem musiklaischen Bereich weiterentwickelten, entstand ein neuer, typisch britischer Musikstil, der sich schliesslich als Pubrock etablieren konnte, und den neben der Gruppe Brinsley Schwarz etwa auch Bands wie Killburn & The Highroads (die frühe Band von Ian Dury), Ace, Ducks Deluxe oder auch die Kursaal Flyers zu spielen pflegten. Als Pub Rock wurde letztlich vor allem die in London und Essex entstandene Spielart des Rock bezeichnet, die primär von Mitgliedern der Arbeiterklasse ausging und sich vor allem durch eine Club-Atmosphäre und den dadurch möglichen engen Kontakt zwischen Musikern und Publikum auszeichnete. Musikalisch war Pubrock vor allem eine Rückbesinnung auf die 60er Jahre, als die Beat- und Rhythm'n'Blues-Welle eine rege landesweite Livemusik-Clubszene hervorbrachte.


Der technologische Fortschritt, die in Gigantomanie ausartenden Bühnenshows und grössere Zuschauerzahlen hatten zu einer Diskrepanz zwischen den beteiligten Musikern und einem Teil des kritischen Publikums geführt. Der Superstar-Rock um Pink Floyd, Genesis, David Bowie, Deep Purple hatte ein an ehrlicher Musik interessiertes Publikum nach Alternativen suchen lassen. Dieses Publikum hatte wenig Interesse an immer komplexer werdenden musikalischen Strukturen und immer grösser werdendem Bühnenequipment. Als Gegenteil davon hatte der hierzu alternativ entstandene Pubrock vor allem im Untergrund Erfolg: Einfache Musik, dargeboten in kleinen Clubs und Kneipen, die ohne wohlkalkulierte Stage Shows und exzessive Soli auskam, dafür aber vor allem darauf ausgelegt war, durch solide musikalische Virtuosität den Funken zum Publikum überspringen zu lassen. Gruppen wie Starry Eyed And Laughing wurden durch komplexe Vokalarrangements und 12 String Rickenbacker-Sounds zu Publikumslieblingen. Die aus Australien nach London emigrierten Max Merritt & The Meteors überzeugten durch einen vielschichtigen Sound, der sowohl Anleihen aus dem Rhythm'n'Blues, dem Country Rock und dem Pop vereinte.

Allgemein wird der Pubrock heute als einer der Vorläufer des Punk gesehen, der ab 1976 in England populär wurde. Lee Brilleaux half mit einem Darlehen von 400 britischen Pfund, das Plattenlabel Stiff Records zu gründen, Joe Strummer spielte mit den 101ers Pubrock, bevor er mit seiner Gruppe The Clash erfolgreich war. Eddie & The Hot Rods waren zunächst eine reine Pubrock Band, bevor auch sie mit Punk Rock assoziiert wurden. Kommerziell gesehen war der Pubrock bis auf wenige Ausnahmen (Dr. Feelgood kamen mit ihrem Livealbum "Stupidity" auf Platz 1 der Charts, Eddie & The Hot Rods landeten mit "Do Anything You Want To Do" einen Hit) nicht erfolgreich. Das lag zum einen an der Rückbesinnung des Pubrock an die geerdete Musik der 60er Jahre, als auch an dem wenig spektakulären Auftreten der Pubrock Bands. Pubrock war auf der einen Seite zwar innovativ, indem durch Bands wie The 101'ers oder Dr. Feelgood die Grundlagen für den britischen Punk Rock gelegt wurden, auf der anderen Seite aber zu intellektuell, um kommerziell erfolgreich zu sein.

Der klassische Pubrock bediente ein weites musikalisches Spektrum von Rhythm & Blues über den Country Rock bis hin zum Power Pop. Trotz aller musikalischer und stilistischer Unterschiede hatten Pubrock und Punk den direkten Publikumsbezug gemeinsam, der sich in der sogenannten progressiven Musikszene nicht mehr feststellen liess. 1976 erschien Graham Parker's erste LP "Howlin’ Wind", die von Nick Lowe produziert worden war. Das Album bestach sowohl durch die routinierte und doch lockere Spielweise von The Rumour als auch durch Parker's aufwühlende Songs. So rechnete er zum Beispiel im forschen Reggae-Rock "Don’t Ask Me Questions" mit der Kirche ab, während er im Stück "Back To Schooldays" die englische Gesellschaft und ihr Bildungssystem kritisierte. Schmerz, Bitterkeit und Angst zogen sich wie ein roter Faden durch die Songs von Graham Parker And The Rumour. "Howlin’ Wind" sowie das Nachfolge-Album "Heat Treatment" wurden jedoch trotz viel Lob und Anerkennung durch die Musikkritiker kommerzielle Misserfolge. Erst die EP "The Pink Parker" (1977) brachte der Band den ersten Hitparadenerfolg. Auf der wiederum von Nick Lowe produzierten LP "Stick To Me", ebenfalls 1977 veröffentlicht, überraschten Graham Parker And The Rumour mit poppigeren und grosszügigeren Arrangements und liessen stärker Reggae-Elemente in ihre Musik einfliessen. 1979 erschien das Album "Squeezing Out Sparks", das sich gut verkaufte und von den Kritikern als Parker's bis dahin beste Arbeit gefeiert wurde. Auch das Live-Doppelalbum "Parkerilla" (1978) und das Studioalbum "The Up Escalator" (1980) kamen beim Publikum gut an. Letztere sollte Parker's letzte Zusammenarbeit mit seiner langjährigen Begleitband The Rumour werden, von der er sich im August 1980 trennte.

"Heat Treatment", obwohl erst das zweite Album der Band, liess indes bereits erkennen, wie hochprofessionell und musikalisch versiert die Musiker um Graham Parker bereits agierten. Ihr kerniger und emotionsgeladener Rhythm'n'Blues, vollgepfropft mit Soul und Emotionen, lässig aus der Hüfte runtergespielt, wirkte absolut überzeugend und wusste vom ersten Stück bis zum Schlussakkord zu unterhalten. Graham Parker sang und spielte Gitarre, diese höchstverärgerte Stimme, die seine Songtexte glaubwürdig und exzellent transportierte - und die gelegentlich eingesetzten verschärften Saxophone, gespielt von den Gastmusikern John Irish Earle und Albie Donnelly - alleine diese zwei Essenzen verhalfen den Songs zu messerscharfen Rhythm'n'Blues-Nummern, die einfach packend und höchst tanzbar machten. "Heat Treatment" swingt und rollt einfach herrlich. Ab geht die Rock-Post beispielsweise bei "Help Me Shake It" oder "Hotel Chambermaid", aber natürlich sind bei dieser Musikform, die ich bedenkenlos als edelsten Pub Rock bezeichnen möchte, auch die langsameren, teils klagenderen Titel wie "Fool's Gold" oder "Hold Back The Night" von zeitloser Schönheit. Das Titelstück lebt vor allem von den tollen Bläsersätzen, die auch eine Melodie spielen, die sofort im Gedächtnis hängen bleibt.


Die zweite Seite der originalen LP zeigte mit den beiden Songs "Pourin' It All Out" und "Back Door Love" am besten den Einfluss von Nick Lowe, die beiden Titel zeigen einen wundervollen und hundertprozentig überzeugenden Country Rock britischer Ausprägung, wohingegen "Something You're Going Through" sich des Reggae-Stils bediente, den Graham Parker bereits auf dem Album zuvor beim Song "Don't Ask Me Questions" gezeigt hatte. Der geschmeidige Rhythm'n'Blues-Schunkler "Fool Gold", der gegen Schluss hin ebenfalls einen dezenten Reggae-Touch erhielt, zeigte wieder wundervolle Bläsersätze, die Graham Parker's Sound auf diesem Album schon mal ab und zu tiefschwarz erscheinen liessen. Ich persönlich halte "Heat Treatment" für das ausgewogenste Album von Graham Parker And The Rumour. Auch meine ich, es ist das Album, welches praktisch nur Ohrwürmer bietet, die sich angenehm in den Gehörgängen festkrallen. Eine Platte zum mitsummen und mitsingen. Als musikalischen Vergleich würde ich vielleicht einen Mix aus Brinsley Schwarz, Bruce Springsteen mit einem kleinen Schuss Otis Redding nehmen. "Heat Treatment" ist für mich persönlich ein Inselalbum, mithin auch die beste Scheibe von Graham Parker, da durchgängig groovend und von bemerkenswerter Songschreiber-Qualität.

