Jun 30, 2016


RIVAL SONS - Great Western Walkyrie (Earache Records MOSH516LP, 2014)

Ob es denn tatsächlich so etwas wie "Retro"-Rock gibt oder nicht, wäre sicherlich einmal grundsätzlich zu diskutieren. Falls ja, dann steht sicherlich auf jeden Fall fest: die RIVAL SONS sind dessen Inbegriff. Sie begeistern schon seit einigen Jahren mit einem tollen harten und erdigen Rock, der sowohl an Led Zeppelin, als auch an Black Sabbath und natürlich auch an Deep Purple erinnert. Anstatt aber schamlos zu kopieren, bedient sich das Quartett all der ganzen klassischen Einflüsse und schafft sich damit seinen ganz eigenen Sound. Den präsentiert es Album für Album in konsequent hoher Qualität. Vielleicht gibt es aber auch diesen "Retro"-Rock gar nicht. Das wäre natürlich auch viel angenehmer anzunehmen, denn das würde nichts anderes bedeuten, als dass der ursprüngliche Classic Rock, wie er heute ja allgemein bezeichnet wird, noch immer gespielt wird und auch noch immer ausbaufähig ist und noch massenhaft Musiker inspiriert. Zweifelsfrei gehöre ich inzwischen zu den Letzteren, denn nachdem ich einige Jahre lang schon auch zu Denjenigen gehörte, die den altern Meistern nachtrauern, hat sich meine Meinung inzwischen doch ziemlich geändert. Nicht nur - aber vor allem bei den RIVAL SONS kann auch ich gut heraushören, dass hier junge engagierte Musiker den Rock spielen, wie er seit jeher gedacht war: Hart und trotzdem melodiös, mit prägnanten Hooklines anstelle sinnlos roher Dresch-Arbeit, die letztlich nur kaschieren soll, wie wenig Komposition in all der gebotenen Härte vorhanden ist. Denn das zeichnet die RIVAL SONS, gemeinsam mit einer ganzen Menge anderer Bands, die zurzeit in diese unsägliche wie falsche Retro-Rock Schublade gesteckt werden, aus: Sie schreiben verdammtgute Songs, und nicht nur solche, die man schnell wieder vergisst, sondern wirkliche "Bleiber", die nachhaltig wirken.

So bieten die RIVAL SONS auch auf ihrem vierten Album von 2014 mit dem Titel "Great Western Valkyrie" eine hervorragende Mixtur aus wohlvertrauten und über die Jahrzehnte liebgewordene Rocksongs, die man einerseits als absolut zeitlos, andererseits aber durchaus auch als modern bezeichnen kann. Dabei denke ich aber in erster Linie an eine moderne Produktion, und nicht nur an den sogenannten Nostalgiefaktor, der einigen dieser jungen Rockbands immer mal wieder vorgeworfen und als Negativetikett verpasst wird. Auf jeden Fall bietet jede Platte der RIVAL SONS eine perfekte Zeitreise, die allerdings stets im Hier und Jetzt startet. Die erdige und grossartige Produktion mag ein Rock-Purist vielleicht beanstanden, doch hey: Wir sind nicht mehr im Jahre 1970. Da hat sich in den Tonstudios dieser Welt doch ziemlich viel verändert. Dass gerade vielen dieser "Retro"-Rockbands gedankt werden muss, dass sie aus Gründen der Authentizität gerne auf Equipment, Aufnahmetechniken und gar Instrumentarium aus den goldenen Zeiten der Rockmusik zurückgreifen sei hier nur am Rande erwähnt, beweist jedoch erst recht ihre grosse Verneigung vor den alten Meistern. Und mal Hand auf's Herz: Wir, die wir die Rock-Szene damals noch live und in Jugendjahren erlebt haben, wären doch damals kaum je auf die Idee gekommen, 40er oder 50er Jahre Musik nachzuspielen, oder ? Na also. Dann haben die vielen alten Meister doch letztlich einfach Musik gemacht, die kein Verfallsdatum kennt und die Jungen merken das heute. In der ganzen schnelllebigen und oberflächlichen Musikwelt besinnen sie sich auf alte Werte und Traditionen zurück und versuchen dabei dennoch, mir ihrer Kunst im Hier und Jetzt zu stehen.

Wenn die RIVAL SONS ein so wundervoll sattes Riff wie Dasjenige im Stück "Electric Man" vom Stapel lassen, dann vergisst der Zuhörer recht schnell, dass zwischen der eigenen Jugend und dem Song der RIVAL SONS gut und gerne 40 Jahre oder mehr liegen. Mit herrlich dröhendem Overdrive ausgestattet, groovt sich Scott Holiday durch den Opener und gibt, unterstützt von einer wabernden Orgel, die Marschrichtung für die kommende Dreiviertelstunde vor. Jay Buchanan erweist sich als einer der besten Sänger der heutigen Rockszene und ist ohne Zweifel die Idealbesetzung für den Posten am Mikrophon der Formation aus Long Beach. Er beherrscht grosse und exaltierte Robert Plant-Gesten im Schlaf ("I'm gonna show you how babies are made"), reagiert genauso selbstbewusst auf Vorlagen der Saitenfraktion und ist vielleicht sogar noch ein Tick vielseitiger als der Altmeister.

Durch Jay Buchanan erhält die Musik ausserdem einen zusätzlichen Blues-Appeal. Entsprechende Reminiszenzen in Richtung Joe Bonamassa drängen sich nicht nur dank der Instrumentierung auf. Ein weiterer Bluesrocker der jüngeren Generation schimmert gemeinsam mit Elvis in "Good Luck" durch: Das Hauptriff erinnert aufgrund des Rhythmus und des Feelings frappant an Kenny Wayne Shepherds "Never Looking Back" und macht mindestens genauso viel Spass. Um gleich mal im Namedropping zu verweilen: Blinkt bei noch Jemandem sofort der Name SCREAMIN' JAY HAWKINS auf, wenn er "Destination On Course" hört ? Nicht nur deswegen ist der Song ein Highlight der Platte. In der zweiten Hälfte mutiert das Stück zur ausschweifenden Jam-Orgie und dürfte live zu einer wahren Granate mutieren. Erstaunlich, dass junge Rocker sowas so authentisch hinkriegen.

