CRESSIDA - Asylum (Vertigo Records 6360 025, 1971)
Objektiv kann ich beim Vorstellen dieser wundervollen Platte nicht sein. Aber wie sollte das auch möglich sein bei einem Album, das zu denjenigen gehört, die ich mir in meinem Leben mit am meisten angehört habe ? Bis heute hat sich diese Platte in meinen Ohren kein bisschen abgenutzt. Noch immer bereitet sie mir grosse Freude und es sind nicht nur nostalgische Gefühle, welche mir dieses Album inzwischen vermitteln kann, nein, es ist noch immer auch die Ueberzeugung, dass dies eine der wahrscheinlich herausragendsten Produktionen der sogenannten Progressive Underground Aera war, die bis heute sowohl klanglich, wie kompositorisch und vor allem auch instrumental nichts von ihrer Faszination eingebüsst hat.
Cressida waren eine britische Progressive Rock Band, die für ihren sanften, symphonischen Sound bekannt war. Ursprünglich unter dem Bandnamen Charge bekannt, war die Band von 1968 bis 1970 aktiv und nahm zwei Alben für Vertigo auf. Der Grundstein zu Cressida wurde im März 1968 gelegt, als der Gitarrist John Heyworth auf eine Anzeige im Melody Maker antwortete und später nach London reiste, um sich der Gruppe The Dominators anzuschliessen, eine Situation, die er später als hoffnungslos bezeichnete - bis Angus Cullen sich für den Posten des Leadsängers bewarb. Er und Heyworth verstanden sich auf Anhieb, und Heyworth wurde eingeladen, in Cullens Familienwohnung in den Barkstone Gardens in der Nähe von Earls Court zu wohnen. Die beiden begannen ein ernsthaftes gemeinsames Komponieren, schliesslich traten der Bassist Kevin McCarthy und der Schlagzeuger Iain Clark in die Band, die sich ab da Charge nannte. Im Repertoire der Gruppe Charge fanden sich mehrere Coverversionen von Songs etwa der Doors ("Spanish Caravan"), The Drifters ("Save The Last Dance For Me") und Spirit ("Fresh Garbage"), zusammen mit Originalkompositionen von Cullen und Heyworth. Im Sommer 1969, kurz nach seiner Rückkehr von einer Deutschlandtournee, beschloss der Organist der Band, Lol Coker, die Band Charge zu verlassen, um zurück nach Liverpool zu ziehen, seine Schweizer Freundin zu heiraten und das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Er war gerade lange genug geblieben, um auf dem ersten Demo der Band zu spielen, was der Band einen Plattenvertrag mit Vertigo Records einbrachte. Peter Jennings schloss sich als Ersatz für Lol Coker der Band an.
Zu diesem Zeitpunkt entschied sich die Band für eine Namensänderung in Cressida. Keiner in der Band fand Charge einen wunderbaren Bandnamen. Die Musiker entschieden sich schliesslich für Cressida, aus dem William Shakespeare-Stück 'Troilus und Cressida'. Ihre ersten Konzerte unter dem neuen Bandnamen Cressida wurden in Deutschland absolviert, darunter im legendären Star Club in Hamburg, wo sie im Herbst 1969 gemeinsam mit den beiden Formationen Colosseum und East Of Eden gastierten. Ihr damaliger Manager Mike Rosen fuhr ihren Ford Transit und war als Trompeter zeitweilig mit auf der Bühne. Rosen trat später der Gruppe Mogul Thrash bei, verstärkte Cressida gelegentlich auf der Bühne für einige ihrer erweiterten Nummern, die genügend Fläche für das Solieren bieteten. Schon bald aber überwarf sich Rosen mit dem Produzenten Ossie Byrne (der frühen Bee Gees Koryphäe), und von diesem Moment an übernahm Mel Baister die Führungsaufgaben bezüglich der Band Cressida. Andere Ausflüge auf das europäische Festland waren unter anderem auch eine Reise nach Bratislava im November 1969, wo sie gemeinsam mit lokalen Bands auftraten, quasi in Konkurrenz zu verschiedenen Bands aus dem Ostblock; eine Woche lang dauerte diese Reise. Auch mit Black Sabbath traten Cressida gemeinsam auf, so etwa im Brüsseler Theater 140 als Support Act. Aussergewöhnlich war auch ein Anlass im 'Open Circus', einer Veranstaltung in einem grossen Zelt mit Löwenzähmung, Feueressen und anderen akrobatischen Darbietungen in Rouen, Frankreich, wo Cressida zusammen mit Brian Auger, Barclay James Harvest, Man und der Schweizer Progressive Rock Band Circus auftraten.