Anfang der 80er Jahre liess sich Graham Parker schliesslich in New York nieder, wo er 1982 das Album "Another Grey Area" einspielte, für das er jedoch erstmals schlechte Kritiken erntete. Mit "The Real Macaw" konnte er sich ein Jahr später bei der Fachpresse wieder rehabilitieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch Graham Parker's kommerzieller Abstieg zum sogenannten 'Kritikerliebling' begonnen, also zu einem jener Musiker, die zwar von Musikfachleuten begeistert benotet werden, beim Publikum aber scheitern. "Steady Nerves" (1985) und "Mona Lisa's Sister" (1988) wurden seine letzten Platten, die sich in den LP-Charts platzieren konnten. Parker verlor seinen Plattenvertrag und musste seine hochgelobten Alben wie das sanft folkige "12 Haunted Episodes" (1995) auf immer kleineren Plattenlabels veröffentlichen. Seiner Enttäuschung darüber tat er 1996 auf dem Album "Acid Bubblegum" in dem Song "Sharpening Axes" kund, in dem er die Zeile 'Die Masse interessiert sich nicht für mich, und ich interessiere mich nicht für die Masse' sang. 2007 erschien die CD "Don’t Tell Columbus", und am 16. März 2010 wurde "Imaginary Television" veröffentlicht. In dem Film 'Immer Ärger mit 40' aus dem Jahre 2012 hatte Parker einen Cameo-Auftritt. Paul Rudd spielte in diesem Film den Inhaber eines Plattenlabels, das kurz vor der Pleite steht und seine letzte Hoffnung in Graham Parker setzt. Was für eine Ironie des Schicksals.




Nov 29, 2016


MILES DAVIS - Four & More (Recorded Live In Concert) 
(Columbia Records CS 9106, 1964)

Im Tonstudio verfolgte Miles Davis, insbesondere in den 60er Jahren, fast immer eine konzeptuelle Vision. Das macht Live-Aufnahmen von ihm wie etwa "Four & More" umso wertvoller. Sie präsentieren den legendären Trompeter zumeist völlig befreit von thematischen Anforderungen und Beschränkungen. Er spielt sich auf der Bühne frei mit einem Programm brillianten Materials, das er später zugunsten eines experimentelleren Spiels vernachlässigte. Intensiv und aggressiv-dynamisch produzierte der legendäre Miles Davis einen wahren jazzmusikalischen Sturm in der Philharmonic Hall im New Yorker Lincoln Center am 12. Februar 1964. Der nicht minder berühmte Pianist Herbie Hancock swingte, Saxophonist George Coleman liess die Muskeln spielen und alle liessen sich antreiben vom Schlagzeuger Tony Williams (The Tony Williams Lifetime). Das Konzert-Dokument "Four & More" ist eine der letzten Aufnahmen, auf der Davis mit einem vollen Set an Standards zu hören ist. An diesem Abend klangen er und seine hochkarätigen Mitmusiker absolut aufregend und dynamisch.

Nach einer Übergangsphase mit einer kalifornischen Band ("Seven Steps to Heaven") stellte Davis in New York mit Ron Carter und George Coleman ein neues Quintett auf, zu dem der Pianist Herbie Hancock und der erst 17 Jahre alte Schlagzeuger Tony Williams gehörten. Im Sommer 1963 ging die neue Formation auf Europatournee und gastierte auf dem Jazzfestival in Antibes ("Miles Davis in Europe"). Am 12. Februar spielte die Band in der Philharmonic Hall, der heutigen Avery Fisher Hall, bei einer Benefiz-Veranstaltung des NAACP, des Congress of Racial Equality und des Student Nonviolent Coordinating Committee für die Wähler-Registrierung in Mississippi und Louisiana. Miles Davis verstand seine Beteiligung an dem Konzert auch als seine Form der Erinnerung an den im November des Vorjahres ermordeten John F. Kennedy. Diese Tat hatte die Hoffnungen vieler Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung zunichte gemacht. Miles Davis hatte immer wieder seine Bewunderung für die Kennedys zum Ausdruck gebracht.

Dieses Konzert strotzte vor Energie. Das Tempo war in der Tat echt berauschend. Abgesehen von der erstaunlichen Virtuosität fällt es buchstäblich schwer, beim Anhören nicht mit beiden Füssen zu klopfen und ruhig sitzen bleiben zu können. Der Klang ist hervorragend: Grosse Tiefe und Breite der Klangbühne, Punch und Drive vom Bass, Klarheit und Biss in den oberen Registern ohne jede Härte - einfach eine schiere Gewalt an äusserst transparentem Sound, der den Zuhörer fast körperlich spüren lässt, was hier passierte - als wäre er selbst mitten im Publikum gesessen. Miles bedient sich überall: Er schafft Stakkato-Volleys und schwankende Glissandos, wie sie sich in dieser Direktheit selten auf anderen Aufnahmen findet. George Coleman ist von demselben Geist, obwohl er eine eher klassische, saubere Spielweise bevorzugt. Miles Davis sagte später, er beurteile dieses Konzert als Coleman's beste Performance. Der Schlagzeuger Tony Williams wiederum ist ein dynamisches Kraftpaket, als wäre er zusammengeschweisst mit Ron Carter, das Rhythmusgefühl der beiden ist wahrhaft berauschend. In diesem Zusammenhang ist Herbie Hancock schliesslich Derjenige, der am meisten Anstrengung braucht, um diese dynamisch unbändige Rhythmusgruppe adäquat zu bedienen, um so ein Feuer zu entfachen, auf welches der Meister dann mit seiner Trompete soliert. Das gelingt zu jeder Zeit phantastisch und zeigt am Ende vier absolute Ausnahme künstler vereint und wie aus einem einzigen Guss.

Die Auswahl der an diesem Abend im Lincoln Center präsentierten Titel bieten einerseits einen wilden und anstrengenden Hörgenuss, aber auch - beispielsweise mit dem herzlichen "My Funny Valentine" den Kontrapunkt: Ergreifende und atemberaubende Nachtmusik. Mir persönlich gefällt dieses Album besser als "Kind Of Blue". Das Personal ist zwar auch dort überzeugend und hat mit dem Werk sicherlich einen der grössten Jazz-Klassiker überhaupt hervorgebracht. Trotzdem ist die Dynamik eines Konzerts von Miles Davis immer eine Welt für sich. Da kommt eine so extrem körperlich fühlbare Kraft auf die Bühne, dass man nicht glauben mag, dass hier von nur vier Musikern eine solch umfassende, gross intonierte Musik dargeboten wird. Gerade "My Funny Valentine": Wie oft mag Miles Davis dieses Stück schon gespielt haben, bevor er es an diesem Abend live vortrug ? Jedenfalls spielt er es hier mit einer Inbrunst, als wäre es die Premiere, als hätte er sich unmittelbar zuvor unsterblich in diesen Song verliebt.

Interessanterweise wurden die Live-Aufnahmen jenes denkwürdigen Konzerts in zwei Alben untergebracht. Einerseits die forcierten Stücke, die als "Four & More" veröffentlicht wurden, und die eher zurückhaltenden Titel wie besagtes "My Funny Valentine", die dann in der etwas später auf den Mark gebrachten LP "My Funny Valentine - Miles Davis In Concert" zu finden waren.

Der Miles Davis Biograph Peter Wiessmüller schrieb, dass die "Four & More" Titel zu schnell gespielt worden seien, was auf Dauer eintönig wirke, während das Titelstück "My Funny Valentine" von einer grossen Tiefe und Brillanz sei, die bislang von Miles nicht erreicht wurde. DEr Jazzmusiker Ian Carr (Nucleus) wiederum hielt das Album für eines der wirklich grössten Aufnahmen eines Livekonzertes. Das Album enthielt alle jene wunderschönen und in verhaltenen Tempi vorgetragenen Balladen von Miles Davis, die auf "Four & More" fehlten. Besonders fiel dies bei den Veränderungen auf, die die 15 Minuten lange Version von "My Funny Valentine" gegenüber der Einspielung vom September 1959 mit Bill Evans erfuhr: diese Version war von einer kraftvollen Bewegung bestimmt, weg von der Romantik (der Evans-Version) zu mehr Abstraktion. Der Gewinn einer differenzierten emotionalen Expressivität war unüberhörbar. Trotz der gelegentlich nur versteckten Referenzen an die Originalmelodie und der sehr freien harmonischen Annäherung (Davis: "Wir benutzen den ganzen Titel wie eine Tonskala") wurde die Struktur durchgehalten. Im Gegensatz zu früheren Aufnahmen spielte Miles Davis mit offenem Horn in höchsten Registern, ohne seine persönliche Note, den lyrischen Sound zu verlieren.