Dass die RIVAL SONS allerdings nicht nur volle Pulle aufs Gaspedal treten können, sondern gerne auch mal einen Gang herunterschalten, beweisen sie unter anderem im Titel "Where I've Been", einer bluesigen Sehnsuchtsballade mit tollem Souleinschlag, obligatorischem Solo-Höhepunkt und traditionellem Refrain-Ausklang. Klischeehafter geht es kaum, doch die Truppe serviert ihr Material auf derart hohem Niveau, dass selbst dreissig oder vierzig Jahre alte Originale nicht besser klingen. Das Hauptaugenmerk liegt selbstverständlich auf tanzbaren Heavy 70's Rock'n'Roll-Hymnen. Auf diesem Gebiet ist auch die bis dato vielleicht beste RIVAL SONS Nummer "Play The Fool" zu verorten. Mit lässig-cooler Rockstar-Attitüde "uuuhhht" sich Buchanan durch den Track, dirigiert abwechselnd Drums und Sechssaiter, bevor diese unvermittelt den Spiess umdrehen, selbst die Führung übernehmen und in einem kurzen, prägnanten Solo gipfeln.

Zählten die RIVAL SONS bislang trotz rasantem Aufstieg noch immer als Geheimtipp, änderte sich das mit "Great Western Vakyrie" endgültig. Auf grossen Bühnen fühlen sich die Amerikaner dank diverser Support-Engagements (AC/DC, Judas Priest) inzwischen ohnehin ziemlich wohl. Die Songs, die dieser Grössenordnung angemessen sind, finden sich auf Album Nummer vier reichlich. Selbst wenn der eine oder andere Abklatsch-Vorwurf aus dem Publikum erschallen sollte, bleibt festzuhalten: Die RIVAL SONS sind einfach brilliante Musiker und grosse Kenner der alten Rock-Materie, die diese Musik schlicht und einfach fühlen und (er-)leben und sie sind seit einigen Jahren vielleicht das Beste, was der sogenannte "Retro"-Rock, der wie gesagt, meiner Ansicht nach gar keiner ist, zu bieten hat.



Jun 28, 2016


BOB YOUNG - In Quo Country (Making Waves Records SPRAY 104, 1986)

Robert Keith Young, geboren am 16. Mai 1945 in Basingstoke Hampshire, England ist ein britischer Musiker und Schriftsteller, der insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit der Rockgruppe STATUS QUO bekannt wurde. Seit Mitte der 60er Jahre ist er vor allem im Musikgeschäft tätig. Zunächst war er Bühnenarbeiter für Amen Corner, später für The Nice und kurzzeitig für The Herd. Aufgrund dieser Erfahrung wurde er vom Management der Band Status Quo abgeworben, nachdem diese mit "Pictures of Matchstick Men" im Jahre 1968 ihren ersten Hit hatte. Da er auf Tourneen viel Zeit mit der Band verbrachte, wurde er auch enger in die Musik der Band einbezogen. Bereits 1969 wurden erste Lieder der Band von ihm mitverfasst und auf der Single "The Price Of Love" war er erstmals auch auf der Mundharmonika zu hören, sodass er zum inoffiziellen Mitglied der Gruppe wurde.

In den folgenden Jahren schrieb er eine Vielzahl von Liedern für Status Quo, meistens gemeinsam mit dem Leadsänger und Gitarristen Francis Rossi. Zu diesen Stücken zählen beispielsweise auch die Hits "Caroline", "Paper Plane" und "Down Down". 1978 erschien das Buch "Alias the Compass", das Gedichte und Songtexte von Bob Young aus der Zeit bei Status Quo enthielt. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre liess die Intensität seiner Zusammenarbeit mit Francis Rossi etwas nach, wenngleich er bis 1980 Tourmanager von Status Quo blieb. Über seine Jahre mit der Band berichtet er in der 1979 erschienenen Biographie "Again and Again", welche er gemeinsam mit John Shearlaw verfasst hat, die mehrfach in aktualisierten Neuauflagen erschienen ist. Neben Rossi schrieb er im Laufe der Jahre auch gemeinsam mit den übrigen Bandmitgliedern Rick Parfitt und Alan Lancaster mehrere Stücke.

Mit dem Gitarristen Micky Moody, den er kennenlernte, als Moody mit seiner damaligen Band Snafu im Vorprogramm von Status Quo spielte, gründete er 1976 die Band Young & Moody, deren Veröffentlichungen jedoch vergleichsweise erfolglos blieben. Gemeinsam mit Micky Moody veröffentlichte er auch das Buch "The Language of Rock ’n’ Roll". Moody schloss sich 1978 David Coverdale's Band Whitesnake an, veröffentlichte aber in loser Folge weitere Aufnahmen mit Bob Young. Wenngleich sich Young in dieser Periode stärker auf Bücher konzentrierte, gab es auch vereinzelte Musikaufnahmen mit seiner Mitwirkung. Nennenswert ist insbesondere seine Beteiligung beim Album "Line Up" des kurzzeitigen Rainbow-Sängers Graham Bonnet. Leider ohne offizielle Plattenveröffentlichung bleibt sein Mitwirken in der Band DIESEL von John Coughlan, dem Ex-Schlagzeuger von Status Quo.

1986 erschien dann Young's leider einziges Solo-Album "In Quo Country", welches ausschliesslich von Bob Young mitgeschriebene und von ihm neu interpretierte Stücke aus seiner Zeit bei Status Quo im Country Rock-Stil enthält. Dabei entfalten die meisten Songs, die man natürlich im Original in- und auswendig kennt, als Country Rock Nummern ein ganz besonderes Flair. Auch merkt man sehr schnell, wie sehr sich beispielsweise Francis Rossi, mit dem Bob Young sehr viele Sachen komponiert hat, in der Pop- und der Countrymusik wohlfühlte, denn die Songs funktionieren auch als nicht geerdete Boogie-Rocker perfekt. Das ist natürlich vor allem auch einmal ein Indiz dafür, dass Status Quo stets sehr gute Songs im Gepäck hatten, es zeichnet eine Komposition zusätzlich aus, wenn sie auch stilverfremdet eine so tolle Gattung macht. Das Programm der LP "In Quo Country" (sehr passender Albumtitel: quasi Quo als Country) liest sich schon wie eine kleine "Best Of" von Status Quo: "Down Down", "Can't Give You More", "Claudie", "Caroline", "Mean Girl", "Shady Lady", "Night Ride" und "Living On An Island" (die beiden letzteren gemeinsam von Rick Parfitt und Bob Young geschrieben) oder "Dirty Water" und das vielleicht nicht ganz so populäre "I Saw The Light" (vom Quo-Album "On The Level").


