Mar 31, 2017

DREAM THEATER - Octavarium (Atlantic Records 83793-2, 2005)

Nachdem die Progmetaller von Dream Theater mit dem eher harten Vorgängeralbum "Train Of Thought" in Richtung Trash Metal gefahren waren, kehrten sie mit ihrem achten Album "Octavarium" wieder zu einem deutlich progressiveren Stil zurück, der in mancherlei Hinsicht auch ein grosser Schritt vorwärts bedeutete. Zum einen arbeiteten Dream Theater für dieses Album erstmals mit einem kompletten Orchester zusammen, was für die Band noch ungewöhnlich, im progressiven Rock allerdings durchaus bekannt war und ist. "Octavarium" war auch das letzte Album, das Dream Theater auf dem Plattenlabel Atlantic Records herausbrachte, nachdem die Gruppe während insgesamt 14 Jahren bei der Firma unter Vertrag gestanden hatte. Zu guter Letzt war es auch das letzte Werk, das die Band im Hit Factory-Studio in New York aufgenommen hatte, denn kurz nachdem die Band die Aufnahmen beendet hatte, wurde dieses geschichtsträchtige Studio für immer geschlossen. Gemessen an den üblichen kommerziellen Erfolgen von Veröffentlichungen einer progressiven Rockband war Dream Theater's "Octavarium" nachgerade ein Ueberflieger: Das Album erreichte in vielen Ländern Spitzenpositionen in den Charts, so etwa die Top 5 in Finnland, in Italien und in Schweden, sowie die Top Ten in Polen, den Niederlanden, in Norwegen und in Japan. Ein Thema, das sich auf verschiedenen Ebenen durch das gesamte Album "Octavarium" zog, war die Oktave, und damit zusammenhängend die Zahlen 8 und 5. Eine Oktave ist ein Intervall von acht Tonstufen, und Fünf ist die Anzahl der Halbtöne innerhalb einer Oktave (die schwarzen Tasten auf dem Klavier). Der Grund für dieses Konzept könnte darin liegen, dass es sich bei "Octavarium" um das achte Studioalbum der Band handelte.

Auf die Acht, respektive auf die Oktave wurde schon im Albumtitel angespielt, aber auch die Anzahl der Songs in dem Album betrug acht. Die Tonarten, in denen die Songs geschrieben worden waren, sämtliche im übrigen in der Tonart Moll, umfassten ebenfalls genau eine Oktave: Der Beginn erfolgte in "f", daraufhin erklangen in aufsteigender Reihenfolge "g", "a", "h", "c", "d", "e" und schliesslich wieder "f". Dazu passend war auf der Rückseite der CD-Hülle ein mit "f" beginnender Abschnitt einer Klaviertastatur angedeutet, der eine Oktave umfasst, und auf der die Songtitel auf die jeweils dem Grundton der Tonart entsprechenden Taste gedruckt sind. Auch die acht Kugeln und die fünf Vögel auf dem Albumcover liessen sich als weisse und schwarze Klaviertasten deuten, die von einem "f" zu dem darüberliegenden "f" gingen. Zahlreiche weitere, mehr oder weniger versteckte Hinweise auf die Oktave, respektive auf die Zahlen Acht und Fünf wurden in die Stücke selbst, in ihre Songtitel und in die Illustrationen im Booklet eingebaut. Ein weiteres Thema des Werks war die Zirkularität aller Dinge: Der Gedanke, dass sich die Geschichte im Kreis bewegt und alles irgendwann wiederkehrt, so wie der Endpunkt eines Oktavenintervalls zugleich der Anfangspunkt des nächsten ist. Dies drückte sich unter anderem im Tonartenschema des Albums aus, das von "f" zu "f" führte, oder darin, dass das Album mit derselben Note begann, mit der auch das Vorgängeralbum "Train Of Thought" endete. Neben expliziten Erwähnungen des Themas in den Texten fanden sich auch zahlreiche textuelle und musikalische Anspielungen auf frühere Songs von Dream Theater selbst und von anderen Bands. Auch in den Illustrationen kam dieses Thema vor, unter anderem im immer wieder zurückschwingenden Kugelstosspendel auf dem Cover.

Ursprünglich sollte das Album "Octave" betitelt werden, aber als die Progressive Rockband Spock’s Beard Anfang 2005 ihr ebenfalls achtes Album "Octane" herausbrachte, beschloss Dream Theater den Albumnamen mehr von diesem zu differenzieren. Nach Ankündigung des Namens "Octavarium" gab es unter den Fans viele Spekulationen, was dieser Titel bedeuten könnte. Sprachwissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei "Octavarium" um ein lateinisches, respektive aus dem Lateinischen entlehntes Wort, bestehend aus dem Wortstamm Octav- (von octavus = "der achte" bzw. octava = "die achte", davon abgeleitet "die Oktave") und dem Suffix -arium (Neutrum von -arius), dessen Grundbedeutung "...betreffend" ist. Die wörtliche Bedeutung von "Octavarium" kann also ungefähr mit "das Achte betreffend" oder "Oktaven betreffend" umschrieben werden, was gut zum Konzept des Albums passt. Mit dem erwähnten Suffix gebildete Wörter sind im Lateinischen Adjektive, die aber auch oft substantiviert werden. In letzterem Falle wird das Hauptwort nicht genannt, sondern muss aus dem Kontext geschlossen werden (hierzum Beispiel "... betreffendes Album" oder ähnlich). Das Wort "Octavarium" existierte schon im nachklassischen (spätantiken) Latein und bezeichnete damals eine Steuer in Höhe von 1/8 (wörtliche Bedeutung in diesem Fall: "den achten Teil betreffende Steuer"). Als Werktitel kam das Wort auch im "Octavarium Romanum" ("Römisches Octavarium") vor, einem die katholische Liturgie behandelnden Buch aus dem Jahr 1628 ("liturgische Oktaven betreffendes Buch"). Ob diese zeitlich weit zurückliegenden und inhaltlich abgelegenen Verwendungen des Wortes einen Einfluss auf den Namen des Dream Theater Albums hatten, sei dahingestellt. Die auf Internetforen weit verbreitete Auflösung des Namens in octa + varium mit der angeblichen Bedeutung "acht Variationen" ist grammatikalisch jedenfalls nicht korrekt (was natürlich nicht ausschliesst, dass Dream Theater theoretisch auch eine solche Deutung vorgeschwebt haben könnte).

Denkt man nun musikalisch betrachtet beispielsweise an die sehr gute, aber eher untypische Platte "Six Degrees Of Inner Turbulence" (CD 1), oder das zuvor veröffentlichte Album "Train Of Thought", oder aber das kitschige Gesamtwerk der zweiten CD von "Six Degrees Of Inner Turbulence", so fiel einem immer wieder die Variationsfähigkeit der Gruppe Dream Theater auf. Auch hier liess sich die Gruppe neben dem bedeutungsschwangeren inhaltlichen Gesamtkonzept in musikalischer Hinsicht etwas spektakulär Neues einfallen, insbesondere durch die Mitarbeit eines kompletten Orchesters. Aber nicht nur das. Auch immer mehr und deutlich hörbare Reminiszenzen an die Mitt-70er Pink Floyd Sphärenmusik hielten Einzug in die Arrangements der Songs. Insbesondere der überlange Einstieg in das sich über 24 Minuten erstreckende Titelstück "Octavarium" erinnerte an die Einleitung von Pink Floyd's "Shine On You Crazy Diamond"-Thema der Platte "Wish You Were Here". Aehnlich wie die Entwicklung bei anderen progressiven Rockbands wie etwa der Flower Kings, konnte man auch bei Dream Theater einen immer stärker werdenden Hang hin zum symphonischen Wohlklang vernehmen, der gerade hier auf "Octavarium" erstmals so üppig zum tragen kam.