Die Schnelligkeit einiger Stücke dieses Abends war auch teilweise den Spannungen geschuldet, die sich in Fragen des kostenlosen Spielens stellten. Einige Bandmitglieder wollten lieber ihre Gage haben und dann selbst entscheiden, wie viel sie spendeten, aber Miles Davis blieb in der Sache stur. Herbie Hancock beschrieb später den psychischen Druck, der auf den jungen Bandmitgliedern lastete, weil sie zum ersten Mal in der neuen Carnegie Hall spielten. Der Tenorsaxophonist George Coleman verliess bald darauf die Band. Nach einer Interimslösung mit Sam Rivers, der Davis bei einer Japantournee begleitete, aber nicht ins Bandkonzept passte, erreichte Miles Davis, dass sein Favorit Wayne Shorter hinzustossen konnte. Damit entstand im September 1964 das klassische, sogenannte "zweite" Miles Davis-Quintett, das bis 1968 wirkte.

Die Live-Aufnahmen aus der "Philharmonic Hall" erschien wie eingangs erwähnt im Jahre 1964 zuerst unter dem Titel "Miles Davis: Four & More - Recorded Live in Concert" (Columbia Records CS 9106) und als "My Funny Valentine - Miles Davis in Concert" (Columbia Records CS 9253). Bei der späteren CD-Veröffentlichung wurden die beiden Alben dann erstmals unter dem Titel "The Complete Concert 1964: My Funny Valentine + Four & More" zusammengefasst. Die Aufnahmen erschienen auch zusammen mit weiteren Live-Aufnahmen der Miles Davis Formationen von 1963/64 auf der Columbia Records Zusammenstellung "Seven Steps - The Complete Columbia Recordings of Miles Davis 1963-1964" (Columbia Records C7K 90840). Wer sich also gerne den ganzen Abend dieser Live-Aufnahme anhören möchte, der sollte vielleicht besser auf die CD-Version zurückgreifen. Das pure Dynamik-Vergnügen erhält allerdings doch jener Hörer, der sich für die "Four & More" Platte entscheidet.













Nov 27, 2016


SAVOY BROWN - Getting To The Point (Decca Records SKL 4935, 1968)

"Shake Down", die erste LP von Savoy Brown, wurde in gerade mal drei aufeinanderfolgenden Tagen in 30 Stunden gemieteter Studiozeit eingespielt. "Shake Down" war eine Kollektion zumeist weniger bekannter Coverversionen berühmter schwarzer Bluesmusiker wie B.B. King, John Lee Hooker oder Willy Dixon. Das Paradestück der LP war ihre Interpretation des Traditionals "Shake 'Em On Down" in Ueberlänge, ein schnell und hektisch gespielter Boogie, der Savoy Brown's späteren eigentümlichen Blues/Boogie-Stil vorwegnahm. Der Song hatte mit 6 Minuten Laufzeit bereits 1967 eine Ueberlänge, mit der andere Bands zu der Zeit noch nicht arbeiteten, ausser vielleicht John Mayall mit seinen Bluesbreakers. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung zu den Aufnahmen waren die Musiker als Begleitband für John Lee Hooker unterwegs und absolvierten in dieser Eigenschaft in 21 aufeinanderfolgenden Tagen 24 Konzerte. Die Band war im Sommer 1967 längere Zeit in Dänemark unterwegs, und in dieser Zeit bekam Bandleader Kim Simmonds ein Drogenproblem, was zur Folge hatte, dass Kim's Bruder Harry Simmonds, der für die Band das Management besorgte, Kim nach der Rückkehr nach England aus der Band Savoy Brown feuerte.

Allerdings kam er schon einige Zeit später zurück in die Band, und blieb bis zum heutigen Tage die einzige personelle Konstante. Man kann daher sagen: Kim Simmonds ist Savoy Brown. Spielten neben Simmonds in der Anfangsphase der Gruppe und auch auf deren Erstlingsalbum "Shake Down" noch die weiteren Musiker Brice Portius (Gesang), Martin Stone (Gitarre), Ray Chappell (Bass), Leo Mannings (Schlagzeug) und der bekannte Pianist Bob Hall als Gastmusiker mit, so setzte in der Uebergangsphase von ihrer ersten LP "Shake Down" 1967 zum Zweitling "Getting To The Point" von 1968 bei Savoy Brown ein Trend ein, der sich in der Zukunft wie ein roter Faden durch die Bandhistorie ziehen würde: Die Gruppe wurde von zahlreichen Personalwechseln heimgesucht, sodass sich der Musikstil von Savoy Brown in den folgenden Jahren dramatisch verändern sollte. Eine Konstante in stilbildender Hinsicht war bei Savoy Brown während ihres gesamten Bestehens daher nie auszumachen. Die Band konnte immer wieder mit neuen Besetzungen und damit einhergehend neuen musikalischen Ausrichtungen überraschen. Rein musikalisch war die Veränderung gegenüber dem Debutalbum bei "Getting To The Point" noch nicht so dramatisch. Personalpolitisch dagegen sehr.

Ray Chappell und Brice Portious waren die ersten Musiker, welche die Band verliessen. Der schwarze Sänger Brice Portious wurde ersetzt durch Chris Youlden, für Bassist Ray Chappell kam Bob Brunning, der zuvor für einige Wochen bei Fleetwood Mac beschäftigt war. Chris Youlden war zuvor bei Shakey Vick's Big City Blues Band als Sänger engagiert. Als nächstes verliess der Schlagzeuger Leo Mannings die Band und wurde ersetzt durch Hughie Flint, der zuvor bei John Mayall's Bluesbreakers und in der Band von Alexis Korner beschäftigt war. Schliesslich ging auch noch Martin Stone, der zweite Gitarrist neben Kim Simmonds. Er wurde ersetzt durch Lonesome Dave Peverett. Rivers Jobe am Bass und Roger Earl am Schlagzeug waren dann erneute Personalwechsel, und diese Wechsel gingen alle innerhalb von nur einigen Monaten von statten.

Produzent Mike Vernon arrangierte Studioaufnahmen für die Band, mit dem Ziel, die nächste LP für Decca Records einzuspielen. Mit lediglich zwei Fremdkompositionen diesmal, dafür mit sieben selbst verfassten Titeln konnte man die LP "Getting To The Point" als das Album bezeichnen, mit welchem Savoy Brown zunächst ihren eigenen Stil gefunden hatten. Die eigenen Nummern hatten aber immer noch sehr viel von den klassischen Blueskomponisten wie Willie Dixon und John Lee Hooker. "Mr. Downchild" war ein grandioser Blues, bei welchem Chris Youlden schon früh seine grosse Klasse zeigen konnte. Fast schon theatralisch und plakativ setzte er hier einen Gesangsstil ein, der die nächsten Jahre so manchen Savoy Brown-Titel prägen sollte.

Auch auf dem zweiten Album gab es wieder einen schnellen Boogie/Blues, diesmal hiess der Titel "You Need Love" und markierte einen der zahlreichen Höhepunkte dieser auf der einen Seite recht ausgereiften, aber auch immer noch sehr rohen, archaischen Platte, die aber schon eindeutig dem Begriff 'British Blues Rock' zugeordnet werden konnte, zumindest dem, was man zu dem damaligen Zeitpunkt, etwa ab Mitte 1968 unter diesem Begriff verstand. Es war die Geburtsstunde einer neuen Bewegung, die sich musikalisch an den Wurzeln des Blues orientierte. Junge Musiker, die den alten Blues für sich neu entdeckten. Bands wie Chicken Shack, Fleetwood Mac oder als Pioniere dieser neuen Spielweise des Blues Alexis Korner's Blues Incorporated förderten diese Rückbesinnung, die schliesslich viele neue Talente hervorbrachte und lange nachhallte.

Erste Bluesplatten kamen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs durch amerikanische Soldaten nach Grossbritannien. Schon in den 50er Jahren war Blues, besonders Ma Rainey und Bessie Smith sowie Boogie Woogie, bei Jazzfans bekannt und geschätzt. Schon damals erkannten die Plattenfirmen den wachsenden Markt und veröffentlichten, meist auf Decca Records, einem Unterlabel von EMI Records, Blues- und Jazzplatten. Bekannt wurde der Blues auch durch die Skifflemusik Ende der 50er Jahre. Der Musiker Lonnie Donegan coverte Bluesnummern von Leadbelly. Als der Skiffle-Boom zurückging, wendeten sich viele Musiker dieser Stilrichtung dem reinen Blues zu. Zu diesen Musikern zählten Cyril Davies und Alexis Korner, die beide bei Chris Barber spielten. Davis gehörte der Londoner 'Skiffle Club at the Roundhouse Public House'. Hier traten die ersten amerikanischen Bluesmusiker auf, wie zum Beispiel Big Bill Broonzy. Nach diesen musikalischen Erfahrungen beschlossen die beiden, den Club zu schliessen und ihn einen Monat später als 'The London Blues And Barrelhouse Club' wieder zu eröffnen. Bisher war der British Blues vom akustischen Countryblues beeinflusst, was sich aber nach dem Auftritt von Muddy Waters 1958 änderte. Davis und Korner steckten ihre Instrumente an und gründeten die Gruppe Blues Incorporated.