Interessant und schön flüssig anzuhören sind alle Stücke. Es gibt aber durchaus einige tolle Highlights, wie etwa das Stück "Mean Girl", das dank der Arbeit des Gitarristen Albert Lee und dem Geigenpart von Graham Preskett erfrischend folkrockig klingt und relativ weit vom eher straffen Original von Quo entfernt ist. Mit Billy Bremner (von Dave Edmunds' Rockpile und später den Pretenders um Chrissie Hynde), sowie den Top-Musikern Micky Moody (Whitesnake), mit welchem Bob Young schon zusammen musiziert hatte als Young & Moody, B.J. Cole und Rick Parfitt, der bei diesen Aufnahmen mitwirkte, gelang Bob Young eine süffige, klug und kompetent arrangierte Platte, die mit den countryesken "Caroline" und "Claudie" (beide vom Quo-Album "Hello!") zwei weitere Steilvorlagen für den Countryrock-Gitarrenstil von Altmeister Albert Lee lieferte. Diese beiden Stücke sind mindestens genauso gut wie die Quo-Originale. Anders, aber genauso anmachend und einnehmend. Dem Brecher "Down Down" verpasste Young eine Bläser-Gruppe, was dem Song ein völlig anderes Gesicht verpasst, was sich über den Titel "Claudie" dann wiederum nicht sagen lässt, denn dieser Song war schon im Quo-Original eigentlich eine Country Rock Nummer, die lediglich keine countryspezifische Instrumentierung erhielt. Bob Young verpasste dem Stück sehr viel Country-Flair, beispielsweise durch eine von Pete Witshire gespielte Pedal Steel Gitarre, einem typischen Country-Instrument. Die eingesetzten Keyboards bei allen Songs, von Gavin Povey und Graham Preskett gespielt, überzeugen ausschliesslich mit warmen und sehr passenden Klavier- und Orgelklängen. 

Seit den 90er Jahren ist Bob Young hauptberuflich als Manager im Musikgeschäft tätig, unter anderem für Vanessa Mae und den INXS-Sänger Ciaran Gribbin. Ausserdem arbeitete er für die BBC und schrieb mit Ray Minhinnett ein Buch über die legendäre Fender Stratocaster Gitarre. Im Jahr 2000 hat Bob Young zur Freude vieler Fans die Zusammenarbeit mit Francis Rossi wieder aufgenommen. Auf dem 2002 erschienenen Quo-Album "Heavy Traffic" waren erstmals wieder von Young mitgeschriebene neue Stücke zu hören. Auch das im September 2006 erschienene offizielle Buch zum 40. Geburtstag von Status Quo stammt mit aus seiner Feder. Die der limitierten Ausgabe des Buches beigefügte CD enthält darüber hinaus verschiedene seltene Aufnahmen aus Young's privatem Archiv. Für die Band LEMON JELLY wirkte er 2002 ausserdem auf dem Album "Lost Horizons" als Gastmusiker mit.

Ein leider weitgehend vergessenes Juwel, das dank der deutschen Plattenfirma Repertoire Records allerdings als CD wieder erhältlich ist (unter dem Titel "Tex Axile Rides Again In Quo Country") mit einigen Bonustracks, denen jedoch bis auf die Nummer "Fine Fine Fine" und zwei rhythmisch unterschiedlichen Arbeits-Varianten des Stückes "Caroline", die in unfertigem Rohzustand belassen wurden, die Relevanz, respektive der Bezug zu Status Quo fehlt. Dennoch sind die beiden, von Bob Young und Micky Moody geschriebenen countryesken Lieder "English Rose & Yankee Dan" und "Warm Winds" genauso hörenswert und bilden daher eine gute und passende Ergänzung zum originalen Album von Bob Young.

 

Jun 27, 2016


HERBIE HANCOCK - Mwandishi (Warner Brothers Records WS 1898, 1971)

Nach seinem recht funky ausgefallenen Album "Fat Albert Rotunda" zwei Jahre zuvor ging der Keyboarder und Multi-Instrumentalist Herbie Hancock einen weiteren bis dato nicht beschrittenen musikalischen Weg, indem er die sogenannte Mwandishi Band gründete, mit welcher er in den folgenden zwei Jahren auf zwei Alben vor allem eine afrozentrische Sensibilität entwickelte, was sich unter anderem schon darin sichtbar manifestierte, dass sich die Musiker, mit denen er teils schon auf dem Vorgänger Album zusammengearbeitet hatte, ganz spezielle und bedeutungsvolle afrikanische Beinamen gaben. Mwandishi, wie Hancock sich nannte, ist Swahili. Alle Musiker des aktuellen Sextetts, gaben sich einen solchen Beinamen: Mchezaji (Buster Williams), Jabali (Billy Hart), Mganga (Eddie Henderson), Mwile (Bennie Maupin), Pepo Mtoto (Julian Priester) aund Ndugu (Leon Chancler). Mit dieser Mwandishi Band experimentierte Hancock mit vielen verschiedenen Spielformen des Jazz und suchte nach neuen expressiven Mitteln, indem er etwa afrikanische Rhythmik und neue Möglichkeiten von Sound und Technologie geschickt nutzte, um zwischen Beat und Abstraktion zu pendeln und damit eine völlig neuartige musikalische Mélange zu kredenzen. Das Album "Mwandishi" geriet wie der ungleich bekanntere Nachfolger "Crossings" (1972) zu einem der bedeutendsten und wichtigsten Werke Hancocks, weil hier erstmalig musikalische Eigenheiten zweier Kontinente derart geschickt miteinander verwebt wurden, dass eine Verschmelzung von typischen Afrikanismen und einem spätestens durch den innovativen Jazzmusiker Miles Davis nach allen Seiten geöffneten Jazz der Neuen Welt entstand, der so noch nicht zu hören war und den Weg zur sogenannten World Music durchaus mitgestaltete.

Hancock's neue Band bildete sich im Herbst 1970, während der Musiker zuerst einige Zeit an der Westküste der USA engagiert war und danach während eines Monats in einem Club in Chicago spielte. Während dieser Monate experimentierten er und seine Mitmusiker an neuen Ausdrucksformen, die der Jazz-Pianist schon einige Zeit früher mit Miles Davis diskutiert hatte: Teils komplexe afrikanische Rhythmen mit den neuen elektronischen Möglichkeiten erster Synthesizer und Modulationsgeräten geschickt zu verbinden und daraus eine nachwievor im Jazz und dem typischen Fusion Sound verankerte neue Spielweise zu entwickeln, die in dieser Art und Weise bislang nicht zu hören gewesen war. Hancock's Partnerschaften mit dem Produzenten David Rubinson, der die Fillmore Corporation leitete und dem sehr bekannten Toningenieur Fred Catero führten schon kurze Zeit später zu ersten Probeaufnahmen im Tonstudio, die den Werks-Titel "Mwandishi" erhielten und drei längere Stücke, meist ausgedehnte Improvisationen als Grundlage für ein neues Album präsentierten. 