Cressida spielten zu jener Zeit hauptsächlich an Universitäten und Colleges sowie in damals populären Londoner Clubs wie dem Speakeasy, dem Revolution, dem Blaise's und dem Marquee Club. Ihre erste, schlicht "Cressida" betitelte LP wurde in den Wessex Studios eingespielt und von Ossie Byrne produziert. Es präsentierte Songs aus der Feder von entweder Cullen oder Heyworth, welche bei den entsprechenden Songs dann auch den Leadgesang übernahmen, plus je einen Titel, der von Jennings und von Clark geschrieben worden war. Cressida erlebten schon bald nach der Veröffentlichung der LP, die bei Vertigo Records erschienen war, eine schwierige Phase, als Gitarrist John Heyworth Anfang 1970 gehen musste. Um diese Zeit nahm die Band einen überaus vielversprechenden, sehr kommerziellen Song auf, der als Single "Situation" vorgesehen war, aber Vertigo Records entschied sich dafür, ihn nicht zu veröffentlichen. Heyworth, der ein letztes Stück zum zweiten Album "Asylum" beitragen würde ("Let Them Come When They Will"), obwohl er nicht darauf spielte, wurde durch John Culley ersetzt, der mit Geno Washington gespielt hatte. Das neue Line-Up nahm Cressidas zweite LP "Asylum" im Sommer 1970 auf, wiederum produziert von Ossie Byrne und mit Orchester-Arrangements angereichert von Graeme Hall, aber das Album wurde posthum im Jahre 1971 veröffentlicht, nachdem sich die Band im September 1970 bereits getrennt hatte. Der bekannte Jazz Flötist Harold McNair gastierte auf dem Song "Lisa".
Vertigo Records war mit der Reaktion auf das erste Album der Band trotz eher magerer Verkaufszahlen dennoch zufrieden und stimmte zu, dass die Band ein weiteres Werk aufnehmen sollte. Die Band begann damit, Songs für ein neues Album zu proben, und Ende Juni checkte sie in den I.B.C. Studios ein, um mit der Arbeit an ihrem zweiten Album "Asylum" zu beginnen. Angus Cullen schrieb nun die meisten Songs, aber auch Peter Jennings trug dazu bei, dass dieses zweite Werk der Band ihr erstes bemerkenswert überstrahlte, nicht zuletzt dank einem der denkwürdigsten Tracks auf dem Album, betitelt "Munich". Mit wachsendem Vertrauen in die Studioumgebung spielte die Gruppe eine wichtigere Rolle bei der Produktion von "Asylum", als noch bei den Aufnahmen zum Debutalbum. Darüber hinaus begannen die Musiker, sich von dem kurzen 3 oder 4-minütigen Songformat zu entfernen, das noch den Grossteil des ersten Albums prägte, und experimentierten mit Songstrukturen, die einzigartige Variationen und phantasievolle und spannende Tempowechsel aufwiesen.
Die Entscheidung der Band, ein kleines Orchester in die Arrangements von "Munich" und "Lisa" einzubauen, zeugte von einer enormen Vielseitigkeit in Cressidas Musik. Der Höhepunkt des Albums war aus vielerlei Hinsicht jedoch der letzte Track "Let Them Come When They Will". Das letzte, noch vom geschassten Gitarristen John Heyworth geschriebene Stück war lange Zeit eine wahre 'Tour de Force' für die Gruppe auf der Bühne und sie wollte diesen Longtrack unbedingt aufnehmen. Mit seinen vielfältigen und äusserst abwechslungsreichen Passagen, den erweiterten Gitarren- und Orgelsoli und Perkussions-Sequenzen war "Let Them Come When The Will" fast 12 Minuten lang. Im Gegensatz dazu enthielt die LP auch kurze, skurrile Songs wie "Goodbye GPO Tower" und "Survivor" - sowie ein Instrumental namens "Reprieved". Die zusätzlichen Orchesterelemente wurden am 11. September in Wessex im Studio, in welchem das Debutalbum "Cressida" aufgenommen wurde, zu einigen Songs hinzugefügt. Graeme Hall schrieb die Arrangements und dirigierte das Orchester auf den Tracks, darunter Soli von Harold McNair, einem brillanten und respektierten Jazz-Flötisten. Seine hervorragenden Fills auf "Lisa" brachten ihm eine Anerkennung auf dem Album-Sleeve ein. Im Gegensatz zu dem, was geschrieben wurde, war er nie ein Mitglied von Cressida, sondern einfach ein Session-Spieler, der zu einem Song eingeladen wurde. In ähnlicher Weise wurde in den Credits Paul Layton auf der akustischen Gitarre aufgeführt. Paul war ein Freund von Ossie Byrne und der Band und hatte Angus Cullen eine Gitarre für einige Songs geliehen, aber auch er war nie ein Bandmitglied. Während der "Asylum"-Sessions traten Cressida weiterhin in Clubs und Colleges auf, sowohl in London als auch weiter entfernt in Northampton, Blackpool und Sheffield. Im Juli traten sie zum ersten Mal im Mothers Club in Birmingham auf.