Bei Blues Incorporated begann die spätere Prominenz der englischen Musikszene, es war bei der Gruppe üblich, dass jeder, der gerade Lust hatte, bei den Auftritten einsteigen konnte. Bei Blues Incorporated spielten unter anderem Mick Jagger, Charlie Watts und Brian Jones von den Rolling Stones, die späteren Mitglieder von Cream Jack Bruce und Ginger Baker sowie Graham Bond und Long John Baldry. Wenn man diese Liste von Musikern betrachtet, wird Korner's Titel 'Vater des britischen Blues' verständlich. Die Band übersiedelte später in den Marquee Club und nahm im Juni 1962 das erste britische Bluesalbum "Rhythm'n'Blues From The Marquee" mit Nummern von Muddy Waters, Jimmy Witherspoon und Leroy Carr auf, das allerdings nicht im Marquee, sondern in den Decca Studios im Londoner Stadtteil West Hampstead eingespielt wurde. Am Jahresanfang 1963 verliess Cyril Davis Blues Incorporated und gründete seine eigene Band, die mehr in Richtung Jazz tendierte (Cyril Davis' All Stars). Die Tradition des elektrischen Blues führten dann Bands wie The Rolling Stones, The Yardbirds, The Animals, Fleetwood Mac, Cream und auch Savoy Brown fort. Diesen gelang dann auch der Durchbruch in den Mainstream-Markt.

Der akustische Blues führte im Gefolge des grossen Bluesbooms in den 60er Jahren ein Schattendasein und konnte nie kommerziell so erfolgreich werden wie die elektrischen Gruppen. Die bedeutendste Persönlichkeit des britischen Blues in den 60er Jahren war John Mayall, dessen Band The Bluesbreakers die wichtigsten englischen Musiker versammelte: Eric Clapton, Mick Taylor, Aynsley Dunbar, Jack Bruce, Mick Fleetwood, John McVie und Peter Green. Obwohl die Bluesmusik in den späten 60er Jahren hinter Bluesrock und Heavy Metal, zwei Stilrichtungen, die sich aus dem British Blues entwickelten, verschwand, blieb sie doch am Leben, da viele amerikanische Bluesmusiker regelmässig nach Grossbritannien kamen. Mitte der 80er Jahre bekam der Blues wieder einen grösseren Stellenwert, ausgelöst wurde der zweite Bluesboom durch The Blues Band, einer Gruppe, die aus vielen ehemaligen Musikern von Manfred Mann bestand, wie Paul Jones, Tom McGuinness, Hughie Flint und Gary Fletcher. Hughie Flint spielte für ganz kurze Zeit ja auch bei avoy Brown in deren Phase des "Getting To The Point" Albums. Der akustische Blues wurde von den Geschwistern Dave Kelly und Jo Ann Kelly hochgehalten. Dave war später auch Teil der Blues Band. Der Bluesboom führte auch zur Entstehung von Bluesfestivals im ganzen Land.

Zurück zur 68er Platte "Getting To The Point": Noch während der Aufnahmen verabschiedete sich der Schlagzeuger Hughie Flint, und für ihn stieg neu Roger Earl in der Band ein. Produziert wurde die Platte vom damals sehr angesehenen Mike Vernon, der auch mit Fleetwood Mac zusammenarbeitete, nebst vielen anderen Vertretern des 'British Blues Boom'. Mit dem bereits beim Debutalbum eingesetzten Gast-Pianisten Bob Hall, der kurz darauf bei der Brunning Sunflower Blues Band einstieg, spielten Kim Simmonds und seine neuen Mitmusiker insgesamt neun Songs ein, die eine klare Weiterentwicklung gegenüber dem Debutalbum sichtbar machten. Der Blues wurde zum Bluesrock, durch das Schreiben eigener Songs erhielten die Nummern einen wesentlich weniger traditionellen Touch, sondern klangen stark modernisiert. Vor allem die Titel, welche Gitarrist Kim Simmonds zusammen mit dem neuen Sänger Chris Youlden geschrieben hatte, waren im damalign Sinne durchaus als progressiv zu bezeichnen. Das bereits erwähnte "Mr. Downchild", aber auch das monotone, leicht theatralisch wirkende "Flood In Houston", welches das Album eröffnete, war neu in seiner Ausrichtung und klang nun doch anders als die Musik der grossen Meister aus den Vereinigten Staaten. Das rein instrumental gehaltene Titelstück, das Kim Simmonds beim gefühlvollen Solieren zeigte, oder auch die von Bob Hall zusammen mit Chris Youlden komponierte Klaviernummer "Big City Lights", die ausser Piano- nur noch Gitarrenklänge zeigte, konnte überzeugen. Schliesslich ist auch "Honey Bee" von Muddy Waters einer der Highlights auf "Getting To The Point", das genauso wie "Big City Lights" nur mit einem minimalistischen instrumentalen Arrangement auskam und so den Spirit der grossen Vorbilder zumindest teilweise noch zu transportieren vermochte.

Das "Rolling Stone Magazine" schrieb zur Veröffentlichung über diese bemerkenswerte British Blues Platte damals folgendes: "Savoy Brown does not come on with complex technical artistry and does not attempt to overplay its music. Its strength lies in its group rapport and dynamics. Vocalist Chris Youlden is one of the better blues singers to emerge from England. His voice has the resonance and inflection so necessary to establish the power and emotion which is the Blues".






Nov 26, 2016


CHRIS REA – Blue Guitars (Ear Books 93840632, 2005) 

"Blue Guitars" nannte Chris Rea ein wirkliches Mammut-Werk, das der Musiker am 14. Oktober 2005 veröffentlicht hatte. Das opulente Werk war in Form eines Buches aufgebaut, welches elf CDs, eine DVD und Abzüge von Gemälden, die Rea angefertigt hatte, enthielt. Ebenso hatte Chris Rea jede Einzelne der elf CDs beschrieben und es waren die Songtexte zu allen Liedern in dem hochwertigen, gebundenen Buch abgedruckt. Chris Rea legte Wert darauf, dass diese Box keinem irgendwie gestalteten missionarischen Zweck in Sachen Blues diesen sollte, aber im Grunde hatte er ein so ähnliches Ziel mit dieser Grosstat praktisch erreicht. Der Ausgangspunkt dieses grossartigen Projekts war, den Blues in den wichtigsten und musikgeschichtlich relevantesten Schattierungen nachzuzeichnen, zusammenzufassen in einem einzigen Werk, um so zu verdeutlichen, wie sich der Blues aus verschiedensten ursprünglichen Quellen bis heute entwickelt hat. "Blue Guitars" war das letzte von fünf Blues-Projekten, welche Chris Rea nach der Heilung von seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs im Jahre 2002 begonnen hatte. Er veröffentlichte dieses ambitionierte Projekt, das die Geschichte der Blues-Musik von der Entstehung bis hin zu den 60er und 70er Jahren darstellen sollte, als ein Medienpaket, das er selbst als sogenanntes "Earbook" ("Ohrbuch") bezeichnete. Er gründete dazu eigens eine eigene Plattenfima, Jazzee Blue/EarBooks, nachdem seine ursprüngliche Plattenfirma ihn während seiner Erkrankung fallen gelassen hatte. Er nutzt den neuen Vertriebsweg, um sich von den Zwängen der Musikindustrie loszusagen.