Die erste dieser drei expansiven Improvisationen war "Ostinato (Suite For Angela)", eine intensive instrumentale Kollaboration der Musiker, die sich gegenseitig unterstützten, aber auch konträr zu einander jammten. Zu diesem, sich über 13 Minuten erstreckenden Jam gesellten sich später als Gastmusiker der später als Rockgitarrist äusserst erfolgreiche Gitarrist Ronnie Montrose, de zu dem Zeitpunkt noch als Geheimtipp galt, sowie der Congas und Timbales spielende José "Cepito" Areas aus der Band SANTANA. Diesen Jam widmete Herbie Hancock der Polit-Aktivistin Angela Davis, die sich für die Bürgerrechte insbesondere der Schwarzen Mitbürger einsetzte und Mitglied der bekannten Black Panther Organisation war. 

Als zweites Stück präsentierten die Musiker mit "You'll Know When You Get There" eine Jazz Ballade, wie sie eigentlich typisch war für Herbie Hancock, die aber dank des ausgeklügelten Arrangements, das viele Reminiszenzen an die afrikanische Musik aufwies, ebenfalls neu und aussergewöhnlich klang. Insbesondere hier gerieten die instrumentalen Darbietungen zu wundervoll atmosphärischen Momenten und die ätherischen Stimm-Spielereien von Hancock wirkten mystisch-fremdartig, spannend und ungewöhnlich zugleich.

Der über eine Laufzeit von 21:20 Minuten ausgebreitete Jam "Wandering Spirit Song" schliesslich als dritte Einspielung dieses Albums zeigt eine grossartige Improvisation, die über mehrere musikalische Ebenen läuft, zeitweise in freier Form die Grenzen auslotet, einen Jazz-Walzer integriert und über phänomenal gespielte Einzeldarbietungen der hervorragenden Musiker verfügt, die sich an verschiedenen Stellen des Jams immer wieder finden, um sich danach wieder voneinander zu entfernen und mit individuellen freien Formen und teils abstrakten, aber enorm spannenden Soli zu begeistern. Der "Wandering Spirit Song" entstammt einer Idee des Trombonen-Spielers Julian Priester, der hier einen relativ grossen Spielraum erhält, sich jedoch nicht in den Vorrdergrund spielt, sondern zumeist im Zusammenspiel mit den anderen Musikern zu brillieren weiss.

Gemessen am Umstand, dass "Mwandishi" lediglich drei grosse Jams zeigt, die fast ausschliesslich freien Improvisationen entstammen, wirken sie beim Anhören erstaunlich auskomponiert, zumindest aber perfekt durcharrangiert. Wieviele von diesen Arrangements dem Zufall geschuldet sind, also auf der Inspiration der Musiker und der Fähigkeit, aufeinander spontan einzugehen basieren, kann vielleicht nicht schlüssig beantwortet werden, doch ist durchaus davon auszugehen, dass die Musiker sich einfach enorm gespürt haben, als sie diese Improvisationen spielten. Die eigentlich nur als Vorproduktion geplanten Aufnahmen in Fred Catero's Studio wurden kurze Zeit später in den professionellen Wally Heider Sound Studios in San Francisco in einem Guss noch einmal wiederholt und quasi als Live-Ereignis auf Band festgehalten. "Mwandishi" ist nicht das bekannteste Werk im umfangreichen Schaffen des Jazz Pianisten und Fusion-Meister Hancock, es zeigte aber eine weitere interessante, bis dato nicht gehörte Spielweise eines sich öffnenden Musikstils, der von jeglichem alten Muff längst befreit war. Für mich bis heute eines der herausragenden Werke aus dem Bereich Fusion.



Jun 25, 2016


BOB DOWNES OPEN MUSIC - Electric City (Vertigo Records 6360 005, 1970)


Um die teils recht anspruchsvolle, wenn nicht gar anstrengende Musik von Bob Downes begreifen zu können, die der Multi-Instrumentalist hier auf diesem Album von 1970 präsentierte, muss man etwas tiefer in die Biographie dieses Musikers eintauchen. Ursprünglich schon in den frühen 60er Jahren als Begleitmusiker etwa für THE JOHN BARRY SEVEN unterwegs, einer Jazz Big Band, die ab 1957 regelmässig in britischen TV Shows als Unterhaltungs-Combo auftrat und landesweit sehr beliebt war, tourte Downes auch als Backing Band Mitglied von Pop Sänger BARRY ANDREWS (nicht der gleichnamige Keyboarder von XTC) und später mit Manfred Mann. Schon in dieser frühen Phase seiner musikalischen Laufbahn zeigte sich Downes stets offen für alle möglichen Musikstile, was sein eigenes Verständnis von Musik entscheidend mitprägte, und das ihm vor allem gegen Ende der 60er Jahre dahingehend zugute kam, dass er oft und gerne für Studioaufnahmen gebucht wurde, und zwar von den stilistisch unterschiedlichsten Musiker und Bands. Seine prägendsten Aufnahmen machte er aber stets in den Bereichen Avantgarde, Jazz/Fusion und dem Freistil-Rock der frühen progressiven Aera. So finden sich unter anderem hochklassige musikalische Beiträge auf Platten etwa von EGG, dem MIKE WESTBROOK ORCHESTRA oder ROCK WORKSHOP in seinem äusserst umfangreichen Portfolio. Als Musiker, der ausserdem seine eigenen Vorstellungen von Musik hatte, genügten auch diese äusserst vielseitigen Engagements letztlich nicht und er forschte nach weiteren Möglichkeiten, sich mit seinen beiden Hauptinstrumenten Flöte und Saxophon auszudrücken.

1970 startete Bob Downes ziemlich extrem durch, zumindest was seine unbändige Komponierfreude und seine enorme Produktivität angetrifft. In diesem Jahr veröffentlichte er gleich vier Alben (!), von denen jede eine etwas andere musikalische Grundausrichtung aufwies. Das erste Produkt, "Open Music" betitelt, erschien im Frühjahr 1970 auf Philips Records und klang wie eine damals ziemlich zeittypische Jazz Rock Mélange, ähnlich jener etwa von den gerade aufkommenden COLOSSEUM. Er kokettierte da schon mit vielen freien Formen des Spiels, die allerdings noch so konkret klangen, dass man sie nicht in die Free Jazz Ecke stellen konnte. Als nächstes reichte er eine LP nach, die auf einem Billigsampler-Label (dem bekannten mfp-Label "Music For Pleasure" Records) vor allem in den Kaufhäusern als Ramsch-Platte im niedrigen Preissegment zu finden war (!). Unfassbar, angesichts der hohen Qualität der gebotenen Musik auf "Deep Down Heavy", das sein enorm vielfältiges Betätigungsfeld nun in Richtung verzerrte Gitarren, leichten progressiven Rock und recht psychedelische Abenteuer steuerte. Als wäre dies nicht genug, kam der umtriebige Musiker in der Folge auch beim von Philips lancierten Progressiv-Label Vertigo Records unter Vertrag, wo er im Sommer desselben Jahres die Platte "Electric City" veröffentlichte. Noch im gleichen Jahr reichte er schliesslich mit dem auf JW Theme Music erschienenen Album "Bob Downes' New Sounds For Flute, Percussion And Synthesizer" ein extrem abstraktes, kaum konsumierbares sperriges Werk nach, das kaum Käufer fand und wohl auch eher eine Art Werbung darstellte, was für Soundveränderungen man inzwischen mittels elektronischer Gerätschaften erzeugen kann. Ich selber habe diese LP nie gesehen, geschweige denn gehört. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass von der Platte viele Exemplare im Umlauf gekommen sind. Gerne würde ich da allerdings einmal reinhören.

