CENTIPEDE - Septober Energy (RCA Neon Records NE 9, 1971)
Nicht weniger als 55 Musiker sind auf dem verstörenden und bis heute wohl einmaligen Session Mammut-Projekt "Septober Energy" zu hören, jedenfalls weist das Plattencover so viele Namen von Beteiligten auf. Im Herbst 1970 stellte der Jazzmusiker Keith Tippett, der damals in seiner Keith Tippett Group das Klavier spielte, das Projekt Centipede zusammen, um das aus vier einzelnen Session-Stücken bestehende "Septober Energy", welches er zusammen mit seiner Frau Julie Tippetts (ehemals Driscoll) komponiert hatte, live zu präsentieren. Im Juni 1971 begab sich das Orchester für drei Tage ins Studio, um das Monstrum auf Tonträger zu bannen. Neben einer personalreichen Streicherabteilung rekrutierte Tippett eine Armada an Blech- und Holzbläsern, Basssisten und Schlagzeuger, die damals zum Teil in namhaften, britischen Jazz- und Rockformationen tätig waren, unter anderem bei Soft Machine, King Crimson und Nucleus. Dazu kamen noch einige Sänger und der King Crimson-Kopf Robert Fripp als ausführender Produzent.
Zu der Besetzung gehörten unter anderem die Saxophonisten Dudu Pukwana, der zuvor bei der Afro Jazz Rock Band Assagai spielte und später zu Chric MacGregor's Brotherhood Of Breath wechselte, der angesehene Elton Dean von Bluesology und Soft Heap, der später viele Jahre lang in diversen Projekten mit Keith Tippett weiter zusammenarbeitete. Ausserdem gesellte sich der Saxophonist Ian McDonald dazu, der ebenfalls aus dem Jazzbereich kam und bei Giles Giles & Fripp mit Robert Fripp zusammenspielte und ausserdem die eine Hälfte des Duos McDonald & Giles war. Hinzu gesellten sich ausserdem eine Menge Musiker, die später richtig bekannt und teilweise sehr erfolgreich in anderen Projekten und Bands oder als Solisten wurden, so etwa der Bassist Roy Babbington (Soft Machine), der Schlagzeuger Robert Wyatt (unter anderem Daevid Allen Trio), Ian Carr (Nucleus), die Sänger Mike Patto und Zoot Money, der Gitarrist Brian Godding, der mit den legendären Blossom Toes startete und später ebenfalls im Jazzbereich hängen blieb, so etwa als Gitarrist in der Mike Westbrook Band und zahlreiche weitere Musiker, die mehrheitlich im Jazzbereich arbeiteten.
Vier jeweils eine ganze LP-Seite füllende Jams wurden für das Werk "Septober Energy" eingespielt, die 1971 auf einer Doppel-LP von RCA Records' für progressive Musik lancierten Unterlabel Neon Records veröffentlicht wurden. In musikalischer Hinsicht wird auf "Septober Energy" recht komplexe Musik gespielt, die sich nicht selten in wilden Free Jazz-Orgien ergiesst. Eine insgesamt sehr anstrengende Mixtur aus freiem, teils atonalem Jazz, typischen Canterbury-Anleihen, Brass- und Jazzrock hatte Keith Tippett mit seiner Frau inszeniert, angereichert mit progressiven Rock-Elementen, die aufgrund der entsprechenden Beteiligung von Robert Fripp manchmal in Richtung King Crimson pendelte. Etwas moderne Klassik und viele experimentelle und avantgardistisch anmutende Passagen waren ebenfalls verbaut worden. Natürlich waren in den vier ausufernden Teilen nicht ständig alle beteiligten Musiker zu hören. Zumeist spielte pro Teil ein Basis-Kern von vier bis fünf Instrumentalisten, die quasi das Hauptfundament bildeten für die Solo-Jams, die dann darüber ausgebreitet wurden. Dank dieser Arbeitsweise gelang es Tippett, immerhin vier in sich recht unterschiedliche instrumentale Teile zu arrangieren, die aber allesamt, trotz manchmal rockiger, dann wieder eher jazziger Grundausrichtung teilweise nur schwer verdaulich waren. Ganz bestimmt hatte er sich zumindest in kommerzieller Hinsicht mit diesem Projekt keinen Gefallen getan. Aber das war auch gar nicht die Idee hinter diesem Mammut-Projekt.