Die elf Alben enthielten zusammen 137 Songs, die der Musiker zwischen 2004 und 2005 geschrieben und aufgenommen hatte. Inspiriert von Bill Wyman und dessen Buch "Blues Odyssey" machte der Sänger und Gitarrist sich bei diesem Album auf den eigenen Weg, um die Geschichte des Blues nachzuerzählen. Er begann bei den afrikanischen Wurzeln und ging bis zum modernen Blues und Bluesrock, dessen zeitgemässe Ausprägung noch heute aktuell ist. Dabei verwendeten Chris Rea und seine Mitmusiker fast durchwegs authentische Instrumente der jeweiligen Ära und auch die brandneuen Lieder versuchten die Themen zu bedienen, die in jener Zeit für den Blues prägend waren. Einige der mittlerweile sehr raren Elemente wurden extra für das Album angeschafft. So beschrieb Chris Rea in der Zeitschrift Classic Rock, dass sie für den Chicago-Teil ("Chicago Blues") das Studio so eingerichtet gerhabt hätten, wie es ein Muddy Waters oder ein Willie Dixon damals vorgefunden habe. Extra für die Aufnahmen wurden zwei äusserst seltene Verstärker der Marke Supra angeschafft, wie sie damals üblicherweise in den Tonstudios vorzufinden waren. Die Lieder selbst wurden weitestgehend live im Studio aufgezeichnet, wobei für jede CD etwa ein Monat Aufnahmezeit in Anspruch genommen wurde. In Deutschland wurde das Earbook sogar auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Das Projekt war auch kommerziell ziemlich erfolgreich, auch wenn es durch das ungewöhnliche Format erwartungsgemäss nicht in den Hitlisten auftauchte.

Lässt man einmal die wirklich schöne Aufmachung dieses Buches beiseite (was kaum geht, denn das ist ein echter Hingucker), und liest man das ganz beiläufig im hintersten Winkel des Buches geschriebene Kleingedruckte, dann liest man unter der Angabe der am Projekt beteiligten Musiker folgendes: Chris Rea: Schlagzeug, Bass, Balafon, Perkussionsinstrumente, Mandoline, Banjos, Calimbas, Dobro, Akustische Slide Gitarre, Mundharmonika, elektrische Gitarren, Bottleneck Slide Gitarre, Vibes, Klavier, Hammond Orgel und "Old Recordings" (Samples aus uralten Bluesmotiven). Zwar waren auch noch einige weitere Musiker mit dabei, aber das Meiste hatte Chris Rea selber eingespielt, und das ist doch beachtlich, denn eines stellte ich beim Anhören auch noch der letzten, elften Disc fest: die gebotene Musik verharrte auf gleichbleibend hohem musikalischen Niveau, zeigte immer wieder sehr viel authentischen Charakter, den man nicht einmal nur einem einzigen Künstler zugetraut hätte. 

Schon CD 1 mit dem Titel "Beginnings", dem afrikanischen Ur-Blues gewidmet, war eine einzige Versuchung der Sinne. Eine akustische Offenbarung, deren Authentizität mit letzter Konsequenz perfekt umgesetzt wurde. Hier hatte in der Tat ein Könner seinen Lebenstraum erfüllt. Dieses Album, welches am Anfang des Projektes stand, führte den Hörer auf den Schwarzen Kontinent, wo der Blues seine Wurzeln hat. Die Zeiten waren schwierig und die Sklaverei war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Viele Farbige wurden verkauft und auf andere Kontinente verschifft, oftmals verraten von ihren eigenen Leuten. Die Musik selbst hatte dabei wenig mit dem zu tun, was wir heute als Blues kennen. Die traurige und dunkle Grundstimmung jedoch war damals schon gegeben.

Ob mit "Country Blues", der dank dem unterlegten Vinylknistern und dem wattierten End-Mix an die originalen Schellackplatten etwa eines Jimmy Rogers erinnerte, oder der akustischen Reise den Mississippi hinunter ("Louisiana & New Orleans"): Immer hatte man während des Zuhörens das Gefühl, dass hier ein Mensch total mit seiner Musik verschmolzen ist: Fühlend, leidend, liebend. Die Südstaaten der USA hatten den wohl grössten Einfluss auf die Kultur der Sklaverei in jenen Zeiten. Als die Menschen aus Afrika dorthin verschifft wurden, begann ein regelrechtes Martyrium. Sie lebten in Angst, arbeiteten hart bis zum Umfallen und gewöhnten sich daran, keinen Wert in der Gesellschaft zu haben. So entstand der Country Blues, welcher musikalisch sehr an die Klänge der Südstaaten erinnert. Von Rassismus, Alkoholismus und der Suche nach einem besseren Leben sprechen zum Beispiel die Titel "KKK Blues", "Too Much Drinkin'" und "Ticket For Chicago". Gesellschaftliche Probleme begannen dem Blues ein neues Gesicht zu geben. Bei manchen Musikhistorikern existiert fälschlicherweise die Vorstellung, dass der Blues seinen Ursprung in Louisiana, New Orleans oder dem Mississippi Delta habe. Als die Musik aus Afrika in diese Gegend kam, wurde sie mit lokalen Instrumenten, zum Beispiel der Klarinette, verschiedenen Blechblasinstrumenten, dem Klavier, Banjo und Akkordeon vermischt und es entstand der charakteristische New Orleans Blues. Dieser wurde für viele moderne Blues-Musiker die Basis ihres Schaffens.

Spätestens bei CD 4 ("Electric Memphis Blues") erkannte man dann auch, dass Chris Rea nicht einfach nur stumpf irgendwelche Blues-Spezifikationen herunterleiern wollte, sondern auch thematisch (und geographisch) nie aus dem Ruder lief oder sich irgendwo in der eingeschlagenen Thematik verlor. Memphis klang genauso unangestrengt wie zuvor der "Country Blues", hatte aber einen kulturhistorisch differenten Hintergrund. In gut besuchten Bars war es manchmal ein Ding der Unmöglichkeit, gegen die Menge anzuspielen. Das änderte die elektronische Revolution in der Musik. Der Blues bekam neue Töne, Orgel, Keyboard und Gitarre wurden auf einmal elektronisch betrieben und ein neues Aufnahmezeitalter in den Tonstudios hatte begonnen. Chris Rea machte das im Lied "Electric Guitar" klar, in dem er sang: "Now I can play above the bar noise, Man I'm bigger than the crowd" (Jetzt kann ich lauter als der Krach in der Bar spielen, Mann, ich bin grösser als die Menge). Da wurde kein billiger Effekt gesucht, kein noch so plattes Klischee bedient, nein, hier fand Musik an der Basis des Lebens statt. So hatte Al Green den Soul-Blues seiner Heimat verstanden. Was für eine Liebeserklärung: "Got me an electric guitar - don’t she look so pretty ?" – Gänsehaut pur.

Die CD "Texas Blues" führte den Zuhörer weiter in die heisse, trockene Wüste, aber auch ins musikalische Grenzgebiet von Texmex, Border Radio und Tejano Roots. Der Blues bahnte sich seinen Weg in den sandigen, heissen wilden Westen, mit seinen endlosen Strassen und seiner brennenden Sonne. Die Musik bekam einen neuen Anstrich durch typische Instrumente, wie man sie in den Wüstenregionen der USA kannte, so etwa die Mundharmonika oder die Slide Gitarre, und es wurde so das Lebensgefühl des zweitgrössten US-Bundesstaates deutlich hervorgehoben. Auch das Migrationsproblem sprach Chris Rea in diesem Album an. Im Lied "The American Way" erzählte er die Geschichte eines illegalen Migranten, der versucht, den amerikanischen Traum zu leben. Wie man unschwer erkennen kann, hat gerade so ein Songthema bis heute seine Wichtigkeit nicht verloren und wirkt aktueller denn je.

Im Laufe der Zeit verlagerte sich das Leben immer mehr in die grossen Ballungszentren und die Menschen zogen aus dem Süden weiter in den Norden. Ganz besonders beliebt war dabei Chicago, eine aufstrebende, moderne Stadt, die viel Arbeit und Wohlstand versprach. Auch die Musik zog mit. Sie behielt als Basis den in Louisiana, New Orleans und Memphis geschaffenen Blues-Stil und vermischte sich dann mit Jazzklängen (vor allem dem Saxophon) was sie intensiver und rauer machte. Der "Chicago Blues" (wie die entsprechende CD auch betitelt ist) änderte auch den Schwerpunkt der Texte und fokussierte jetzt mehr Drogen, Sex, Alkohol und Obdachlosigkeit, aber auch die Hoffnungen einer neuen Generation auf ein besseres Leben, besungen zum Beispiel im Song "Chicago Morning". Die Monotonität eines John Lee Hooker traf hier voll auf die verhaltene Jazz-Virtuosität eines Bobby Broom, was ein einzigartiges musikalisches Gebräu, mit viel Mundharmonika ergab. "Chicago Blues" und die nächste Disc mit dem Titel "Blues Ballads" waren teilweise recht artverwandt, denn als das Klavier beim Blues eine immer vordergründigere Rolle einnahm, entstanden die Blues-Balladen, eine ganz ruhige und künstlich drapierte Unterart der einst wilden und regellosen Musikrichtung. Die Musik der zerbrochenen Leben wurde zur Musik der zerbrochenen Herzen. Die Fundamente des Blues aus der Vergangenheit bestanden jedoch weiterhin.