Die weitaus interessanteste dieser vier Veröffentlichungen war die Platte "Electric City", dessen gleichnamiges Stück der Künstler zuvor bereits auf dem Album "Open Music" veröffentlicht hatte (sehr ungewöhnlich). Das Album spielte Downes mit einer wahren Armada von Mitmusikern ein, insgesamt waren nicht weniger als 17 Musiker an dem LP-Projekt beteiligt, eine Mehrheit davon Bläser. Darunter befanden sich durchaus auch bekannte Grössen, wie etwa der Gitarrist CHRIS SPEDDING ("Motorbikin'", "Jump In My Car"), der bereits auf dem stilistisch ähnlich ausgelegten Werk CENTIPEDE von KEITH TIPPETT, das ebenfalls ein Mammut-Stelldichein von nicht weniger als 50 Musikern bot, mitwirkte. Ausserdem der Trompetenspieler KENNY WHEELER, die sehr bekannten Trompeten- und Flügelhorn-Spieler IAN CARR (Nucleus) und HAROLD BECKETT, sowie der Bassist HERBIE FLOWERS und der Schlagzeuger CLEM CATINI, um nur einige zu nennen. Produziert hatte Bob Downes dieses Werk selber, was dazu führte, dass er die alleinige Kontrolle besass und dadurch völlig freie Hand sowohl in kompositorischer, wie in instrumentaler Hinsicht hatte. Etwas, das heutzutags praktisch nicht mehr möglich wäre. Dank dieser uneingeschränkten künstlerischen Freiheit entstand ein Werk, das man getrost als Downes' Meisterstück bezeichnen kann.

"Electric City" in seiner Gesamtheit zu erfassen wirkt auf den Zuhörer, als würde er mit einer Art Rundumschlag der verschiedensten musikalischen Facetten der frühen 70er Jahre Progressive Rock/Jazz und Fusion-Aera konfrontiert. Die Platte zeichnet sich durch eine enorme Vielfältigkeit aus. Es gibt allerdings zwei auffällige Merkmale, welche die Stücke auf dem Album gemeinsam haben: Sie sind entgegen der üblichen Songlängen in diesem musikalischen Bereich eher kurz bis sehr kurz. Das eröffnet natürlich eine neue Betrachtungsweise beim anhören: Statt ellenlanger Einleitungen wird relativ rasch auf den Punkt gespielt, die Dynamik der Songs ist entweder nur von kurzer Dauer oder reisst gleich von Beginn weg alles nieder: Hier wird auf allen Songs kurz und knapp gepowert, atemlos vorwärtsgeprescht und nie auch nur ansatzweise in ein Thema eingeleitet. Das ist bemerkenswert, zumal bei solch einer massiven Manpower von 17 Musikern. Alle Achtung!

Das erste Stück "No Time Like The Present" zeigt diese Arbeitsweise ganz hervorragend und weist bereits im Songtitel klar darauf hin: Hier, jetzt und sofort. Der Song wurde auch als Single veröffentlicht, natürlich ohne jeglichen Erfolg. Welches Publikum, das sich gerne Singles kauft, würde schon so einen energischen Fusion-Brocken mehrfach zuhause runternudeln wollen ? Heute sind ja so einige Singles-Auskoppelungen von Vertigo Records aus ihrer frühen Swirl-Phase nicht mehr ganz nachvollziehbar, zumal auch die Firmenstrategie damals klar auf Album-Kunst ausgelegt war. Man erhoffte sich indes vielleicht, auch auf dem Singles-Markt mittun zu können. Zählbare Erfolge boten da jedoch letztlich nur die ebenfalls bei Vertigo veröffentlichenden Black Sabbath, Uriah Heep oder Status Quo. Alle anderen Swirl Singles sind eher als Kuriosa anzusehen. So auch dieses Tück von Bob Downes, das mit der B-Seite "Keep Off The Grass" ausgestattet war, dem zweiten Song auf dieser LP.

Ausser einem eher befremdlich wirkenden Bossa Nova Rhythmus, der im Song "West II" wie eine Art Filmmusik aus den späten 50er Jahren anmutet, gibt es bei praktisch allen anderen Songs Assoziationen zu den typischen Fusion- und Jazz Rock-Vertretern jener Zeit zu hören. Seien dies COLOSSEUM oder IAN CARR's NUCLEUS, PASSPORT oder auch JOHN McLAUGHLIN: Die Einflüsse sind hörbar, und trotzdem spielt Bob Downes in einer ziemlich eigenen Liga. Nicht immer qualitativ, dafür umso mehr auf recht exzentrische Art und Weise. Denn ein grosser Sänger ist Downes nicht, hat aber viel Dynamik und eine helle, klare Stimmfarbe, die durchaus passend wirkt und die instrumentalen Orgien, die manchmal schon an der Grenze zum Erträglichen sind, was ihre Opulenz anbetrifft, angenehm herunterzureissen vermag. Man muss sich natürlich schon vergegenwärtigen, dass hier zeitweise bis zu sechs Bläser in einem einzigen Song zu hören sind. Das tendiert dann zum Brass Rock, wenn noch die verzerrte Rockgitarre von Chris Spedding dazu kommt. Spedding war zu jener Zeit ja auch bei Ian Carr's Nucleus eingesetzt. Dieser wiederum setzt klare Akzente, die an die Nucleus-Werke "Solar Plexus" und - noch stärker - an "Belladonna" erinnern. Die Titel wie "Don't Let Tomorrow Get You Down", "Go Find Time" oder "Crunch Hour" sind hierfür schöne Beispiele.