Das erste Stück des Albums, "The Root Of All Evil" folgte den thematischen und auch musikalischen Konzepten der früher veröffentlichten Songs "The Glass Prison" und "This Dying Soul". Letzteres wurde sogar auch im Song zitiert. Gleich am Anfang gab die Band um John Petrucci alles: Mike Portnoy spielte ein absolut dynamisches, vorwärtspreschendes hartes Drumming, Keyboarder John Myung lieferte erstklassige Keyboard-Passagen und JohnPetrucci leistete gitarristische Schwerstarbeit. James LaBries' Stimme war dem Song deutlich besser angepasst als bei den beiden zuvor veröffentlichten Alben der Gruppe. "The Answer Lies Within" war die Ballade des Albums und meiner Meinung nach die beste seit dem Werk "Scenes From A Memory". Aufgelockert wurde der Song deutlich durch den leichten orchestralen Bombast. "These Walls" war unbestritten der grosse Ohrwurm des Albums: So locker und eingängig hatte man die Band bis dato eher weniger gehört, doch inzwischen gehörten eingängige, fast schon poppige Melodien fest zum Repertoire der Gruppe. Schnell fiel indes auf: Wenn Dream Theater versuchten Bombast einzubauen, gelang ihnen das grundsätzlich immer. Besonderes Lob galt in diesem eher verklärten, leicht melancholisch wirkenden Song deutlich Rudess und seinem Keyboard, aber auch James LaBrie sang hier so schön wie selten zuvor. Besonders bei der sich stetig aufbauenden Bridge, die in einem wohlarrangierten Amalgam aus den Zutaten Petrucci, Rudess und vor allem Portnoy endete, war Gänsehautstimmung garantiert.

Der nächste Song "I Walk Beside You" reihte sich in Werken wie "Innocence Faded" oder "You Not Me" ein, schlug aber vor allem Zweitgenanntes mühelos. Eine Nummer, die auch locker als Single hätte erscheinen können, doch Dream Theater wären nicht Dream Theater, wenn man nicht etwas mehr als simple Radiokost erwarten durfte. Besonders Jordan Rudess gab diesem Track kurz vor den Refrains einen sehr schönen Touch und John Petrucci verstand es grandios, mit seinem einladenden Gitarrenspiel hervorzustechen, selbst wenn ein anderes Instrument oder James LaBrie im Vordergrund standen. Insgesamt eine für Dream Theater eher untypische, radiotaugliche Nummer. "Panic Attack" wiederum fing mit Myung's Bass-Spiel an und mündete in ein brachiales Gewitter, das durch das kraftvolle Schlagzeugspiel von Mike Portnoy dominiert wurde. Hört man diesen Song, wird man wieder an die früheren Progmetall-Zeiten der Gruppe erinnert, die noch immer da waren, wenn auch nicht mehr hauptstilbildend, jedenfalls nicht auf "Octavarium". "Panic Attack" war eines der technischsten Lieder des Albums, erneut dominiert von Myung's Bass, dem pfeilschnellen Schlagzeugspiel Portnoy's und einem selten so aggressiv aufspielenden John Petrucci. Immer wieder drängelte sich Rudess in den Song ein, bombardierte den Hörer mit schnellen Keyboardpassagen. Und, was ganz schön ist, es gab ein superbes Petrucci-Solo. Insgesamt eines der wutentbranntesten, verrücktesten Werke der Gruppe Dream Theater. Der Titel "Never Enough" begann mit einem gedämpften Bass, bevor Petrucci und Portnoy einstiegen. Rudess und eine leicht verzerrte LaBrie-Stimme folgten. Der Song gewann mit der Zeit immer mehr an Dramatik, bevor er nach dem Refrain wieder von der Gitarre und dem Schlageugspiel auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. "Never Enough" war eine weitere Uptempo Nummer, allerdings nicht so hämmernd wie "Panic Attack".

"Sacrified Sons" begann ähnlich wie damals "The Great Debate" mit einigen Stimmfetzen, während sich im Hintergrund langsam etwas anbahnte. Doch statt dem erwarteten Ausbruch von Portnoy oder Petrucci, begann der Song eher recht ruhig und balladesk mit Rudess und LaBrie. Eine Spannung lag aber deutlich spürbar in der Luft. Und tatsächlich: Myung zupfte hart am Bass und zusammen mit Petrucci liessen sie den zweiten Teil des Songs schon ganz anders aussehen. Auch Portnoy wurde etwas wilder, während Rudess kaum noch und LaBrie gar nicht mehr zum Zuge kam. Dann setzte auch wieder das Orchester ein und trieb "Sacrificed Sons" in Höhen wie man sie von Dream Theater erwartet hatte. Etwas in dieser Art hatte man zuletzt auf dem Album "Scenes From A Memory" hören können. Am Ende kam noch einmal James LaBrie zum Einsatz, und der trieb zusammen mit dem Orchester und dem gesamten Team den bereits gehörten ersten Teil des Songs zum Ende. Ein episches Werk, in der Tat.

Mit dem 24 Minuten langen Titelstück "Octavarium" stand am Ende dieses berauschenden Werks noch der Longtrack und insgesamt sicherlich auch der Höhepunkt des Albums auf dem Programm. Ein zweites "A Change Of Seasons" durfte man nicht erwarten, aber auch glücklicherweise kein "Six Degrees Of Inner Turbulence" (CD 2), auch wenn „Octavarium" oftmals an die Ouverture jenen Albums erinnerte. Zu sagen gab es hier eigentlich nur: ein musikalisches Abenteuer, das trotz seiner Länge und der Tatsache, von Dream Theater in Szene gesetzt worden zu sein, flott ins Gedächtnis ging, kurzweilig und eingängig geriet, ein quasi 24 Minuten langer Ohrwurm, wie ihn eigentlich nur Dream Theater präsentieren konnten. Das fing beim elegischen Gilmour-inspirierten Gitarrenintro an, endete irgendwann in einem Mix aus perfekter Instrumentbeherrschung und Orchester, und brachte zwischendurch auch mal ein "Scenes From A Memory" Zitat, nämlich eines aus "The Dance Of Eternity". Insgesamt war dieser lange Titeltrack zwar facettenreich, doch es überwogen deutlich die balladesken Aspekte. Das passte LaBrie natürlich gut, war er doch eher für die ruhigen Töne geeignet. Es war fast schon so, als wollten Dream Theater ihren perfekten Song schaffen und keine Risiken eingehen. Das war ihnen am Ende hervorragend gelungen, aber ob es perfekt war, sollte man nicht zu diskutieren brauchen. "Octavarium" war ein absoluter Ueber-Song, der einem am Ende sprachlos hinterliess. Und noch eines fiel auf: Wenn der Titelsong zu Ende ging, hatte man nicht den Eindruck, einem 24 Minuten langen Stück gelauscht zu haben. Ein ganz besonderes Hörerlebnis. Für Dream Theater Fans war dieses Werk ohnehin Pflicht. Zu schön um wahr zu sein: weder Fans der ersten Stunde, noch "Train Of Thought"-Neulinge wurden hier enttäuscht. Doch "Octavarium" war letztlich kein zweites "Images And Words" oder gar ein "Awake". "Octavarium" war schlicht "Octavarium" und reihte sich mit seiner Eigenständigkeit, seiner Modernität und den musikalischen Innovationen perfekt in die Reihe ihrer Meisterwerke ein.


Mar 30, 2017

CABARET VOLTAIRE - Red Mecca (Rough Trade Records ROUGH27, 1981)

Cabaret Voltaire war eine Industrial- und Techno-Band aus Sheffield, benannt nach dem Zürcher Cabaret Voltaire, der geistigen Wiege der Dada-Bewegung, und dies noch lange Zeit, bevor überhaupt Jemand erstmals von Technomusik gesprochen hatte. Cabaret Voltaire wurde 1973 in Sheffield von Stephen Mallinder, Richard H. Kirk und Chris Watson gegründet und war in erster Linie ein Projekt, um experimentelle Sounds zu erzeugen, weniger um Songs zu schreiben. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt traf die Band noch auf ein feindlich gesinntes Publikum, welches ihre elektronischen Klänge ablehnte und Rock'n'Roll erwartet hatte. Die Musiker wurden bei diesem Konzert durch Besucher attackiert und Stephen Mallinder zog sich den Bruch eines Wirbelknochens zu. Die Akzeptanz beim Publikum besserte sich erst mit dem Auftauchen des Punk in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Nachdem sie 1978 ihren ersten Plattenvertrag bei Rough Trade Records erhalten hatten, konnten die Bandmitglieder aufgrund der Verkaufserfolge ihrer ersten LPs Mix-up, beinhaltend einee Coverversion des Seeds-Klassikers "No Escape" und "The Voice of America" sowie der Singles "Extended Play", einer 7"-EP inklusive des Underground-Hits "Do the Mussolini (Headkick)" und "Nag Nag Nag" ihre bürgerlichen Berufe aufgeben.


