IAN CARR WITH NUCLEUS - Labyrinth (Vertigo Records 6360 091, 1973)
Ian Henry Randell Carr war ein britischer Jazztrompeter und Flügelhornist. Seit 1982 war er ausserordentlicher Professor für Jazz an der Guildhall School of Music and Drama. Carr erhielt als Kind Klavier- und Trompetenunterricht, bevor er von 1952 bis 1956 Literatur in Newcastle upon Tyne studierte; 1954 gewann er mit der Collegeband einen Preis beim jährlichen Jazzwettbewerb in Liverpool. Nach seinem Militärdienst trampte er zwei Jahre durch Europa, jobbte als Sprachlehrer und versuchte sich als Romanautor. Ab Ende 1959 gehörte Carr zunächst wie auch der Jazzgitarrist John McLaughlin zur EmCee 5, der Band seines Bruders, des Vibraphonisten und Pianisten Mike Carr. 1962 zog Ian Carr nach London, wo er zunächst bei Harold McNair spielte, von 1963 bis 1969 im Ian Carr-Don Rendell Quintett und mit dem New Jazz Orchestra unterwegs war. Anschliessend arbeitete er kurz mit John Stevens, Keith Tippett, Trevor Watts, aber auch mit Mike Westbrook und mit Eric Burdon zusammen.
In Mitteleuropa bekannt wurde er zunächst durch seine 1969 gegründete Band Nucleus, die als ein Pionier des Jazzrocks gilt, 1970 den ersten Preis auf dem Jazz Festival Montreux gewann, bis Mitte der 1980er Jahre bestand und weltweit tourte. Dort spielte er teilweise auch Keyboards. Seit 1975 war Carr auch festes Mitglied im United Jazz and Rock Ensemble. Er war 1987 auch als Solist der NDR Bigband tätig und zwischen 1989 und 1993 mehrfach auf Tourneen mit dem Ensemble von George Russell. Als Studiomusiker arbeitete er mit Nico, No-Man und Faultline. Mit John Taylor an der Kirchenorgel nahm er in der Southwark Cathedral 1993 eine Duoplatte auf. Carr war ausserdem Jazzkritiker für das BBC Music Magazine und Autor von Büchern über Keith Jarrett und Miles Davis, die zu den Klassikern der Jazzbiographien zählen, und Mitverfasser des Rough Guide Jazz. Mit Regisseur Mike Dibb schuf er die Fernsehfilme The Miles Davis Story (Emmy Award) und Keith Jarrett: The Art of Improvisation. Er gilt als eine der wesentlichen Triebkräfte der britischen Jazzszene. Auf der Trompete war Carr stark durch den mittleren (modalen) Miles Davis beeinflusst. Er war Mitglied der Royal Society of Music und wurde 1982 mit dem italienischen Calabria Award ausgezeichnet. Für sein Lebenswerk wurde er 2006 vom britischen Parlament (Parliamentary Jazz Awards“) ebenso wie von der BBC (BBC Jazz Awards) geehrt.
Die Band Nucleus war eine der ersten und erfolgreichsten Rockjazz-Gruppen Grossbritanniens. Sie spielte zunächst in einer Combo-Besetzung, wurde aber seit der dritten Platte im Studio gelegentlich bis zum Big Band-Format ausgedehnt. Mit einer erweiterten Besetzung präsentierte Carr 1973 in der Queen Elizabeth Hall die Uraufführung seiner zyklischen Komposition "Labyrinth". Auf der letzten regulären Platte der Gruppe war die Besetzung um ein Streichorchester erweitert worden. Nucleus führte vornehmlich Kompositionen von Carr auf; auf den ersten Platten fanden sich aber vor allem Kompositionen weiterer Gründungsmitglieder, beispielsweise von Karl Jenkins, Jeff Clyne oder Chris Spedding, die sich durch einen sehr dichten Sound auszeichnen. Nach eigenen Angaben hatte Carr mit Nucleus ein umfassendes pluralistisches Konzept verfolgt, in dem neben improvisierten Passagen auskomponierte, neben tonalen freie Teile standen, die in einem ausgewogenen Verhältnis von Spannung und Entspannung angeordnet waren.