In allen vier Teilen steigert sich die Musik kontinuierlich, besonders, wenn im Verlauf des jeweiligen Stücke-Aufbaus die Streicher und/oder die Bläsergruppen dazukommen, ab und zu auch ein sehr weltfremd anmutendes irgendwie verqueres Stimm-Durcheinander, das man eigentlich nicht unbedingt mit Chor bezeichnen möchte, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie man sich einen Chor so gemeinhin vorstellt. Einige dieser Vokal-Akrobatiken erinnern etwas an die unverständlichen Stimm-Fragmente beispielsweise in Pink Floyd's Stück "Atom Heart Mother", und wie auch dort werden die Stimmen ab und zu auch ganz konkret und unterstützen die teilweise brachialen freien Instrumental-Ausbrüche noch zusätzlich. Als klangliches Durcheinander könnte man das oberflächlich betrachtet durchaus nennen, was sich auf "Septober Energy" auf den Hörer ergiesst. Allerdings muss man auch festhalten, dass diese Art von Musik grenzwertig ist und auf jeden Fall ein Unikum darstellt, denn es gibt hier eben nicht nur diese typischen Free Jazz und Free Rock-Passagen zu hören, sondern auch viel Melodiosität in dem ganzen Chaos. Man sagt ja manchmal nicht zu Unrecht, es gebe nichts Aufgeräumteres als das organisierte Chaos. Diese Umschreibung passt meines Erachtens ziemlich gut zu Centipede's Musik.
Symphonischer Free Jazz Brass Rock trifft es vielleicht am ehesten, obwohl es so eine Schublade ja gar nicht gibt. Dazu gesellen sich dann allerdings auch getragene Abschnitte, in denen die Sänger solistisch zum Einsatz kommen, das Klavier soliert und Karl Jenkins' Oboe erklingt, und schwebend-meditative Momente, in denen der Chor geheimnisvolle, langgezogene Töne hervorbringt, zu denen gestrichene Bässe brummen und Streicherteppiche dem Ganzen eine symphonische Fülle verleihen. Ab und an kommt auch eine Violine zum Einsatz, die dann wiederum eine Nähe zur Klassik erkennen lässt. Alles in allem klingen die vier Teile der "Septober Energy" aber sehr frei und irgendwie willkürlich schräg, jedenfalls nicht organisiert, was letztlich aber nur Keith Tippett's Wurzeln offenbart, die fest im Free Jazz verankert sind.
Von Kritikerseite wurde das Werk bei Erscheinen mehrheitlich als überambitioniertes, richtungs- und stilloses Durcheinander verrissen. Ein paar Längen hat "Septober Energy" durchaus, ein bisschen zusammengewürfelt wirkt die Suite auch, aber ansonsten wird hier sehr überzeugend und virtuos musiziert. Es war aber wohl so, dass den eher konservativen Jazzkritikern der frühen 70er Jahre ein solches Stilkonglomerat übel aufgestossen ist, insbesondere wenn es von Popmusikern präsentiert wird, zu denen Tippett, Fripp und Kollegen damals gezählt wurden. Nachdem das Werk nun viereinhalb Jahrzehnte auf dem Buckel hat, werden versöhnlichere Töne angestimmt. Mancher spricht inzwischen von einem stilvereinenden, experimentellen Meisterwerk, und genau so würde ich dieses Werk auch bezeichnen. "Septober Energy" ist ein sehr faszinierendes, aber auch sehr anstrengendes Stück Musik, welches auf interessante und anspruchsvolle Weise die Welten des Jazz und des Rock symphonisch miteinender vereint.
Wer die Musik von Soft Machine und Nucleus schätzt, dominierende Blasinstrumente, Atonalität und Free Jazz zu seinen musikalischen Vorlieben zählt oder auch einfach nur aufgeschlossen genug ist, sich so einem herausfordernden Werk zu stellen, dem kann ich die "Septober Energy" sehr empfehlen. Erstaunlich bleibt bis heute, dass dieses Album, welches auch schon 1971 eher als grenzwertig in Erscheinung trat, dennoch bei einem grossen Plattenlabel wie RCA Records erschienen ist. Einige Jahre später wäre ein solches Vorhaben von fast jeder Plattenfirma als absolut unkommerziell abgelehnt worden. Keith Tippett's ebenso ambitioniertes Projekt "ARK" erschien 1978 dann auch auf dem kleinen Jazzlabel Ogun Records. Anfang der 70er Jahre aber waren Gelder für solch absolut unkommerzielle Projekte wie dieses gottseidank noch vorhanden.
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