Cabaret Voltaire galten letztlich als einer der allerersten Vorboten des synthetischen Beats, auch Wegbereiter des späteren Technosounds wurden sie schon genannt, weil sie bereits 1974, als sie sich formierten, Gitarren, Bässe und Schlagzeuge durch Synthesizer und Rhythmuscomputer ersetzten, um damit surrealistische Ton-Collagen und obskure Klangwelten zu erschaffen, die irgendwo zwischen Pop, Punk und Elektronik angesiedelt waren. Getreu dem für die Band verwendeten Namen Cabaret Voltaire verstanden sich die drei Musiker anfänglich ebenfalls als eine Art wandernde Elektronikbühne als Ausdruck einer Anti-Kultur, quasi einer alternativen Musik-Kunstform. Ihr erster öffentlicher Auftritt vor zahlendem Publikum endete im Mai 1975 allerdings in einem Desaster. Das Gastspiel musste unter einem Hagel von Bierdosen und Plastikbechern abgebrochen werden. Ebenso wie das erste Londoner Gastspiel im Vorprogramm der Buzzcocks. Allerdings arbeiteten die drei Musiker von Beginn weg auch mit Video-, Film- und Dia-Projektionen und untermalte die dabei gezeigten expressiven Bilder und Visionen mit schwer verdaulichen Rhythmusorgien, exzessiven Improvisationen und einem monotonen, eindringlichen Sprechgesang. Diese provokative, suggestive Avantgarde erzeugte beim erstaunten Publikum immer wieder Irritation und Verwirrung. Einerseits wurden die verfremdeten, verzerrten Klänge als immens stark, intensiv und gehörfreundlich empfunden, andererseits unterstellte man den drei Performance-Künstlern, dass sie kein Gefühl und keinen Instinkt für ihre eigene Musik gehabt hätten.

Bei aller Innovation und dem Aufbruch in eine neue Zeit hatten Cabaret Voltaire stets den vergangenen Sound im Fokus, und der Einfluss dieser Musik aus vergangenen Tagen war grösser, als man das vielleicht hätte vermuten können, wenn man sich ihre Klangnovitäten anhörte. Ihre teils abstrakten Coverversionen von Songs der Seeds oder von Velvet Underground untermauerten nicht nur deren Wichtigkeit für die Entwicklung der Rockmusik, sondern ebneten auch Bands wie Cabaret Voltaire neue Wege. Elektronische, teils verstörend verfremdete Beatsongs aus den 60er Jahren waren ein probates Mittel, Klassiker der Rockmusik in die Neuzeit zu retten. Dagegen wirken heutige Coverversionen alter Rocksongs geradezu todlangweilig. Mangelnde Phantasie oder fehlender Pioniergeist konnte man der Gruppe Cabaret Voltaire keinesfalls unterstellen. Ihre dahingehende Schock-Taktik pflegte die Band sehr und machte sie zu einem ihrer wichtigsten Markenzeichen. Was wir beim heutigen Amnhören als durchaus interessant und irgendwie vertraut empfinden, wirkte damals ziemlich radikal, auch wenn sich die rein elektronische Musik längst etabliert hatte. Was Cabaret Voltaire letztlich auszeichnete, respektive sie von rein elektronischen Künstlern unterschied war die Tatsache, dass bei den drei Musikern immer eine relative Kälte im Sound dominierte, eine Unnahbarkeit, die verstörend wirkte, und die teilweise deshalb auch als oberflächlich und nichtssagend wahrgenommen wurde.

Metallische, maschinelle Schärfe, dumpfe Atonalität und kalte Ästhetik gehörten während der gesamten Schaffenszeit der Gruppe zu ihren Hauptingredienzien. Die zeitweilig geradezu archaisch simplen Songgebilde, basierend auf zumeist recht ausgefallener Elektronik, vermochte die Band mit ihrem technischen Industriesound auf der Bühne jedoch nicht zu reproduzieren. Dafür dehnte sie ihre gleichförmigen Rhythmusgrundlagen episch aus, um mit einfachsten Stilmitteln eine grösstmögliche Wirkung zu erzielen, um letztlich grossangelegte Stimmungsbilder zu schaffen. Insgesamt blieben Cabaret Voltaire in letzter Instanz wohl eher ein Künstler-Trio, das den intellektuellen Zuhörer bediente, die breite Masse konnte ihren teils drastischen Vorstellungen von Musik einfach nicht folgen. So blieben die drei Musiker auch eigentlich während ihres gesamten Schaffens eher ein ewiger Geheimtipp, denn ihre Musik wurde später in der Entwicklung der Dance- und Elektronikmusik immer wieder erwähnt. Sowohl Klaus Schulze, wie Eno, Robert Fripp, die ganzen deutschen Keyboardmusiker aus der Krautrock- und Elektronikszene, aber auch die sich langsam entwickelnde Techno-Szene zitierte öfters die Band Cabaret Voltaire als Inspirationsquelle für ihre eigene Musik.


"Red Mecca" war das dritte Studioalbum von Cabaret Voltaire, veröffentlicht im September 1981, erneut bei dem Independent Label Rough Trade Records. Im November 1979 waren Cabaret Voltaire durch die USA getourt und erhielten dort sehr gute Reputationen, auch, weil die Band vom Umstand profitieren konnte, dass sich christliche Vereine inzwischen im Fernsehen breitgemacht hatten, und einer dieser "Fund Raiser" der Kirche war der sehr populäre TV-Evangelist Eugene Scott, welcher der Band einige Auftritte im amerikaweit ausgestrahlten Fernsehen organisierte. Cabaret Voltaire reagierten darauf, indem sie 1980 das Mini-Album "Three Mantras" veröffentlichten, auf welchem sdie Musiker den aufkommenden Islam in der westlichen Gesellschaft thematisierten und kritisch hinterfragten, was ihnen fundamentalistische Kirchenvertreter in den USA mit entsprechendem Airplay dankten. "Red Mecca" war dann die Kulminierung dieses neuen Interesses an der islamischen Religion und Kultur. Richard H. Kirk äusserte sich dazu wie folgt: "The whole Afghanistan situation was kicking off, Iran had the American hostages. We were taking notice. It's not called by coincidence. We weren't referencing the fucking Mecca Ballroom in Nottingham!". Das Album "Red Mecca" wurde im Western Works Studio in Sheffield England im Mai 1981 aufgenommen.

Mit dem Album "Red Mecca" ernteten Cabaret Voltaire nach vielen entbehrungsreichen Jahren endlich die erhoffte Reputation. Bei diesem Album waren sie auch künstlerisch auf einem Niveau eingependelt, das es auch dem 'gewöhnlichen' Publikum ermöglichte, den Zugang zu dieser aussergewöhnlichen Band zu finden. Sicherlich hatte die New Wave mit ihren ebenfalls teilweise stark elektronisch geprägten Sounds der Band letztlich geholfen, auch wenn ihre Stücke nachwievor nicht den gängigen musikalischen Trends folgten. Der New Musical Express in England bezeichnete die Musik auf dem Album "Red Mecca" mangels passender Schublade hochtrabend "technische Trance Musik" und wusstre gar nicht, wie richtig sie mit dieser stilistischen Einschätzung lag. Was das Magazin wohl nicht absehen konnte war, dass sich diese Musik in den folgenden Jahren immer weiter verfeinern und entwickeln würde, bis zum typischen Dancesound der 90er Jahre, dem Trance, dem Goa-Stil und ganz allgemein der Technomusik, wie man sie schliesslich weltweit in den Clubs und Hallen hören konnte.