Jede Generation kreierte nahezu eigene Musikstile, die jedoch vielfach auf den klassischen basieren Ausdrucksformen und Elementen basierten. So nahm die Hippie-Bewegung den Blues, beliess ihm seine klassischen Elemente, veränderte jedoch leicht die Hauptinstrumente. Elektrische Gitarren und Banjos hatten nun den Vorrang und aus dem ehemals harten und kantigen Blues machten unter anderem die Künstler, die bei der Plattenfirma Tamla Motown aus Detroit unter Vertrag standen, ein weiches und angenehmes Hörvergnügen. Unter der Bezeichnung "Gospel Soul Blues & Motown" fasste Chris Rea diese praktisch ausschliesslich von Schwarzen Musikern gesungene und gespielte Art des elektrifizierten Blues zusammen: Eine Fundgrube rhythmisch und tanzbarer Kostbarkeiten, wie man sie bis heute pflegt und die bis heute erfolgreich geblieben ist. "Celtic & Irish Blues" wiederum erzählte eine ganz andere Geschichte, hatte aber ebenfalls historischen Hintergrund, einfach nicht in den USA, sondern in Europa, speziell in Irland. Der Blues bahnte sich seinen Weg durch viele Kulturen, so auch durch die der irischen und schottischen Einwanderer. Mit einer melancholischen Grundstimmung, für welche Schotten und Iren sehr bekannt sind, wurden ganz neue Perspektiven für den Blues und seine Entwicklung geschaffen. Traditionelle Instrumente der nordeuropäischen Immigranten fanden Platz und verpassten der Stilrichtung einen keltischen Anstrich.

Im Süden der Vereinigten Staaten wanderte der Blues nicht nur nordwärts in Richtung Chicago, sondern er kam auch nach Lateinamerika. Gleichzeitig brachten die afrikanischen Sklaven den Blues aus der Heimat nach Brasilien, wo er eine eigene Entwicklung durchlief. Es entstand eine Mischung aus Mississippi Blues, dem Bossa Nova und sogar dem Reggae. Doch anstatt von Texten, welche Sonne und gute Laune vermitteln sollten, waren die leitenden Themen in dieser Entwicklungsstufe des Blues eher dunkel und traurig. Davon zeugen die Titel auf der entsprechenden CD mit dem Titel "Latin Blues". Die Zeiten änderten sich immer wieder und überall, Generationen kamen, entwickelten sich und vergingen wieder, und auch der Blues durchlief im Laufe der Jahrzehnte eine deutliche Metamorphose. Nach 200-jähriger Entwicklungsgeschichte ging die Musikrichtung wieder zu ihren Wurzeln zurück. Man hörte wieder das Ursprüngliche, das Alte, heraus.

Vor allem durch die Flower Power-Bewegung zu Ende der 60er Jahre, aber auch mit dem Einsetzen zum Beispiel des sogenannten 'British Blues Revivals', von Grossbritannien ebenso ausgehend wie von den USA etwa durch Musiker wie Alexis Korner oder John Mayall, bekam der Blues neue Elemente, was ihm ein neues Gesicht verschaffte. Die Hippies versahen ihn mit dem Lebensgefühl ihrer Generation und wollten, durch die nicht veränderte Basis, den Vorgängern dieser Musikrichtung ihren Respekt zollen. Diese CD beschloss Chris Rea's Projekt der Blueshistorie, und er zollte darauf speziell den heute bereits zu Legenden gewordenen Musikern und Bands wie den Yardbirds, Them oder John Mayall's Bluesbreakers seinen Tribut. Dieser spezielle und grösstenteils elektrifizierte Bluesrock, den Jimi Hendrix schliesslich zum eklektischen Bluesrock werden liess, fand sich zusammengefasst auf der elften CD "60's & 70's", dem chronologischen Schlusspunkt auf diesem ebenso umfangreichen wie märchenhaften Musikprojekt.

Dem 11 CD's umfassenden Ear Book war auch eine DVD als kleines Extra beigelegt worden, welche den Entstehungsprozess von Rea's Album „Dancing Down The Stony Road“ aus dem Jahre 2002 zeigte. In dem Film erzählte der Musiker über seine schwere Krebskrankheit und auch von seinem Wunsch, ein allumfassendes und quasi ultimatives Bluesalbum zu produzieren. Interviews mit den Bandmitgliedern gaben zahlreiche beeindruckende Aufschlüsse über die Inangriffnahme und die Ausführung dieses ehrgeizigen Projekts und zeichnete den Produktionsprozess des Albums vom Songschreiben bis hin zur Aufnahme nach. Der Musiker Chris Rea hat sich mit diesem Werk selbst ein Denkmal gesetzt. So etwas hat es zuvor nie gegeben, und ein Werk solchen Umfangs wird es wohl auch nicht mehr geben. Unglaublich, mit welcher Hingabe und Kompetenz Chris Rea dieses ehrgeizige Projekt umgesetzt hat. Die optische Aufmachung er Box ist ebenfalls beeindruckend: Auf insgesamt 76 Seiten zeigt Chris Rea nicht weniger als dreissig seiner Gemälde, deren bevorzugter Mittelpunkt stets die Gitarre darstellt. Ausserdem sind in dem Buch sämtliche Texte der 137 Songs nachzulesen, und schliesslich präsentiert der Künstler auch noch Fotos all seiner Gitarren-Modelle, die er bei diesem Projekt zum Einsatz gebracht hat. Ein Traum in Blues.



















Nov 25, 2016


SEA LEVEL - Sea Level (Capricorn Records CP 0178, 1977)

Als der Allman Brothers Keyboarder Chuck Leavell 1977 dieses Plattendebut auf den Markt brachte, war ich erst einmal ziemlich überrascht. Statt vertraute Jam-Klänge seiner Stammformation widmete sich Chuck Leavell hier seiner Leidenschaft für den Jazz-Fusion Sound. Dabei blieb er allerdings zumindest in der instrumentalen Umsetzung den Klängen der Allman Brothers treu. Es gab wohl Bläsereinsätze, die dann punktuiert auch richtig eingesetzt wurden, aber den Hauptfokus richtete Leavell auf das Klavier. Nun erhält eine Jazzaufnahme durch die Dominanz des Klaviers ja oftmals einen sehr gediegenen Touch, auch Atonalität und der Hang zu komplizierten und vertrackten Rhythmik-Ausflügen finden selten Einzug in eine Klavierplatte. Und genauso ist es auch hier: Auf dem Debutalbum von Sea Level, dem eigentlichen ersten Soloalbum ausserhalb der Allman Brothers Band präsentierte sich Chuck Leavell vor allem recht relaxed und elegant, verzichtete auf jedwede Jazz-Hektik und bediente sich auch nicht irgendwelcher Jazz-typischer Stilelemente. Kurzum: Es gelang ihm, ein Album einzuspielen, das in etwa soviel Jazzanteil besass, wie man diesen bei einigen Allman Brothers-Platten durchaus auch schon zu hören bekam. Meist in Zusammenhang mit längeren Jam-Stücken wie etwa den entsprechenden Klassikern "In Memory Of Elizabeth Reed" und "Whipping Post" oder auch bei der legendären "Mountain Jam".

Alleine der Name Chuck Leavell sorgte damals dafür, dass ich diese Platte quasi blind, ohne vorher hineinzuhören kaufte. Ich mochte Leavell's luftige, sehr fröhliche und unangestrengte Art, Klavier zu spielen schon immer. Es gibt so unendlich viele tolle Stücke der Allman Brothers, die erst durch seine Art, die Keyboards zu spielen, zu wahren Perlen gerieten. Er harmonierte auch immer in seinem Zusammenspiel mit Gregg Allman an der Hammond Orgel perfekt. Beim Sea Level Debutalbum liess er allerdings zumeist den Bläsern grosse Flächen, Gitarrensolos waren eher nebensächlich. Durch diesen Umstand wich er am hörbarsten von den Allman Brothers Platten ab: Hier sollte ganz klar das Klavier und die Bläsergruppe die tragenden und ausdrucksstärksten Rollen spielen. Der Gitarrist Jimmy Nalls lieferte denn auch eher dezente Gitarrensounds, die allerdings sehr geschmeidig und immer absolut songdienlich arrangiert und gespielt waren. Nalls war so der perfekte Sideman zum Klavier spielenden Chuck Leavell. Keine allzugrosse Ueberraschung bildete indes die Rhythmusgruppe, mit welcher Leavell dieses Album eingespielt hatte: Bassist Lamar Williams und Schlagzeuger Jai Johanny Johanson gehörten zur Stammformation bei den Allman Brothers. Lamar Williams hatte 1972 den bei einem Motorradunfall tödlich verunglückten Berry Oakley ersetzt, Johanson gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Allman Brothers.