Am extremsten klingt Bob Downes immer in jenen Momenten, in denen er seine Freiheiten an Flöte und Saxophon auslebt. Er quiekt und malträtiert vor allem sein Saxophon, bleibt dabei aber stets kompakt in der Linienführung und rastet jeweils nur wenige Momente lang aus, was sich aufgrund der Songlängen von zwischen lediglich 2:15 und 4:30 Minuten eindrücklich nachempfinden lässt. Einziger Ausreisser ist der Schlusstitel "Gonna Take A Journey", das bei aller Exaltiertheit irgendwie doch herrlich fliesst und man erhält bei dem Stück auch eine Ahnung, wie bequem Bob Downes aus seinen knappen Dynamik-Shorties der LP jederzeit auch hätte ausufernde Variationen präsentieren können. Auch als längere Varianten mit vielleicht total ausgeflippten instrumentalen Ausbrüchen hätte diese Musik super funktioniert, das kann man sich gut vorstellen, wenn man seine Musik anhört. Bloss hätten das Album dann vielleicht noch weniger Hörer für sich entdeckt. Wer weiss.





Jun 23, 2016


SOLARIS - Marsbéli Krónikák (Start Records SLPM 17819, 1984)

Sich als Bandnamen den Titel eines phantastischen Science Fiction Werks des Schriftstellers Stanislaw Lem zu verpassen und sich als musikalische Vorgabe für das erste Album gleich auch bei dessen Geschichte der Mars Chroniken zu bedienen, ist schon mehr als eine tiefe Verbeugung vor einem grossartigen Schriftsteller und einem seiner wichtigsten Werke. Dabei war das musikalische Konzept der Gruppe aus Ungarn durchaus nicht gleich Programm. Natürlich spielen Space-Effekte eine gewisse Rolle, auch bedient sich die Gruppe ordentlich der Lem-Geschichte in punkto musikalischer Szenerie, doch stilistisch ist die Band sehr breit aufgestellt. So proklamieren die Musiker, die sich seit Schulzeiten in Budapest kannten, beispielsweise nicht, wie man bei solch einem konsequent scheinenden Gesamtkonzept erwarten könnte, den Space Rock etwa von Hawkwind (um einen der entsprechenden Vertreter dieses Genres zu nennen), sondern zeigen einen ausserordentlich grossen musikalischen Variantenreichtum, der weder vor Folk-Elementen, noch fast Krautrock typischer Elektronik und psychedelischen Klängen Halt macht.

Zentraler Mittelpunkt jedoch, und das ist das Aussergewöhnliche an der Gruppe SOLARIS, markiert der gute alte Rock and Roll. Die Musiker wirken auf der gesamten Platte stets bodenständig, auch wenn sie sich bisweilen in exotischen oder abgedrehten Passagen wiederfinden. Vielleicht hatte die Band auch einfach nur eine zugegeben recht originelle Rezeptur gefunden, ihre an sich normalen Rock-Muster durch ein wohldurchdachtes Konzept, das viel Platz für kreative Spielereien zulässt, als vordergründiges Stilmittel einzusetzen, dabei aber den rudimentären Rock als Hauptzutat beizubehalten.

Die Gruppe SOLARIS wurde 1980 in Budapest gegründet und bestand aus dem Gitarristen István Cziglán, dem Keyboarder Róbert Erdész, dem Flötisten Attila Kollár, dem Bassisten Attila Seres, sowie dem Schlagzeuger Vilmos Tóth. Vier Jahre später erschien dann ihr Debutalbum, dessen komplette A-Seite die "Marsbéli Krónikák"-Suite einnahm, die auf den Mars Chroniken von Stanislaw Lem basiert. Diese Mars Chroniken sind auf jeden Fall der beste und atmosphärischste Teil des Albums, immer wieder mit recht spaceigen Synthesizer-Spielereien auf- und ausgebaut. Daneben bietet die Suite ausladenden Freiraum für alle Instrumentalisten, sich solistisch auszutoben. Wenn man aber denkt, dass einer der wichtigsten Aspekte eines musikalischen Werkes deren Vielseitigkeit ist, so stellt man im Falle der Mars Chroniken von SOLARIS fest, dass die gesamte musikalische Darbietung weitgehend kompakt wirkt, die teils ellenlang in Szene gesetzten Einzelpassagen vor allem durch Spielfreude, unerwartete Gimmicks oder ganz einfach hervorragende Soli (zum Beispiel der Flöte und der Gitarre) variantenreicher wirkt, als es die imgrunde eher einfach strukturierte Songoberfläche vermuten lässt.

Der Rest der Platte besteht aus eher kürzeren Stücken, in welchen sich die einzelnen Mitglieder der Gruppe an ihren Instrumenten kreativ und ausufernd in Szene setzen. Auch in diesen Titeln (der originalen B-Seite der LP) fliessen die Songs perfekt, was die beim anhören gefühlte Qualität der Musik von SOLARIS gleichermassen unterstreicht, wie denselben Eindruck, den man von der grossen Suite "Marsbéli Krónikák" schon hat. Ihr Debüt-Album ist eines jener schönen Beispiele für das, was man gemeinhin als guten und konzeptionellen, originell und durchaus eigenständig ausgearbeiteten Progressive Rock bezeichnet. Zusätzlich ist hier das Aussergewöhnliche, dass dies von einer Band umgesetzt wurde, die rein instrumental agierte, keinen Gesang bot, ausser ein paar schrägen Sprachfetzen ganz zu Anfang der grossen Mars Chroniken-Suite (Marsianer im Gespräch?) und die neben der viel bekannteren Gruppe OMEGA eine der ganz wenigen Progressive Rock Bands aus Ungarn ist, die einem etwas grösseren Publikum bekannt geworden ist.

Würde man die hier gebotene Musik mit anderen Musikern und Bands vergleichen wollen, so könnte man das Ganze als Symphonischen und elektronischen Spacerock bezeichnen, oder Vergleiche ziehen etwa mit JETHRO TULL, was die teils sehr dynamischen Flöten-Spielereien betrifft, mit MANFRED MANN'S EARTH BAND, wenn der Keyboarder Róbert Erdész mit seinem Minimoog und dem Pitchbend ausgiebig soliert, sowie mit JEAN MICHEL JARRE, wenn man beispielsweise ganz zu Beginn der Platte beim Intro zur "Marsbéli Krónikák"-Suite eintaucht.