Nach dem guten Erfolg der Platte "Red Mecca" entschied sich die Band dazu, erstmalig auch organische Instrumente zum Einsatz zu bringen. Auf der 1982 veröffentlichten EP "2 x 45" präsentierte sie vier um die 8 Minuten lange Stücke auf zwei 12" Maxi-Singles mit 45 Umdrehungen und reicherten die vier Titel zum gewohnten Elektronik-Aufbau mit Klarinette und Saxophon an. 1982 erwies sich für Cabaret Voltaire als ein ereignisreiches Jahr. Zunächst gab sie unter dem Pseudonym The Pressure Company im Januar ein Benefiz-Konzert in Sheffield zugunsten der polnischen Gewerkschaft Solidarität, spielte für eine Live-Platte zwei Konzerte in Japan und schrieb unter dem Einfluss eines New York Aufenthalts einige ihrer bekanntesten Songs, wie zum Beispiel "Yashar" um. In New York entstand denn auch das Album "The Crackdown", produziert von Johnny Luoango, der auch Werke von Blancmange und Level 42 produziert hatte. Gast bei diesen Aufnahmen, die diesmal auf Funk, Soul und ethnischer Musik basierten, war der Soft Cell Keyboarder David Ball. Cabaret Voltaire orientierten sich mit diesem Projekt an moderner Disco- und Tanzmusik und erschlossen sich damit noch einmal einen grösseren Interessentenkreis.

Nach erfolgreichen Tourneen durch Europa, Amerika und Japan entschied sich Chris Watson im Jahre 1983, aus der Band auszuscheiden; gleichzeitig veränderte sich die Musik von Cabaret Voltaire noch stärker in eine wesentlich kommerziellere Richtung. Das Album "The Crackdown", erschienen bei Virgin Records, verstärkte bei der Band dieses Vorhaben logischerweise, denn die Platte erreichte in Grossbritannien die bisher höchste Chartplatzierung, nämlich Platz 31. 1994 lösten sich Cabaret Voltaire zunächst auf. Nachdem Kirk das Projekt ohne seine beiden ursprünglichen Mitstreiter wiederbelebte, erschienen 2009 und 2010 Kollaborationen mit Kora sowie The Tivoli. Eine Reunion in der ursprünglichen Originalbesetzung schloss Kirk jedoch noch 2011 ausdrücklich aus.


Mar 29, 2017

ROINE STOLT - Wall Street Voodoo (Inside Out Music IOMCD 233, 2005)

Roine Stolt hatte sich nach langen Jahren als hauptverantwortlicher Gitarrist und Komponist bei der schwedischen Progressive Rockband The Flower Kings anlässlich seines bis dato fünften Soloalbums für einmal ziemlich weit abseits der bereits ausgetretenen progressiv-musikalischen Pfade gewagt und sich an seinen ganz persönlichen und für ihn wichtigen Musikgrössen und Idolen seiner Jugendzeit orientiert, um ihnen gebührend Tribut zu zollen. Dies selbstverständlich nur mit musikalischen Zitaten und Anlehnungen, aber ausschliesslich mit eigenen Kompositionen. Wenn man das musikalische Ergebnis anhört, merkt man sehr schnell, welche Einflüsse für Roine Stolt offenbar am wichtigsten und nachhaltigsten waren: Es gibt immer wieder Verneigungen gitarristischer Art etwa vor Jimi Hendrix, aber auch vor Eric Clapton, Peter Green, Robin Trower und am prägnantesten vielleicht Duane Allman. Heraus kam dabei natürlich kein typisches Flower Kings Album, sondern ein sehr clever aufgemachtes, leicht Bluesrock-lastiges Album inklusive tollem Gesamtkonzept. Natürlich schimmern wimmer wieder typische progressive Elemente seiner Stammband durch, doch erinnert das als Ganzes angehört dann doch eher an ein recht frei interpretiertes Jam Rock Album, das in der Tat am nähesten an die Allman Brothers heranreicht, jedoch in letzter Konsequenz dann doch noch etwas mehr an Frickeligkeiten bietet, wenn auch in recht bescheidenem Ausmass. Immerhin erliegt Roine Stolt hier nicht der Misere, mehrere unterschiedliche Gitarren-Stile nebeneinanderher zu spielen, sondern versteht es ausgezeichnet, die unterschiedlichen Spielweisen der genannten Gitarristen geschickt miteinander zu kombinieren, zu verweben, zu einem neuen solistischen Stil zu verarbeiten, der manchmal von allem ein bisschen präsentiert: Ein Tupfer Allman über einem Clapton-Lauf beispielsweise, oder ein typisch Hendrix'sches Solo mit bluesig gefärbten, an Peter Green erinnernden Motiven.

Man mag sich vielleicht zu allererst einmal fragen, für was für eine Klientel Roine Stolt dieses Album eingespielt hatte. Ich denke, er hat dieses Werk zuerst einmal ganz für sich gemacht. Dann aber natürlich auch, um seine Roots auszuleben, und dies auch noch ganz in seiner eigenen Art als Konzeptwerk. Die Thematik des Albums ist der Werteverfall der Menschheit, das Geld, das alles regiert und zusammenhält, bis es zum grossen Knall kommt und die offensichtliche Unfähigkeit der Erdenbewohner, die vorhandenen und knapper werdenden Ressourcen zu bewahren und sorgsam und bedacht mit ihnen umzugehen. Ein schönes Thema, das wiederum Assoziationen zum progressiven Konzeptrock der Flower Kings weckte. Also eigentlich bewegte sich Roine Stolt gar nicht mal so weit weg von der Art, Musik zu machen, die man schon seit jeher von ihm kannte. Musikalisch allerdings war das nicht Flower Kings-mässig, was er da ablieferte. Der Blues in seiner rockigen Spielart drang hier aus jeder Pore. Es wurde vom ersten Moment an gegroovt. Die Musik erhielt enorm viel Raum zum Atmen. Die Songs waren in den seltensten Fällen nach vier Minuten beendet. Statt dessen durfte die Band, zu der Marcus Lillequist am Schlagzeug, Victor Woof am Bass sowie bei einzelnen Liedern noch Neal Morse Gesang und Gonzo Geffen an den Keyboards gehörten, ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen. Und das taten sie zur Freude des Hörers musikalisch absolut überzeugend. Lillequist liess sein Schlagzeug mal fein shuffeln und dann wieder straight grooven, er hielt die Band bei allen Expeditionen immer tight zusammen und gab immer einen wunderbaren Bluesrock-Grundrhythmus vor.

"Wall Street Voodoo" konnte nicht nur durch ein geschicktes Namedropping überzeugen. Die sechzehn erstklassigen Bluesrock-Kompositionen gingen rasch ins Ohr und boten über knapp zwei Stunden Spielzeit hinweg kurzweilige Unterhaltung. Einmal gab sich Roine Stolt betont funky,  wie etwa im Titel "Everybody Is Trying To Sell You Something", mal ergaben sich progressivere Frickel-Passagen wie im abschliessenden "People That Have The Power To Shape The Future". Die teils auffallend langen Songtitel wurden durch ein gemeinsames Grundthema zusammengehalten und erzählten von den Dingen, die in unserer modernen Welt am wichtigsten scheinen: Viel Geld zu verdienen, schnelle Autos zu fahren und der Dekadenz zu verfallen. Genau der richtige Stoff also für alle Zivilisationskritiker unserer Zeit. Einen richtigen Hit, der sich so schnell nicht mehr aus den Gehörgängen vertreiben liess, konnte Roine Stolt auf "Wall Street Voodoo" zwar nicht präsentieren, dafür bewegten sich die Titel des Doppelalbums aber auf einem konstant hohen Niveau, das glücklicherweise keinen Raum für unterklassigen Füllstoff bot. Interessant und absolut hörenswert waren auch die teils sehr gschmeidigen und rhythmisch anmachenden Basslinien, gespielt von Vistor Woof. Er überraschte immer wieder mit einem leicht singenden Ton und verstand sein Instrument nicht nur als reines Rhythmusinstrument wie bei üblichen Rockbands meist hörbar, sondern spielte häufig eigene Linien, die den Songs eine zusätzliche melodiöse Ebene geben, die zum mehrfachen Hören verleitete. Der Spass bei den Aufnahmesessions war auf jeden Fall deutlich hörbar. Akzentuiert wurde das alles durch den Einsatz von Hammond Orgel, Stage Piano und Moog. Dies gab dem Album einen sehr authentischen, vibrierenden und erdigen Blues-Sound, der jenem der frühen Allman Brothers ziemlich oft recht nahe kam.