Zu den drei absolut brillianten Musikern gesellten sich die Bläsergruppe, bestehend aus Charles Fairley, Earl Ford, Leo LaBranche, Rudolph Carter und Donald McClure. Diese Bläsergruppe hatte es in sich, denn jeder einzelne dieser Musiker konnte bereits auf eine lange und beeindruckende Karriere zurückblicken. So spielte der Saxophonist Charles Fairley unter anderem in der Band von Big Joe Turner mit und stand bei Guitar Slim, Eddie Bo, Art Neville, Huey "Piano" Smith, Joe Tex und Ted Taylor, nebst vielen Anderen in Diensten. Der die Trombone spielende Earl Ford spielte in der Band von Otis Redding und war Mitglied der Southern- und Dixierock Band Wet Willie, während der Trompete spielende Leo LaBranche bei der Marshall Tucker Band beschäftigt war und danach ebenfalls zu Wet Willie stiess. Der Saxophonist Rudolph "Juicy" Carter wiederum spielte bereits 1971 bei den legendären Fillmore-Liveaufnahmen der Allman Brothers mit und stand immer wieder mal in Diensten der Allman Brothers Band, zumeist auf Tourneen. Schliesslich der Tuba spielende Donald McClure, der nicht im Rockbereich beheimatet, und auch nicht im Jazzbereich tätig war, sondern von der klassischen Musik kam und Mitglied des Susquehanna Symphonic Orchestras war.

Zu den Stücken auf diesem hervorragenden Album: "Rain In Spain" eröffnete die sich erst beim zweiten Hinhören offenbarende Vielseitigkeit der Platte. Dank Chuck Leavell's typischem Piano-Stil hörte man trotz den leicht jazzigen Anleihen immer wieder vertraute Allman'sche Song-Strukturen. Das nachfolgende "Shake A Leg" war einer der wenigen gesungenen Songs. Ein herrlich lüpfiger funky Beat und der zum Mitsingen animierende Refrain "Mama Shake A Leg" machten die Nummer beinahe schon tanzflächenverdächtig. 
Die Adaption des Folksongs "Scarborough Fair" von Simon & Garfunkel stellte mit Sicherheit die grösste Ueberraschung auf dem Werk dar: So wie Sea Level diesen wundervollen Song umarrangiert hatten und jazzig angehaucht präsentierten, hätte er in dieser Spielform gut auch auf einem Randy Newman Album zu finden gewesen sein können. Diese Version gefällt mir von mehreren, die ich kenne, inklusive dem Original von Simon & Garfunkel noch heute am besten. 

"Country Fool" war dann der Song, der irgendwie so gar nicht auf dieses Album passen wollte. Da kam Chuck Leavell mit seinen Musikern tatsächlich mit so etwas wie Country-Feeling herüber, auch wenn der Titel in seiner musikalischen Umsetzung eher noch hin zum Rock'n'Roll tendierte. Hier schimmerte aber letztlich Leavell's Allman Brothers-Engagement am stärksten durch. "Nothing Matters But The Fever" war für mich persönlich dann der beste Song auf der Platte. Leicht mystisch angehaucht, sehr melancholisch, aber trotz bewusster Lässigkeit nicht langweilig. Ein klanglich leicht verfremdetes Piano im Soloteil unterstrich Leavell's Sinn für aussergewöhnliche Spielereien und Tüfteleien und gestaltete diesen Song ebenso ungewöhnlich wie nachhaltig. "Tidal Wave" und "Grand Larceny" unterstrichen schliesslich den Eindruck, dass hier ein Musiker operierte, der zwar jazzige Elemente durchaus zu streuen wusste, insgesamt aber eben doch kein "Genre"-Musiker war. So aussergewöhnliche Musiker wie Chuck Leavell zeichnen sich eben gerade dadurch aus, dass sie sich traditioneller Mittel bedienen, um diese mit Vielseitigkeit, stilistischer Phantasie und einem perfekten Gespür für Feeling so umzuarrangieren, dass sie manchmal zwischen alle Stil-Schubladen fallen.

Insgesamt ist das Debutalbum von Sea Level ein Werk, das für mich in all den Jahren seit seinem Erscheinen immer gewachsen ist und noch heute uneingeschränkt faszinieren kann. Für mich ist das Debutalbum auch das Beste, was Chuck Leavell unter der Flagge Sea Level veröffentlicht hat. Sein späteres Schielen mit dem Kommerz fand ich weniger berauschend, obwohl er einige Zeit später mit "That's Your Secret" einen veritablen Hit in den Vereinigten Staaten landen konnte, der auch mir sehr gut gefallen hatte damals. Nur waren seine folgenden Platten nicht mehr so unterschwellig jazzig und damit elegant und auf eine unangestrengte Weise anspruchsvoll, sondern schon eher nahe an der Unterhaltungsmusik etwa der typischen Westcoast-Poprock Bands zu jener Zeit, was Sea Level insgesamt mit der Zeit eher beliebig erscheinen liess. Die Gruppe existierte noch bis 1981 und löste sich dann auf. Chuck Leavell verblieb bis am Schluss bei den Allman Brothers und spielte daneben auch bei Gov't Mule mit, war als langjähriger Tour-Keyboarder bei den Rolling Stones und unterstützte auf Tourneen und auch auf Platten Eric Clapton, George Harrison und John Mayer.







Nov 24, 2016


MERZY - Rock The Blues (Iceberg Records ICE LP 120, 1991)

Im Jahre 1991 veröffentlichten Merzy, eine dänische Bluesrock-Band ihre zweite Platte, nachdem ihr erstes Album "Merzy" vor allem in Japan ziemlich erfolgreich war. Jenes erste Album war indes nicht gerade eine Ohrenweide, wirkte nochrelativ unausgegoren, auch weil die Band da noch damit beschäftigt war, ihren persönlichen Stil zu finden. Deshalb erstaunte es mich, dass die Band in nur zwei Jahren eine so grosse Entwicklung in Richtung hartem Boogie gemacht hatte, der sich zum Beispiel zu einer Band wie Foghat schon ziemlich adäquat anhörte und nicht mehr zu verstecken brauchte.

"Rock The Blues" - dieser Titel war absolut Programm. Da wurde wirklich mächtig abgerockt. Trotzdem verloren Merzy hier nie ihre Blues-Roots aus den Augen. Der ziemlich forsche und hardrockige Kracher "Good Times" eröffnete das Album mit einem Boogie im Stile von Walter Trout, weiter knallte die Band mit "Out On The Highway", einem Southern Rocker ganz im Stile von Doc Holliday oder Molly Hatchet. "Elmstreet Boogie" war eine Art "Horror-Boogie", deftig gemacht und mit einer feinen Einleitung, die einem an einen der Filme mit Freddie Krüger erinnerte, zumindest an einen Horrorfilm mit echtem weiblichen Schreier.

"Anyway You Want It" war dann ein richtiger AC/DC-Rocker mit einem Intro, das schon sehr verdächtig nach "For Those About To Rock (We Salute You)" klang. "Wild Turkey" gefiel mir persönlich auf diesem Album immer schon am besten. Das war so ein ganz harter, schmieriger Blues, gespielt auf einem einzigen Akkord: Hitzefaktor 50 Grad, wenn die Wüste Arizonas drei Monate lang keinen Regenguss mehr abbekommen hat. "Dreamer" schliesslich war ein Bonus-Track und ebenfalls ein Highlight dieser coolen Scheibe: Eine sich über neun Minuten erstreckende Blues-Ballade, die eigentlich gar nicht so recht zum ansonsten wirklich kernigen harten Bluesrock dieser Platte passen wollte. Die Nummer erinnerte streckenweise hörbar an die Schwedische 70er Jahre Hardrock Band Neon Rose, die damals ähnlich in ihrer musikalischen Ausrichtung spielte.

Nach dem hervorragenden Album "Rock The Blues" folgten zwei weitere Longplayer der Band, und zwar "Bite" im Jahre 1995, das ebenfalls recht gut, aber nicht mehr so knallig wie "Rock The Blues") ausfiel, sowie "Real Good Trouble" (1996(, das zwar relativ glattgestrichen und durchaus schmissig ausfiel und mit dem Stück "Hole in my Soul" einen echten Ohrwurm präsentierte, aber in punkto kernigem Bluesrock an das Werk "Rock The Blues" nicht heranreichte. Diese LP wiederum dürfte in jeder Bluesrock-Sammlung einen Ehrenplatz verdient haben, denn sie bot eine herzhafte und deftige Mixtur aus späteren Bad Company, AC/DC und den härteren Südstaaten Rockbands wie Dog Holliday oder Molly Hatchet.