Ende September reiste die Band für ein Konzert in die Schweiz, bevor sie nach Holland reiste, um eine grosse Tournee zu beginnen, die das Plattenlabel Vertigo Records mit Black Sabbath, Cressida und May Blitz arrangiert hatte. Vom 27. September bis 5. Oktober traten sie in Rotterdam, Lüttich, Charleroi, Gent (wo Manfred Mann's Chapter Three die Band May Blitz ersetzte), Brüssel und Köln auf. Nach dieser Tournee war die Stimmung im Cressida-Camp zunehmend niedergeschlagen. Obwohl das erste Album von den Kritikern gut aufgenommen wurde und in ausreichendem Masse für Vertigo Records verkauft wurde, um "Asylum" grünes Licht zu geben, hatte Manager Ossie Byrne es versäumt, eine ausreichende Menge an regulären Buchungen zu sichern, um den Betrieb der Band aufrechtzuerhalten . Die Bandmitglieder gingen im November 1970 getrennte Wege und die kurze Karriere von Cressida ging zu Ende. Ironischerweise wurde ihr zweites Album 1971 einige Monate nach der Trennung der Band veröffentlicht. In vielerlei Hinsicht wurde "Asylum" sogar positiver aufgenommen als das erste Album - wer weiss, was die Gruppe noch erreicht hätte, wäre sie zusammen geblieben. Innerhalb kurzer Zeit schloss sich der Schlagzeuger Iain Clark der Gruppe Uriah Heep an, Bassist Kevin McCarthy wurde Mitglied von Tranquility und John Culley wechselte zu Black Widow. Mit der Auflösung der Band wurden Cressida zu einer Fussnote in der Geschichte der britischen Rockmusik, bis eine neue Generation von Progressive Rock Fans ihre Songs hörte und erkannte, welch gute Musik Cressida gemacht hatten. Angus Cullen und Iain Clark blieben enge Freunde und lebten im selben Dorf in den schottischen Highlands. Nach ernsthaften Bemühungen, ihre ehemaligen Bandkollegen zu finden, um ihnen Tantiemen zu zahlen, die sie für die CD-Neuausgaben von Cressida gesammelt hatten, kamen sie schliesslich mit ihnen in Kontakt. Von seinem Zuhause in der Nähe von Los Angeles, Kalifornien, hatte Kevin McCarthy jahrelang versucht, wieder mit allen in Kontakt zu kommen und schliesslich einen Privatdetektiv im Internet angestellt, der Angus dann schliesslich auch finden konnte. Der Keyboarder Peter Jennings war noch immer in London und John Heyworth war in die USA, nach Portland in Oregon gezogen. Leider starb John im Januar 2010, aber eine seiner letzten Dinge, die er in seinem Leben getan hatte war, John Culley ausfindig zu machen und ihn auch mit dem Rest der Jungs in Kontakt zu bringen.
John Heyworth starb im Januar 2010. Im Jahre 2011 trafen sich drei der vier übriggebliebenen Mitglieder der Band, Angus Cullen, Iain Clark und Kevin McCarthy, erneut mit Peter Jennings. Die Band wurde am 2. Dezember 2011 zu einem einmaligen Live-Auftritt im Londoner Underworld in Camden Town eingeladen. Der schottische Gitarrist Roger Niven kam zu Cressida und spielte diesen Reunion-Gig. Zeitgleich mit der Show war die limitierte Ausgabe eines Vinyl-Albums von zuvor unveröffentlichten Demos, die Cressida vor ihrem ersten Album eingespielt hatten, erschienen. Später waren diese bis dato unveröffentlicht gebliebenen Titel in CD-Form als "The Lost Tapes" erhältlich. Im September 2013 traten Cressida auf dem Melloboat-Festival in Schweden auf, zu dessen Anlass "Choices", eine weitere, limitierte LP mit Archivmaterial, das von Opeth's Mikael Åkerfeldt (einem langjährigen Fan der Band) persönlich ausgewählt wurde, veröffentlicht wurde. Die Band hatte nie die Gelegenheit, in den Vereinigten Staaten zu spielen, da Mercury Records, das damalige Pendant zu Vertigo Records entschied, keines der beiden offiziellen Cressida-Alben in den USA zu veröffentlichen. Ihre beiden Alben wurden in den USA nur als Importe verkauft. Beide Alben von Cressida waren einmalig schön, und insbesondere "Asylum" präsentierte einig der herausragendsten Perlen symphonischer progressiver Rockmusik der damaligen Zeit, die erst sehr viel später richtig gewürdigt wurden.
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