Das Highlight des Albums war jedoch das zu fast jederzeit extrem gefühlvolle Gitarrenspiel von Roine Stolt. Soviel Blues hätte man dem progressiven Rockmusiker gar nicht zugetraut, wenn man nur seine bisherigen Alben mit den Flower Kings und Transatlantic, sowie seine vier Soloalben davor betrachtet hatte. Aber ja, dass er den Blues hat, konnte er hier eindrücklich unter Beweis stellen. Seiner Gitarre hatte er zudem einen erstklassigen Sound verpasst, der ideal zum Bluesrock passte. Und er nahm sich viel Zeit, seine Melodielinien zur Entfaltung zu bringen. Zudem liess er die verwendeten Fender, Les Paul, Rickenbacker und diversen anderen Gitarren herrlich und beseelt singen, kreischen und rocken. Dazu brauchte man sich nur den Opener "The Observer" oder das mit einer wundervollen Slide Gitarre gespielte "Dirt" anhören. In manchen Passagen von "Dog With A Million Bones" hörte man sogar leichte Zitate von Frank Zappa's abstrakten Spielmustern heraus. Eine solche hörbare Bandbreite an musikalischen Einflüssen fand man selten auf einem mehr oder weniger schlüssigen Bluesalbum. Eine weitere positive Überraschung stellten die anspruchsvollen Songtexte dar. Hörte man sonst häufig auf Bluesalben immer wieder dieselben Geschichten rund um die Themen Liebe, Verlust und Tod, so waren die Texte von "Wall Street Voodoo" es definitiv wert, das beigelegte Booklet herauszuholen und sich damit auseinander zu setzen. "The Observer" behandelte beispielsweise sehr eindringlich die Ungerechtigkeit, die in der Welt herrscht, während sich die Zeilen zu "Head Above Water" um Konsumwahn und schnellen Genuss drehten. Auch die Pop-Stars mit ihrem Anhang an Betreuern, Speichelleckern und Nutzniessern blieben nicht unbehandelt, nachzuhören in "Dog With A Million Bones".

Den Gesang auf dem Album teilten sich Roine Stolt und Neal Morse. Die beiden kannten sich ja aus gemeinsamen Transatlantic-Tagen und Stolt hatte auch auf Solowerken von Neal Morse auch einige Gitarrenpassagen gespielt. Zu Neal Morse's Stimme muss man eigentlich nicht viel sagen. Sie ist eine der ausdrucksstärksten im Bereich der heutigen Rockmusik. Alles in allem war "Wall Street Voodoo" ein sehr gelungenes Solo-Projekt, mit sehr gefühlvoller und ausdrucksstarker Musik, herrlich umgesetzt von exzellenten Musikern. Fans von Kenny Wayne Shepherd, Johnny Lang und dem bluesigen Gary Moore sollten auf jeden Fall mal in dieses Album hineinhören. Sie könnten mehr als nur angenehm überrascht werden. Roine Stolt hatte es mit diesem Album geschafft, sich zwischen alle stilistischen Stühle zu setzen. Und das war gut so, weil es die eigenen, bequemen, eingefahrenen Hörgewohnheiten in Frage stellte und dadurch Missverständnisse geradezu herausforderte. Denn weder bediente es die gängigen Bombast- und Progressive Rock-Klischees, noch war es ein typisches Retro-Bluesalbum. Es war irendwie etwas ganz Neues, Originelles, ein postmodernes Rock-Kaleidoskop, dessen Elemente sich ständig veränderten, das vibrierte und changierte, durch die Gitarre aber gleichsam geerdet wurde. Sicher, die Musik nahm ihren Ausgangspunkt bei den Heroen der späten 60er Jahre, versuchte aber nicht, diesen spezifischen Sound authentisch wiederzubeleben, was eher langweilig und beliebig gewesen sien dürfte, sondern ging schnell eigene Wege. "Wall Street Voodoo" war durchaus sperrig und gewöhnungsbedürftig und hinterliess vielleicht deshalb bei vielen Hörern zunächst eine gewisse Ratlosigkeit. Roine Stolt's notorischen Verächter sahen sich bestätigt und betrachteten das Werk eher kritisch bis ablehnend; aber auch seine Fans mussten erst lernen, mit dieser geballten Ladung von angeschrägtem Psycho-Blues umzugehen.

Diese Musik hatte darum letztlich wohl keine bestimmte Zielgruppe, sondern stand ganz für sich selbst da, sie wollte erobert werden, machte dem Hörer das Kompliment, dass sie ihm nichts konzedierte, keine Erwartungen bediente, nur ihrer eigenen Dynamik, ihrer eigenen inneren Logik gehorchte. Man musste im Grunde ganz neu hören lernen, um dieses Album richtig zu hören. Grob umschrieben hätte man es vielleicht so ausdrücken müssen: Bluesige Gitarren-Jams aller Schattierungen und Spielarten, eingebettet in kantig-zerklüftete, psychedelische, leicht angeproggte Songstrukturen. Nichts für den musikalischen Quickie zwischendurch, kein lauer New Artrock, kein süffiger Balsam für die stressgeplagte Seele, sondern Musik, die fordert, die an- und aufregt, die gängige Klischees durchbricht, und die man wohl entweder nur lieben oder hassen kann. Wer nicht die "schnelle Nummer" suchte, die musikalische Beschleunigung von Null auf Hundert in 2 Sekunden, sondern wer die Zeit und den Willen mitbrachte, sich dem Flow dieses Albums zu überlassen, wurde am Ende jedoch reich belohnt. So vieles, was heutzutage gerade auch im Bereich progressiver Musik gelobt und gepriesen wird, ist im Grunde nichts weiter als gepflegter musikalischer Rasen, ein netter Töne-Garten, in welchem es sich angenehm leben lässt. Roine Stolt's Musik ist dagegen musikalisches Urgestein, Wildwuchs, Urwald und Abenteuer.



Mar 28, 2017


THE BOYZZ - Too Wild To Tame (Epic Records JE 35440, 1978)

Tja, dieses Plattencover war damals für mich natürlich eine Steilvorlage: Sowas kann man schlicht nicht im Plattenregal im Laden einfach liegen lassen. Kaum draufgeschaut, war gleich die Assoziation mit Paul Newman da. Klar, und auch ein James Dean ging mir durch den Kopf. Und eigentlich erst zuletzt auch noch die begleitende Frage: Was wird hier gespielt ? Als hätte man es sich nicht denken können: Bikerrock. Bikerrock ? Bikerrock. Aha, okay, das musste ich mir damals aber erst einmal irgendwie vorstellen, denn 1978 war ich inmittten einer Punk-Euphorie gefangen. Das hat mich allerdings nie davon abhalten lassen, stets nach neuen Sounds Ausschau zu halten, und ich bin heute noch froh, dass mein damaliger Plattenhändler des Vertrauens eigentlich immer sehr genau wusste, was mich interessieren könnte. Jedenfalls legte er mir diese Platte sehr ans Herz, die ich zugegebenermassen auch bloss des Covers wegen gekauft hätte. Das erstemal angehört, wusste ich sofort: Ja, das packt mich. Das packt mich fast genauso wie die erste AC/DC-Platte etwas mehr als zwei Jahre zuvor. Man muss wissen, dass es zwischen Mitte und Ende der 70er Jahre nicht gerade leicht war, an gute Rock-Platten heranzukommen. Die Gazetten waren kommerziell ausgerichtet, Punk und die bald einsetzende New Wave dominierten die musikalische Berichterstattung. Da war auch der amerikanische Rock, zumindest wenn er aufgebläht genug war, und es erstaunt nicht, dass vor allem die grossen Poprock-Namen viel Gutes schlicht unter den Teppich kehrten. Vor lauter Meat Loaf ("Bat Out Of Hell"), Fleetwood Mac ("Rumours") und Eagles ("Hotel California") liefen selbst allerfeinste Rock-Acts lediglich unter ferner liefen.