Das Buch, welchem die Platte zugrunde liegt, ist nicht minder interessant. In dem von Stanislaw Lem 1961 geschriebenen Werk, das als eines der grossen Meisterwerke der Science Fiction Literatur gilt, wird vom Mysterium des Planeten Solaris erzählt, der fast vollständig von einer Art Ozean umgeben ist, der ständig bizarre und vielfarbige Ausformungen an seiner Oberfläche hervorbringt. Indizien deuten darauf hin, dass der Ozean ein intelligentes Wesen ist, doch auch nach rund hundert Jahren intensiver Forschung ist die Menschheit dessen Verständnis kaum nähergekommen. In dieser Situation trifft der Psychologe Kris Kelvin auf der Solaris-Forschungsstation ein und findet eine psychisch labile Mannschaft vor, zudem hat einer der drei Forscher vor kurzem Suizid begangen. Anscheinend sind zudem weitere, fremde Personen auf der Station anwesend. Nach anfänglicher Verwirrung findet Kelvin heraus, dass der Ozean begonnen hat, aus Erinnerungsspuren der Forscher scheinbar lebende, täuschend echte Menschen zu rekonstruieren und auf der Station erscheinen zu lassen. Dabei wählt er anscheinend Erinnerungen aus, die mit tiefen Schuldgefühlen verknüpft sind. Kelvin sieht sich bald seiner vor vielen Jahren verstorbenen Freundin Harey gegenüber, an deren Suizid er sich mitschuldig fühlt. Diese erkennt bald, dass sie nicht die originale Harey ist und beginnt, gegen Kelvins Willen, mit den beiden anderen Forschern an einer Methode zum Verschwindenlassen der Nachbildungen zu arbeiten, was schliesslich gelingt. Der Roman Solaris wurde auch mehrfach verfilmt, zuletzt mit George Clooney in der 2002er Kinofassung von Steven Soderbergh, die der Autor Stanislaw Lem jedoch als Mumpitz abtat: „Blödsinn! Absoluter Blödsinn. Alles Interessante an meinem Roman bezog sich auf das Verhältnis der Menschen zu diesem Ozean als einer nicht-humanoiden Intelligenz – nicht auf irgendwelche zwischenmenschlichen Liebesgeschichten.“

Die ungarischen SOLARIS veröffentlichten in der Folge mehrere ebenfalls sehr gute Platten: "Solaris 1990" (1990), "Live In Los Angeles" (1996), "Nostradamus - Book Of Prophecies" (1999), sowie "Los Angeles 2026" (2000). Dabei blieben sie ihrem beim Debutwerk "Marsbéli Krónikák" eingeschlagenen inhaltlichen Weg mehr oder weniger treu, indem sie utopische, oder auch mystisch-geheimnisvolle Geschichten konzeptionell stets in den Vordergrund stellten, und diese mit ihrer immer sehr vielschichtigen und teils auch recht eigenen Vorstellung von symphonischem Space Rock musikalisch umsetzten. "Marsbéli Krónikák" ist vielleicht nicht das absolute Meisterwerk, aber sicherlich gehört die Platte zu den zehn besten Progressive-Rock-Alben der 80er Jahre.

Hier eine ganz phantastische Live-Aufführung des kompletten Werks, 21 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Albums aus dem Jahre 2005.



Jun 21, 2016


SINKADUS - Cirkus (Cyclops Records CYCL 072, 1999)

Die schwedische Band Sinkadus hatte 1996 ihr Debütalbum "Aurum Nostrum" beim normalerweise auf Neo Progressive Rock spezialisierten britischen Cyclops-Label veröffentlicht. Stilistisch wurde die Gruppe oft und gerne mit den wesentlich bekannteren Änglagård verglichen. Das schmeichelte der Band einerseits, andererseits unterstrich dieser Vergleich auch die hohe musikalische Qualität, welche die Band innert kürzester Zeit unter Beweis stellen konnte. Bereits auf ihrem Debutalbum schwelgte die Band in den 70er Jahren und operierte mit allerlei authentischem Instrumentarium, wie es die grossen Vorbilder bereits 20 Jahre vor ihnen getan hatten. SINKADUS zeigten sich als versierte, professionell agierende Gemeinschaft, die quasi aus ihren eigenen musikalischen Vorlieben neue und eigene Klangwelten erschufen, und dies gleich von Beginn weg auf sehr hohem Niveau. Das Album "Aurum Nostrum" blieb zwar letztlich bloss ein Geheimtipp, ermöglichte es der Band allerdings zwei Jahre später beim angesehenen ProgFest Event aufzutreten und einen grossen Erfolg beim Publikum zu feiern. Dieser Auftritt wurde live mitgeschnitten und erschien später als zweite offizielle Platte mit dem Titel "Live At ProgFest '97".

Weniger als ein Jahr nach ihrem Erstling legten SINKADUS somit eine Live Doppel-CD nach. Die Platte, resp. das Konzert, bot zwar keine neu geschriebenen Titel, sondern bis auf das Stück "Jag, Änglamarks Bane", das sich später auf dem Studioalbum "Cirkus" wiederfinden würde, bereits bekannte Titel des Debütalbums in Live-Versionen vom Progfest in Los Angeles, sowie als sogenannte Bonustracks jene frühen Demoaufnahmen, dank derer die Gruppe beim Plattenlabel Cyclops Records auf sich aufmerksam machen konnte, was letztlich zu dem besagten Plattenvertrag führte. Die Musik des Sextetts aus der Nähe von Göteborg, oft durch typische, eher gedämpfte Klänge aus dem hohen Norden dominiert, wurden folkloristisch durch ausgiebige Flöteneinlagen angereichert, versprühten dazu ein gehöriges Mass an Melancholie und Traurigkeit. Die Live- und die Demoversionen wirkten gegenüber den Studioaufnahmen der ersten Platte wesentlich rauher, ungeschliffener und fesselnder. Ein Manko stellten einzig die vielleicht übermässig vielen ruhigen Passagen, die zwar mit Cello- und Mellotronklängen spannend gestaltet wurden, doch mehr Expressivität hätten erfahren dürfen. So fehlte den Live-Aufnahmen von SINKADUS letztlich doch noch ein wenig der entscheidende Kick, um aus dem zugegebenermassen großen Schatten anderer schwedischer Bands heraustreten zu können. Interessante Musik für den Liebhaber der skandinavischen Variante des Progressive Rocks boten sie aber allemal. Allein die Tatsache, dass sie kurz nach der Veröffentlichung ihrer CD schon beim prestigeträchtigen Progfest auftreten konnten, stellte einen offensichtlichen Beweis ihrer Qualitäten dar.