Die Band Nucleus war regelmässig in Europa auf Tournee, wo sie auf Festivals wie dem Montreux Jazz Festival, aber auch in Jazzclubs und anderen Spielstätten auftrat; sie spielte aber auch auf dem Newport Jazz Festival. Nachdem Ian Carr im Jahre 1970, also bereits nach der Gründung seiner Band Nucleus, auch auf dem Album "Septober Energy" der über 50-köpfigen Gruppe Centipede, einem Projekt seines musikalischen Freundes Keith Tippett mitgewirkt hatte, erhielt er einen Plattenvertrag bei Vertigo Records. Noch 1970 erschien dort sein Nucleus-Debutalbum "Elastic Rock", für das der Musiker auch Kollegen aus dem Centipede Projekt in seine Band holte, allen voran den brillianten Gitarristen Chris Spedding, der später auch solo erfolgreich als Rockmusiker unterwegs war ("Motorbikin'", "Jump In My Car"). Ebenfalls noch im selben Jahr wirkte Ian Carr bei Neil Ardley's Projekt "Greek Variations & Other Aegean Exercises", zusammen mit Don Rendell mit. Die Plattenfirma Vertigo Records liess dem Musiker Ian Carr weitgehend Freiraum beim Gestalten seiner musikalischen Elaborate, weshalb sich seine frühen Nucleus-Veröffentlichungen teilweise stark unterscheiden. Der gewichtigste Teil seiner Arbeiten war den Improvisationsflächen vorbehalten, zumeist auch noch in einem anfänglich relativ unausgegorenen Verhältnis zwischen freier Jazz-Interpretation und klaren Rock-Strukturen. Mit der Zeit wurden die Songs jedoch konkreter, und im Jahre 1973 präsentierte er mit der LP "Labyrinth" seine bis dahin homogenste und quasi 'assimilierteste' Platte.
Zu den Sessions im März 1973 holte sich Ian Carr weitgehend neue Musiker, ausserdem war Chris Spedding aus der Band Nucleus ausgestiegen, um als Solokünstler weiterzuarbeiten. Das dadurch entstandene Fehlen eines Gitarristen kompensierte Carr indes nicht durch einen anderen Gitarristen, sondern arbeitete im Gegenteil mit nicht weniger als drei Keyboardern, und zwar einerseits mit zwei elektro Pianos, gespielt von Dave McRae (Fender Rhodes) und Gordon Beck (Hohner Electric Piano), ausserdem holte er sich mit dem noch jungen Paddy Kingsland einen Synthesizer-Spieler in die Gruppe, was zur Folge hatte, dass der Horn- und Keyboard-dominierte Sound auch erste Züge des später allgemein unter der Bezeichnung "Fusion" bekannten Mixes aus Jazz und Rock aufwies. "Labyrinth" bestand aus der Rhythmusgruppe Roy Babbington (Bass) und Clive Thacker (Schlagzeug), als zweiter Schlagzeuger wurde als Gastmusiker auch Tony Levin verpflichtet, der schon zuvor als Bandleader in Erscheinung getreten war und ausserdem in den Jazzformationen The Tubby Hayes Quartet und The Alan Skidmore Quartet mitgewirkt hatte. Die Horn-Sektion umfasste neben Ian Carr auch erneut den Flügelhornisten Kenny Wheeler, ausserdem den Saxophonisten und Flötisten Brian Smith, welcher ebenfalls bei Centipede und auch in der Band Ark von Keith Tippett mitgewirkt hatte, sowie den Saxophonisten und Klarinettisten Tony Coe, der bereits in den ausgehenden 50er Jahren aktiv war.
Mit Nucleus war Ian Carr noch viele Jahre aktiv, veröffentlichte weiterhin immer wieder stilistisch variierende Alben, so unter anderem "Roots" (1973), "Under The Sun" (1974), "Alleycat" (1975) und "Snakehips" Etcetera (1975) - alle für Vertigo Records, sowie die weiteren Werke "In Flagranti Delicto" (1977), "Out Of The Long Dark" (1978), "Awakening" (1980), "Live At The Theaterhaus" (1985) und "Old Heartland" (1988), alle auf unterschiedlichen Plattenlabels erschienen. Daneben veröffentlichte er auch weitere Soloalben, unter ihnen das 1974 erschienene "Will Power" mit Neil Ardley, Michael Gibbs und Stan Tracey. 1980 folgte "Collana Jazz 80" mit dem Algemona Quartetto, 1989 das Werk "Old Heartland", gefolgt von "Virtual Realities" (Zyklus, mit Warren Greveson, Neil Ardley und John L. Walters) im Jahre 1991 und 1993 das mit "Sounds And Sweet Airs (That Give Delight And Hurt Not)" zusammen mit John Taylor letzte Werk. Im August 2005 fand ein Teil früherer Mitglieder unter der Leitung von Geoff Castle noch einmal für ein Konzert zusammen. Während seiner letzten Lebensjahre litt Ian Carr an Alzheimer und lebte meist in Pflegeheimen. Er starb im Beisein seiner Tochter Selina und seines Freundes und Trompeterkollegen Kenny Wheeler am 25. Februar 2009 in London.