The Boyzz, diese rockenden Spassmacher, boten einen kernigen, sehr erdigen und bodenständigen Hardrock, der wenig bluesgetränkt, dafür umso mehr Southern Rock-inspiriert war. Gegründet im Jahre 1977 in Chicago, gereichte es der Truppe schon nach dem ersten Demo-Tape, einen Plattenvertrag mit Epic Records, dem Unterlabel von Columbia Records, zu ergattern. Noch im selber Jahr erschien ihr erstes Album "Too Wild To Tame", das jedoch wider Erwartens kein Hit wurde. Die Platte wurde im Gegenteil sogar fast kaum verkauft. Jedenfalls hätte das musikalische Konzept, die geniale Verpackung und vor allem das gebotene Songmaterial unbedingt punkten müssen. Die Arrangements all ihrer Songs waren sehr opulent ausgefallen. Ein bisschen konnte man durchaus den Pomp etwa von Meat Loaf heraushören. Pomp Rock gab es damals tatsächlich auch als Musikstil, dem die Boyzz allerdings nicht angehörten. Pomp Rock, das war beispielsweise die Musik, welche Bands wie Aviary, Styx, Kansas oder ansatzweise auch Queen gespielt hatten.

Den typischen Mid 70's Biker Bands haftete indes immer ein bisschen das Stigma der Schmuddligkeit an, Bikerrock galt auch nicht unbedingt als "really fashionable". Auch deswegen passt letztlich auch der Begriff Biker Rock nicht zu The Boyzz, auch wenn das Plattencover dies vielleicht schon zu auffällig proklamieren mochte. Letztlich war die Plattenhülle einfach extrem gut passend zum gebotenen Rock der Gruppe, die mit "Dirty" Dan Buck's powervollem und kratzbürstigen Gesang, den schwerblütigen Keyboard-Sounds von Anatole Halinkovich, Mike Tafoya's und Gil Pini's mächtigen und erdigen Gitarrenriffs und der grundsoliden und knochentrocken rockenden und konsequent vorwärtstreibenden Rhythmussektion, bestehend aus dem Bassisten Dave Angel und dem Schlagzeuger Kent Cooper jederzeit absolut überzeugen konnte. Schweinerock war das, und zwar nicht nur so gespielt und wie meistens in solchen Fällen eher von begrenzten Songschreiber-Qualitäten zeugend, sonder ndurchaus klasse geschrieben und umgesetzt.

The Boyzz waren vor allem auch eine hervorragende Live-Band, die mit ihrem mächtigen Party-Rock so manche Location zum Beben brachte. Viele Fans der Gruppe bescherten ihr das Prädikat "Best Hard Core Biker Rock & Roll Band". Es finden sich auf dem Album "Too Wild To Tame" etliche musikalische Glanzlichter, so etwa das sich über 7 Minuten erstreckende "Destined To Die", das wie ein Amalgam aus einem Nazareth-Riff ("This Flight Tonight"), einer erdigen Bluesrock-Thematik (im Stil von Foghat) und einer solistischen Meisterleistung sowohl der Keyboards, als auch der Leadgitarre wirkt. Der Titel erinnert an Lynyrd Skynyrd's härteste Momente ebenso wie an etliche Foghat-Titel der Mid 70er Phase. "Wake It Up Shake It Up" ist ein bärenstarker Hard Rock'n'Roll Titel, der nahe an Cheap Trick und UFO angesiedelt ist und durch Dan Buck's tollem bellenden Gesang durchaus auch an die Live-Momente einer J. Geils Band erinnert. Im Titel "Back To Kansas" oder dem ebenfalls kernigen Titelstück "Too Wild To Tame" kann man auch die Gruppe Black Oak Arkansas heraushören. Auch sie waren keine typische Southern Rock Band, sondern kombinierten eigentlich Elemente des klassischen amerikanischen Hard Rocks mit Elementen des Südstaatenrocks.

Leider wurde das bereits komplett eingespielte zweite Album der Gruppe mit dem Arbeitstitel "Midwest Kids" 1979 nicht mehr veröffentlicht, weil die Gruppe von ihrem Debutalbum einfach zu wenige Stückzahlen hat absetzen können, dass Epic Records an einer Weiterführung des Vertrags noch interessiert gewesen wäre. Das ist jammerschade, denn ihre Musik war live sehr begehrt, und so tourten The Boyzz beispielsweise mit Aerosmith, der J. Geils Band, Meat Loaf, UFO, Cheap Trick, Rush, Judas Priest und REO Speedwagon quer durch die Staaten. 1980 trennte sich die Band schliesslich, da keine Hoffnung mehr bestand, bei einer anderen Plattenfirma unterzukommen. Mike Tafoya, Anotole Halinkovitch, der sich ab nun Tony Hall nannte und David Angel gründeten später die Gruppe The B'zz, welche ein Album mitt dem Titel "Get Up" veröffentlichte und bekannt wurde, weil sie die erste Gruppe ohne Plattenvertrag war, die den Song Contest "American Bandstand" bestreiten konnte. Tafoya wechselte danach zu den Raw Dogs und rief schliesslich im Jahre 2002 eine letzte Inkarnation der Boyzz ins Leben unter dem Namen The Lost Boyzz.

Dirty Dan Buck formierte die Band Dirt's Raiders und veröffentlichte unter diesem Namen im Jahre 1982 ein Album auf dem Atlantic Label. Seine nächsten musikalischen Stationen waren The Original Sinners und Dan Buck's Small Change, mit denen er jeweils Platten auf Down & Dirty Records veröffentlichte, einem privaten Plattenlabel, das Dan Buck selbst ins Leben rief. Danach sang er bei den Cool Rockin' Daddies, einer typischen Roadhouse-Style Band, die sich aus Vätern und Grossvätern des Musikbusiness zusammensetzte. Dave Angel wiederum wechselte ins Musikbusiness und wurde Chef des Labels Rave Song Records und dem dazugehörigen Tonstudio. Das Album "Too Wild To Tame" würde ich jedem Fan der Gruppen The Four Horsemen, Raging Slab, Little Caesar, American Dog oder Nashville Pussy wärmstens empfehlen.


 
 

Mar 27, 2017

THE GUESS WHO - American Woman (RCA Victor Records LSP-4266, 1970)

Vom 12. August bis 16. November 1969 spielte die kanadische Rockband The Guess Who ihr bereits siebtes Album "American Woman" im Studio B des RCA Mid America Recording Center in Chicago Illinois ein. Nachdem es im Januar 1970 veröffentlicht wurde, erreichte der Titelsong als erster Rocksong einer kanadischen Band die Spitze der amerikanischen Billboard Charts. Der Song "American Woman" geriet auch weltweit zu grossem Erfolg, war in zahlreichen Ländern auf den Spitzenpositionen der Hitparaden zu finden. Das Album blieb über ein Jahr lang in den Top 100 der Billboard Hitliste und war der grösste Erfolg der Gruppe The Guess Who. Diesen grossen Triumph konnten sie später nie wieder erreichen. "American Woman" war nach "Wheatfiled Soul" aus dem Jahre 1968 das zweite Topseller-Album der Band, mit dem der erfolgreichen kanadischen Gruppe der endgültige Durchbruch in den USA gelang. Burton Cummings, Randy Bachman (Gitarre), Jim Kale (Bass) und Garry Petersen (Schlagzeug) bewiesen, dass sie sich in keine spezielle Kategorie in der Chronik der populären amerikanischen Musik einordnen liessen. Während der sechsminütige "Humpty's Blues/American Woman (Epilogue)" inklusive Mundharmonikaspiel geradezu ein Lehrbeispiel für das Bluesschema darstellte, boten die anderen Songs Elemente aus so unterschiedlichsten Musikrichtungen wie dem Jazzrock mit Querflöte, zu hören auf "969 - The Oldest Man", ausserdem Electric Folk in "When Friends Fall Out" und als weiterer stilistischer Kontrast das sanfte, von einer akustischen Gitarre und dem Klavier begleitete "Talisman". So wies das Repertoire insgesamt instrumentale und gesangliche Bestandteile auf, die an Gruppen wie Led Zeppelin, Jefferson Airplane, The Byrds, Crosby Stills Nash & Young oder auch die britischen The Who, an die sich der Gruppenname anlehnt, erinnern liessen.

Das erfolgreiche Stück "American Woman" begann mit einem 75 Sekunden langen Intro, bei dem der Sprechgesang von Burton Cummings lediglich von Randy Bachman's Akustikgitarre begleitet wurde. Obwohl dieser kurze einleitende Blues-Shuffle Bestandteil aller späteren Veröffentlichungen des Songs war, wurde und wird es im Radio nur selten gespielt. Die kanadische Band sollte ironischerweise ausgerechnet mit dieser musikalischen Warnung vor US-amerikanischer Dominanz ein Welthit gelingen, der ihnen schliesslich ein Denkmal setzte. Auch die B-Seite der gleichnamigen Single mit dem Doppeltitel "No Sugar Tonight/Mother Nature" erklomm im selben Jahr die Spitzenposition der US-Charts, während der Gruppe mit "No Time" noch ein weiterer US Top Ten Hit gelang.