Band:

Henrik Bjørn - vocals & bass
Tim André - guitar
Mickey Hurricane - drums

Produziert von Merzy & Peter Iversen





Nov 23, 2016


FAMILY - It's Only A Movie (Raft Records RA 58501, 1973)

Die Gruppe Family war eine der besten sogenannten Underground Bands aus England, die ähnlich wie beispielsweise auch die hervorragende Edgar Broughton Band oder Atomic Rooster den Sprung in die 70er Moderne letztlich nicht geschafft haben, obwohl doch eigentlich alles dafür Notwendige vorhanden gewesen war: Qualität, Können, eine sprichwörtliche Vielseitigkeit und ein Gespür für gute Songs. "It's Only A Movie" war das siebte Studioalbum der Progressive Folk- und Rockband Family, die stilistisch hauptsächlich von den beiden Hauptprotagonisten Roger Chapman und Charlie Whitney bestimmt wurde. Es erschien im September 1973 und man würde es kaum glauben, aber noch im selben Jahr fiel die Gruppe auseinander. Dabei hatte sie sich erst einige Monate zuvor neu formiert, und dies zudem mit ausserordentlich tollen neuen Bandmitgliedern, die bereits eine lange musikalische Karriere aufweisen konnten.

Der Pianist Tony Ashton (Remo Four, Ashton, Gardner & Dyke) und der Bassist und Gitarrist Jim Cregan waren bei Family eingestiegen, um die ausgestiegenen Poli Palmer und John Wetton zu ersetzen. Bereits zuvor war auch Jim Weider ausgestiegen, der ehemalige Bandkumpel von Poli Palmer bei der britischen Band The Blossom Toes. John Wetton war bereits zu King Crimson gewechselt, dem der Keyboarder Poli Palmer später folgte. Speziell Tony Ashton sorgte für einen ziemlich frischen Wind im Sound der Gruppe Family, speziell dessen Honky Tonk-ähnlichen Einlagen beispielsweise im Titelstück auf einem herrlichen Schifferklavier zeigten eine völlig neue Seite der Gruppe, die mit ihrem Stück "It's Only A Movie" fast so etwas wie eine Verneigung vor dem grossen alten Hollywood Western präsentierte. Diesen Eindruck vermitteln auch weitere Songs auf diesem Werk, das über weite Strecken tatsächlich fast wie ein Konzeptalbum wirkt, weil einige Songs tatsächlich den typischen Charakter von Film Soundtrack Musik zeigten. Dabei standen manchmal schon fast gesprochene Textpassagen neben mit vielerlei Soundeffekten ausgestattete Lieder, die in einem Film tatsächlich eine gute Figur hätten machen können.

Der hörbarste Unterschied zur Musik von zuvor aber war die klare amerikanische Ausrichtung. Family klangen hier nicht mehr typisch britisch, sondern eher amerikanisch, mit dieser punktgenau eingesetzten Portion Glamour und Unterhaltung, was ihre Musik allerdings keinesfalls schlechter machte. Im Gegenteil: Hätte die Gruppe diese neu eingeschlagene Richtung beibehalten und vielleicht kontinuierlich ausgebaut, hätte es vielleicht doch noch zum grösseren kommerziellen Erfolg gereicht, welcher der Gruppe in ihrer gesamten Karriere leider nie zuteil wurde. In England waren sie immer schon sehr beliebt und recht erfolgreich. Was ihnen immer fehlte, war ein durchschlagender Hit - dieser eine Song, der sie berühmt gemacht hätte. Die im Jahr zuvor aus dem Album "Bandstand" ausgekoppelte Single "Burlesque" war schon ein Schritt in die richtige Richtung. Aber eben: personelle Umbesetzungen bringen auch oft eine stilistische Neuausrichtung, und so konnte die Band keinen adäquaten Single-Nachfolger für das recht erfolgreiche "Burlesque" nachreichen.

Auch dem Album "It's Only A Movie" war kein nennenswerter Erfolg beschieden, weshalb sich das letzte auf der LP befindliche Stück "Check Out", ein bärenstarker, fetter und schleppender Rocker mit einer tonnenschweren Hamondorgel schliesslich als Omen entpuppte: Die Band checkte aus und trennte sich. Charlie Whitney und Roger Chapman arbeiteten weiterhin zusammen und gründeten die Formation Streetwalkers, schafften mit dieser Gruppe den stilistischen Turnaround dann doch und reüssierten mit "Downtown Flyers" im Jahre 1975, nachdem sie bereits im Jahr zuvor mit dem ersten gemeinsamen neuen Album "Chapman/Whitney Streetwalkers" die neue musikalische Ausrichtung in groben Ansätzen präsentiert hatten. Family waren letztlich vielleicht auch das Opfer einer falschen Verkaufsstrategie, respektive einer falsch eingeschätzten Vermarktungspolitik. "It's Only A Movie" hätte gerade in den USA stärker beworben werden müssen, denn der auf dem Album gespielte Rocksound mit etlichen Zitaten der 30er und 40er Jahre, hätte in Amerika bestimmt gepunktet. In den Staaten erschien das Album denn auch auf United Artists: Wiederum Pech für die Gruppe, denn das Label United Artists befand sich dort gerade kurz vor der baldigen Auflösung.

Nichtsdestotrotz befinden sich auf dem Album einige der bemerkenswertetsten Songs der Gruppe überhaupt, denn sie klangen teils frappant frischer als manche zuletzt noch in der alten Besetzung veröffentlichten Titel. Speziell das bluesige,  mit hörbaren Country-Elementen ausgestattete "Leroy",das eine wunderschöne Verschmelzung aus Comedy und warmem Americana-ähnlichem Flair bot. Das geschickt inszenierte "Buffet Tea For Two", eine der typischen Chapman/Whitney-Kompositionen mit einem lässigen Grundgroove und forcierten Zwischenparts. Das recht sexy ausgefallene "Sweet Desirée", ebenfalls ein tolles Chapman und Whitney-Stück, klang wie eine unterschwellig erotische Wiederbelebung des klassischen "Louie Louie"-Themas, während "Boots 'N' Roots" vor allem die herrlich jazzigen, fast Vaudeville-artigen Einwürfe im 30er und 40er-Jahre Glamour-Stil auszeichnete. "Boom Bang" und vor allem das letzte Stück "Check Out" waren dann zünftige und teils mächtige Rock-Nummern, wie sie seit der "Bandstand"-Platte doch auch schon öfters mal ins Repertoire der Band Einzug hielten. Hier kriegte man Meckerziege Roger Chapman in Reinkultur zu hören. Diesen markanten Gesangsstil verwendete Chapman später auch auf den Streetwalkers-Alben, sowie auf seinen Soloplatten immer häufiger. Dieser Gesangsstil wurde zu seinem typischen Markenzeichen und wies einen hohen Wiedererkennungsfaktor auf.

Als beste Stücke auf diesem Album kann ich kaum einen Titel nennen, denn für meinen ganz persönlichen Geschmack ist es das einzige Werk der Gruppe Family, das mit allen Stücken überzeugen kann, wohingegen frühere Werke doch immer mal wieder weniger spektakuläre Songs enthielten, die man schnell vergass oder die einfach zu wenig überzeugten. Vielleicht war das auch mit ein Grund dafür, dass die Band den ganz grossen Durchbruch nicht schaffte. In England war die Gruppe sehr populär, bestritt viele Konzerte und schaffte sich auch in Deutschland so viele Bands, dass davon Roger Chapman später mit seiner eigenen Karriere ganz bestimmt profitierte. Der Shouter mit der Reibeisen-Meckerstimme war hierzulande besonders erfolgreich, wovon gute Plattenverkäufe oder etwa ein legendärer Auftritt auf der Loreley im Rahmen der Rockpalast-Reihe zeugen. "It's Only A Movie" kann ich wärmstens empfehlen. Die Platte begleitet mich schon seit Erscheinen im Jahre 1973.

Das 40-jährige Jubiläum der Bandauflösung beging die Gruppe Family am 1. und 2. Februar 2013 im Londoner O2 Shepherds Bush Empire mit zwei Reunion-Konzerten in der Besetzung Roger Chapman, Rob Townsend, Poli Palmer und Jim Cregan plus einigen Gastmusikern. Zudem waren Family am 16. August desselben Jahres neben Asia und Caravan die Hauptattraktion des Festivals "Rockin' The Park 2013" in Nottinghams Clumber Park.