Mit dem zweiten Studioalbum "Cirkus" konnte die Band 1999 das hohe Qualitätsniveau schliesslich deutlich übertreffen. SINKADUS hatten wie die meisten ihrer Landsleute eine Nische im bisweilen leider allzu glatt polierten modernen Progressive Rock gefunden und überzeugten vor allem hier beim insgesamt dritten Album durch einen warmen Retro-Sound, ohne dabei wie eine Kopie eines der grossen Vorbilder der 70er Jahre zu wirken. Die Gruppe, deren Album "Cirkus" in der Folge leider das letzte musikalische Lebenszeichen war, bewies, dass sie ein Paradebeispiel für die Kreativität der skandinavischen Szene war. Allerbester Retro-Progressive Rock bot die Gruppe hier, fuhr das ganze fossile Instrumentarium der 70er Jahre auf. Dazu gehörten eine herrlich gurgelnde und röhrende, durch ein Leslie Cabinet geführte Hammondorgel, ein Mellotron und ein knorriger, oft recht deutlich in den Vordergrund gemixter Bass in bester Chris Squire-Manier. Der Sound der Schweden war hier überwiegend melancholisch, wobei es aber auch zu vereinzelten emotionalen Ausbrüchen kam. Eine Inspiration durch die schwedische Folklore war ebenfalls nicht zu überhören. Auch eine romantische Flöte und ein Cello kaen geschickt und gut punktuiert zum Einsatz. Der unauffällige schwedische Gesang war sehr sparsam eingesetzt, passet aber gut zum schwermütigen Grundcharakter der Musik. 

Das Album überzeugte bereits beim Opener "Jag, Änglamarks Bane" durch eine Flötenmelodie, bei der unheimlich viel passierte, bevor eine laute Explosion nach etwa einer Minute Spielzeit das Stück forcierte. Ein leistungsfähiger Melodie-Körper plus ein Mellotron, mit einem dezenten Schlagzeug angereichert, wirkte der Opener wie ein Trauermarsch. Bereits hier erinnerten SINKADUS angenehm an vergleichbare Sachen der wesentlich bekannteren Konkurrenten von Änglagård. Gitarre und Bass begeisterten durch eine atemberaubend gespielte Linie. Die gesamte Band wurde von dieser furiosen Basslinie angetrieben.Das Stück spielte gekonnt mit den verschiedensten, Spannung erzeugenden Motiven, die zuerst ruhig und fast melancholisch, immer wieder ausbrachen und den Zuhörer aus dem Sessel katapultierten. "Positivhalaren" öffnete sich kraftvoll durch Orgel, Schlagzeug und Mellotron. Dazu gesellte sich eine herrlich gespielte Flöte, während das Mellotron seine Basis-Struktur beibehielt, nach und nach jedoch mit dem Bass kokettierte, was äusserst angenehm, aber auch sehr spannend und enorm vital herüberkam.

Der dritte Titel "Kakafonia" geriet bereits durch seinen Titel zum musikalischen Programm. Hier schöpften SINKADUS aus den Vollen. Ausgehend von einem eher noch ruhigen und traurigen Einleitungsthema, das vor allem wieder durch die leisen Flötenklänge fast einlullend wirkte, entwickelte der Song nach und nach eine unbändige Dynamik, die auch hier wiederum vom Mellotron klasse in Szene gesetzt wurde. Hier klangen die grossen Spannungsbögen zwischen Aufruhr und Zusammenbruch fast am eindrücklichsten. Auch der prägnante und zielgerichtet arrangierte, fast episch wirkende Chorgesang verlieh dem Stück eine zusätzliche Dramatik. Dabei blieb auch dieser Titel trotz aller geinaler Dramaturgie letztlich ein Feeling-betonter Song, der keineswegs in Frickeleien mündete. Das war eigentlich durchwegs auch bei allen anderen Titeln der Band das zentrale stilistische Merkmal. Der vorletzte Stück "Valkyria", ein zehnminütiges Instrumentalstück, überraschte durch seinen sehr kernigen, rockigen Gesamtsound, der auf der gesamten Platte bislang nicht in dieser Forciertheit zu hören war. Ein weiterer Versuch der Gruppe, dem Album insgesamt noch einen weiteren zusätzlichen Touch zu verleihen, was hervorragend gelang. Dem Mellotron wurde hier eine breite Fläche zugestanden und eigentlich müsste gerade dieser Track jedem Fan des typischen Mellotron-Sounds extrem gut gefallen. Majestätisch setzte es sich in Szene, explodierte förmlich und war von Frederick Karlsson sensationell virtuos gespielt. 

Das Album endete mit "Ulv I Färakläder", das mit einer herrlichen Schrammelgitarre begeistern konnte. Diese rumpelige Art, den progressiven Rock zu spielen, beherrschten SINKADUS zuvor nicht, oder wollten es nicht in dieser Art zeigen. Hier verschmolzen dann die Musikstile miteinander: Skandinavische Folklore-Einschübe, progressiver Rock, herzhafter Beat und dazu diese typische allgegenwärtige nordische Schwermut in Form eines steten Wechsels von schwelgerischen Harmonien und schroffer Komplexität. Die zartgliedrig tänzelnden Flöteneinlagen standen auch bei diesem wundervollen Abschlusstitel noch einmal eindrücklich für den romantischen Unterton im Sound der Band, den sie praktisch auf dem gesamten Album immer wieder durchschimmern liess.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die spröden Gesangslinien den teilweise fragilen Charakter des Albums prägten, was insbesondere im ätherischen Beginn des Stücks "Kakafonia" zum Ausdruckt kam. In fast schon pastoraler Anmut wurden sanfte Klanglinien gezeichnet, die dann von wohl dosierter symphonisch-schwelgerischer Komplexität abgelöst wurden. "Valkyria" wiederum stand für die von SINKADUS dargebotene episch-folkige Eleganz in Form von dezenter Klangmalerei. Das mutete fast wie ein in zarten Farben gezeichnetes Aquarell an, das eine liebliche Hügellandschaft zeigt. Säuselndes Flötenbeispiel und verklärte Mellotronflächen standen für den sanften Sommerwind, der zart über die Wiesen streicht und die pittoreske Szenerie mit betörenden Duftessenzen erfüllte, ehe die langsam am Horizont aufziehenden Wolken zu einer bedrohlichen Stimmung beitrugen und sich zu einem kurzen, aber heftigen Gewittersturm entluden. Die auf "Cirkus" praktizierten Dynamikeinschübe hatten die Funktion, das vorherrschend sanftmütig-symphonische Klangbild gezielt mit charakteristischen Kanten zu versehen, was den Musikern vortrefflich gelang.


Schade, dass von dieser vielversprechenden Gruppe kein nachfolgendes Material mehr erschien. Die Band hatte sich wohl still und heimlich aufgelöst. Hinterlassen hat sie allerdings drei wirklich schöne Retro Progressive Rock Alben, von denen das dritte mit dem Titel "Cirkus" das ausgereifteste und spielerisch hervorragendste darstellt. Da hätte man sich durchaus noch auf weitere Alben gefreut. Schade.