The Guess Who stammten aus dem kanadischen Winnipeg (Manitoba). Ursprünglich nannte such die bereits 1958 von Chad Allan in Winnipeg gegründete Gruppe Chad Allan & the Expressions. Mit dem rätselhaften Namen "Guess Who ?", zu deutsch "rate wer ?", versuchte die Plattenfirma 1965, überregionale Aufmerksamkeit zu erregen, was letztlich auch gelang. Mit der Zeit veränderte sich der Sound der Band in Richtung Hard Rock. 1969 hatten The Guess Who mit der Single "These Eyes" ihren ersten Top Ten Hit. 1970 folgten mit "No Time", einer Single, die bereits auf Rang 5 in den US-Charts kletterte, sowie dem weltweiten Hit "American Woman" zwei weitere Platten, die The Guess Who schliesslich weltweit bekannt machten. Zu dieser Zeit bestand die Band aus Burton Cummings (Gesang - er hatte 1965 Chad Allan ersetzt), Randy Bachman (Gitarre), Jim Kale (Bass) und Garry Petersen (Schlagzeug).

Interessant in der Biographie der Gruppe ist, dass mit dem siebten Album erst der weltweite Durchbruch kam, obschon die Band zuvor auf sechs guten bis hervorragenden Alben ihre musikalischen Qualitäten in ihrer Heimat Kanada längst unter Beweis gestellt hatte. Mit dem grossen Erfolg der Single "American Woman" stieg allerdings auch der kommerzielle Druck auf die Band. Anfänglich konnte das kein Problem darstellen, denn die Kreativität der Gruppe, insbesondere der beiden Songschreiber Burton Cummings und Randy Bachman liess keineswegs nach. Erst nach dem Ausscheiden des Gitaristen Randy Bachman, der in den frühen 70er Jahren mit seiner neuen Band Bachman Turner Overdrive weitere Erfolge feiern sollte, geriet die Karriere der Gruppe ins Stocken. Nach diversen Umbesetzungen, der Auflösung und späteren Wiedervereinigungen gab es die Gruppe The Guess Who allerdings immer wieder mal.

Das bis heute wohl bekannteste Stück der Band, "American Woman" entstand aus einer Live Jam, während eines Konzerts im südlichen Ontario (Mississauga), als die Band im Club "The Broom And Stone" auftraten. Das prägnante Riff des Stücks "American Woman" entstand mehr zufällig, als dem Gitarristen Randy Bachman eine Saite seiner Gitarre gerissen war und er die Ersatz-Saite aufgezogen hatte. Dieses später weltweit bekannte Gitarrenriff spielte er, um die neue Saite zu justieren. Aus diesem Riff heraus entstand dann gleich der improvisierte nachfolgende Bluesrock-Song, der später, komplett auskomponiert, in dem Stück "American Woman" resultierte. Der Songtext entstand genauso spontan. Burton Cummings improvisierte die Textzeilen, während Bachman aus diesem Grundriff heraus die Melodie des nachfolgenden Bluesrock-Songs spielte. Später wurde auch der Songtext noch zu siener endgültigen Fassung ausgearbeitet. Um diesen live improvisierten Song nicht zu verlieren, fragte der Gitarrist Randy Bachman einen im Club anwesenden Teenager um eine Tonband-Cassette: Der Jugendliche hatte das Stück mit seinem Cassettenrecorder aufgezeichnet. Diese Cassette verwendeten The Guess Who später im Tonstudio als Vorlage, als sie den Song für ihr nächstes Album einspielte. Dabei veränderten sie den Song nur geringfügig.

In einem Interview mit Randy Bachman erklärte dieser später einmal, "American Woman" wäre ein Anti Kriegs-Protestsong gewesen, wohl auch, weil er den Song an Konzerten während der ganzen Vietnam-Diskussion damals als solchen angekündigt hatte. Dazu sagte er: "We had been touring the States. This was the late '60s, one time at the US/Canada border in North Dakota they tried to draft us and send us to Vietnam. We were back in Canada, playing in the safety of Canada where the dance is full of draft dodgers who've all left the States". Dem gegenüber sagte Burton Cummings, der den Songtext zu dem Song schrieb, der Text hätte nichts mit Krieg zu tun: "What was on my mind was that girls in the States seemed to get older quicker than our girls and that made them, well, dangerous". Cummings erwähnte in einem Interview im Jahre 2014 gegenüber einem Journalisten des Toronto Star: "When I said "American woman, stay away from me", I really meant "Canadian woman, I prefer you". It was all a happy accident".

Um trotzdem noch einen Bezug zur Anti-Kriegseinstellung zu herzustellen, sei jedoch erwähnt, dass kurz nach der Veröffentlichung der Platte eine Einladung von Pat Nixon kam, wonach die Gruppe eingeladen wurde, im Weissen Haus in Washington zu spielen, was die Band jedoch ablehnte, weil Pat Nixon darauf bestand, keinesfalls den Song "American Woman" zu spielen. The Guess Who zählen bis heute zu den erfolgreichsten kanadischen Rockbands und haben erstaunlicherweise bis heute nicht nur dank des Single-Erfolges von "American Woman" nachwievor eine grosse Fangemeinde. Wer sich einmal näher mit der Gruppe beschäftigen mag, wird selbst feststellen können, dass man diese hervorragende Band keinesfalls nur auf diesen Mega-Hit reduzieren darf. Die Gruppe hat zahlreiche hörenswerte und ausgezeichnete Alben veröffentlicht, und dies bis weit in die 70er Jahre hinein. Empfohlen seien hier vor allem die Werke "So Long Bannatyne", "Wheatfield Soul", "Canned Wheat", "Rockin'", "Share The Land" und vor allem das hervorragende Live-Dokument "Live At The Paramount" von 1972, wo die Band eine 17 Minuten lange Variante des Songs "American Woman" präsentierte.



 

Mar 24, 2017

REFUGEE - Refugee (Charisma Records CAS 1087, 1974)

Nach der Auflösung der Gruppe The Nice durch den Keyboarder Keith Emerson gründeten Lee Jackson und Brian Davison die Bands Jackson Heights und Brian Davison's Every Which Way, mit denen sie allerdings beide den Erfolg von The Nice nicht fortsetzen konnten. 1973 wurde Jackson auf den Schweizer Keyboarder Patrick Moraz aufmerksam, der zuvor in der Gruppe Mainhorse tätig gewesen war. Deren einziges Album erschien 1971 und galt damals als ein gut gehüteter Geheimtipp unter den keyboardlastigen Progressive Rockplatten. Patrick Moraz war Keith Emerson in spielerisch-technischer Hinsicht ein absolut ebenbürtiger Virtuose, wenn auch stilistisch dem Jazz noch ein wenig weiter zugeneigt als Emerson. Bei Moraz waren von Anfang an auch deutliche Einflüsse von Bill Evans, Jan Hammer und Maurice Ravel zu hören, bei Keith Emerson eher solche von Oscar Peterson und Alberto Ginastera. Lee Jackson sah in Patrick Moraz ein grosses künstlerisches Potenzial, weshalb sie gemeinsam begannen, Material für das nächste Jackson Heights Album zu schreiben. Schnell wurde jedoch klar, dass die neuen Kompositionen für Jackson's Band zu heavy waren, und sie traten an Brian Davison heran, der ihnen der Richtige für ein gänzlich neues Projekt zu sein schien. Gemeinsam mit ihm wollten sie das Konzept des Keyboard-Trios weiterführen, und an die besseren Tage von The Nice anknüpfen.

Die drei Musiker hätten bereits früher zusammenkommen können, denn Keith Emerson, der Moraz anlässlich eines Konzerts von The Nice in der Schweiz kennengelernt hatte, hatte diesen als Ersatz für sich selbst vorgeschlagen, nachdem er The Nice verlassen hatte. Doch Jackson und Davison waren nicht bereit gewesen, sofort weiterzumachen. Einen Vertrag bei Tony Stratton-Smith zu bekommen, war für alle Beteiligten überraschend einfach und sofort wurde in den Island Recording Studios die Arbeit an einem Album namens "Refugee" aufgenommen. Die Aufnahmen erwiesen sich nicht immer als leicht, denn zwischen den Aufnahmesessions spielte die Band bereits erste Konzerte; das erste davon im renommierten Londoner Roundhouse, am 2. Dezember 1973. Patrick Moraz, der wenig Studioerfahrung hatte, legte Keyboardtrack über Keyboardtrack, was es dem Produzenten John Burns äusserst schwer machte, das Album abzumischen. Zudem litt Davison an einem starken Alkoholproblem. Das Album erschien bei Stratton-Smith's Progressive Rocklabel Charisma Records. Die 1974 veröffentlichte LP blieb allerdings, dem herausragenden Material und dem Erfolg der Platte (sie war auf Platz 28 in die englischen "Melody Maker"-Charts eingestiegen) zum Trotz, ein einmaliges Projekt.

Refugee absolvierten eine erfolgreiche Konzerttournee und hatten sogar ein Angebot, mit Eric Clapton zu touren. Zudem war ein zweites Album bereits in Planung. Doch nach einem letzten Konzert am 13. August 1974 im Roundhouse verliess Moraz überraschend die Band. Der Grund war absolut nachvollziehbar: Er hatte Anfang des Monats die Nachfolge von Rick Wakeman bei Yes angeboten bekommen, ein Angebot, das er angesichts des Erfolges dieser Band nicht ausschlagen konnte. Moraz ist auf dem Yes-Studioalbum "Relayer", veröffentlicht am 5. Dezember 1974, zu hören. Auf der Tour zu diesem Album spielte er im Rahmen seines Keyboard-Solos noch einige Ausschnitte aus dem "Refugee"-Album (aus den Stücken "Papillon" und "Grand Canyon"). Einiges an Material, das eventuell auf einem zweiten Refugee-Album erschienen wäre, arbeitete er im nächsten Jahr für sein erstes Soloalbum "The Story Of I" um, weitere Stücke sind erst 2007 auf dem Refugee Livealbum erschienen. Jackson und Davison (Letzterer nach einem kurzen Gastspiel bei Gong, als Ersatz für Bill Bruford) beendeten bald darauf ihre Musikerkarrieren, bis Keith Emerson The Nice im Jahre 2002 für kurze Zeit wiederbelebte.

Seinen kommerziellen Durchbruch als Rockmusiker feierte Moraz danach als Keyboarder der britischen Progressive Rockband Yes, deren Keyboarder Rick Wakeman er im August 1974 zunächst nur widerwillig ersetzte. Er wollte Jackson und Davison, die soeben noch vor einem Neuanfang gestanden hatten, eigentlich nicht vor den Kopf stossen. Die Weiterentwicklung der damaligen elektronischen Tasteninstrumente und die finanzielle Situation einer internationalen Top-Band ermöglichten ihm jedoch ganz neue Spielweisen, die Moraz auf dem Album "Relayer" auf einzigartige Weise einbrachte. Nach Abschluss der Arbeiten ging die Band auf Tour (Relayer-Tour, 8. November 1974 bis 23. August 1975, 89 Shows).

1976 spielten alle Mitglieder der Gruppe Yes Soloalben ein. Moraz steuerte auf den Alben von Steve Howe und Chris Squire sein Keyboardspiel bei. Sein eigenes, teilweise in Südamerika, teilweise in der Schweiz, unter anderem mit dem Bassisten Jeff Berlin mit der Hilfe von Jean Ristori aufgenommenes Soloalbum, ein Konzeptalbum, das weitgehend in brasilianischen Rhythmen und mit entsprechenden Instrumenten produziert wurde, betitelte er "The Story Of I". Es enthält eine gelungene Fusion von Pop, Progressive Rock, von der Romantik geprägter Neoklassik, Musical und Jazz, wurde aufgrund dieser stilistischen Breite als das erste Album der Weltmusik bezeichnet und erhielt grossen Beifall bei Musikerkollegen. Peter Gabriel fragte Moraz nach der Telefonnummer seiner brasilianischen Rhythmusgruppe.

Das von Jean Ristori abgemischte Yes-Album "Relayer" war jedoch das einzige Yes-Album, auf dem Patrick Moraz mitwirkte. Nach der Relayer-Tour und der Soloalbum-Tour (28. Mai 1976 bis 22. August 1976, 53 Auftritte) wurde er im November 1976 mitten in der Arbeit am Nachfolgealbum von "Relayer", betitelt "Going For The One", von seinem Vorgänger Rick Wakeman ersetzt, als Yes die Möglichkeit sahen, diesen wieder in die Band zurückzuholen. Nach seinem zweiten, stilistisch ähnlichen Soloalbum "Out In The Sun", das 1977 erschien, ersetzte der mittlerweile in Brasilien lebende Moraz den Musiker Michael Pinder bei der reformierten Band The Moody Blues, zunächst als Sessionmusiker. Die Reise zum Vorspiel nach England hatte er durch einige Konzerte in der Schweiz, darunter beim Montreux Jazz Festival 1978, finanziert. Das erste gemeinsame Album mit den Moody Blues, "Long Distance Voyager", wurde das zweite und letzte der Moody Blues, das in den USA die Spitze der Charts erreichte. Moraz blieb bis 1991 bei der Band, seit 1979 als Vollmitglied (nach der Trennung vertraten die anderen Bandmitglieder vor Gericht jedoch die Position, Moraz sei lediglich "a hired keyboard player" gewesen - diese Uneinigkeiten hatten vor allem finanzielle Hintergründe).

Nebenbei arbeitete Patrick Moraz aber weiter an verschiedenen Projekten, vorwiegend Soloaufnahmen, mal mit Band, seit den 90er Jahren vorwiegend solo am Flügel. Moraz' stilistisches Spektrum reichte dabei von brasilianischen Musikstilen über Klassik und Jazz bis hin zum New Age, letzteres nachzuhören auf seinem Album "Human Interface" von 1987. Stilrichtungen, die er meist in verspielten, im besten Sinne als poppig zu bezeichnenden Motiven und Phrasen zu einem sehr einheitlichen, eigenständigen Stil zu vereinen verstand, kredenzte er ebenso. Die beiden "Future Memories"-Alben enthielten überdies weitgehend improvisierte Musik, die Patrick Moraz "Instant Composition" nannte, die anlässlich einer Fernseh-Liveübertragung im Studio entstand und im Falle von "Future Memories Live On TV" 1979 nur wenige Tage nach der Aufnahme in den Regalen der Plattenläden stand.

Nach seinem Ausstieg bei den Moody Blues und der Veröffentlichung seines ersten Solo Piano-Albums "Windows Of Time" im Jahre 1994 ging Patrick Moraz in den USA auf eine kleine Tournee in Kirchen und kleinen Konzerthallen. Auf dieser Coming Home America Tour (C. H. A. T.) spielte er ausgewählte Stücke und berichtete von einigen Erlebnissen aus seiner Karriere. Eines dieser Konzerte ist 1995 unter dem Titel "PM In Princeton" auf CD erschienen. Danach wurden Moraz' Konzerte spärlicher.

Im März 2007 ist bei der englischen Plattenfirma Voiceprint Records eine Konzertaufnahme aus der Newcastle City Hall von 1974 veröffentlicht worden, die neben einigen Stücken vom Studioalbum zwei stark umkomponierte The Nice Coversongs und zwei bislang unbekannte Stücke von Refugee enthält. Im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung hatte sich der Kontakt zwischen Moraz, Jackson und Davison wieder intensiviert. Eine zeitlang waren Reunion-Konzerte in Europa im Gespräch. Am 15. April 2008 erlag Brian Davison jedoch im Alter von 65 Jahren einem Hirntumor. Im Jahre 2010 erschien beim englischen Plattenlabel Floating World Records ein Set mit zwei CDs, das sowohl das 1974er Studioalbum, als auch den 1974er Konzertmitschnitt enthält. Das Booklet dieses Sets enthält ausführliche Liner Notes von Martyn Hanson, der unter anderem mehrere Bücher zu den Gruppen The Nice und Emerson Lake & Palmer veröffentlicht hat.