Sep 30, 2016

CIRCUS - Circus (Hemisphere Records KS 6679, 1974)

Die Gruppe Circus entstand im Jahre 1969 als SOUND STREET in Stevens Point, Wisconsin. Sie absolvierte Auftritte in Musik Bars und College Dancehalls, dies praktisch ausschliesslich in ihrem Heimatstaat Wisconsin und schuf sich mit ihrer spielerisch äusserst kompetenten und manchmal recht ungewöhnlichen Mixtur aus Blues und Rock kontinuierlich eine grosse Fangemeinde. Die Band SOUND STREET setzte isch zusammen aus dem Keyboarder Fred Omernik, dem Bassisten. Wayne Kostroski, den beiden Gitarristen Gary Konkol und Randy Glodowski, sowie Al Crowe am Schlagzeug. Zwei ihrer typischen musikalischen Merkmale waren die sogenannten "Twin Guitar Sounds", welche Jahre später durch die Formation Wishbone Ash weltberühmt werden sollte, sowie die ausgezeichneten und sehr harmonisch klingenden mehrstimmigen Gesangsarrangements von vier der fünf Musiker, die nicht selten an die Vokalarbeiten von Jefferson Airplane oder Crosby Stills Nash & Young erinnerten. Mit dem Wechsel des Bandnamens zu CIRCUS gelangte das Quintett auch zu einem Plattenvertrag mit der Firma North Central Productions, die später unter dem neuen Namen McMillan & Clary Talent amerikaweit bekannt wurde. CIRCUS rekrutierten den Schlagzeuger Ray Cyr als Ersatz für den ausgeschiedenen Al Crowe und zogen um nach Madison Wisconsin, um ein breiteres Publikum zu erreichen und um ihre professionelle Arbeit als Musiker, verbunden mit ersten Plattenaufnahmen, zu erweitern.

Schon kurz nach dem Umzug nach Madison begann die Gruppe, regelmässig in den lokalen Bars und Konzerthallen zu spielen, wie etwa im Snoopy's Dewey's, oder dem sehr populären Church Key Club. Anfangs spielte die Band noch öfters als Supporting Act für bekanntere Gruppen und Interpreten wie etwa die James Gang, die Rotary Connection, Ben Sidran, die Siegel-Schwall Band, Ted Nugent und Muddy Waters, später dann auch als Headliner, da ihre Popularität kontinuierlich wuchs und sie bald auch ausserhalb von Wisconsin auftrat. CIRCUS spielten einen sehr erfolgreichen Gig beispielsweise am Lola Rock Fest 1971, welches so etwas wie Wisconsin's Antwort auf Woodstock war, daher auch bekannt war unter dem Namen "Woodtick Nation". CIRCUS spielten dabei unter anderem mit wahren Grössen wie Ravi Shankar, Buddy Rich, Iggy Pop, Terry Reid und der Siegel Schwall Band zusammen. CIRCUS war auch eine der ersten Bands, die konstant am publikumswirksamen "Milwaukee's Summerfest" auftrat.

Als die Band immer bekannter wurde, begann sie, auch Florida, Colorado, Massachusetts, Maine, Georgia, Tennessee und den gesamten Mittleren Westen der USA zu bereisen. Sie traten überall auf, wo sich eine Chance für einen Auftritt bot, egal ob in Bars, Colleges, Militärkasernen (!), Riverboats, Band Wettbewerben oder auch grösseren Auditorien. 1972 erlitt ihre Popularität jedoch einen ersten empfindlichen Dämpfer, als bei ihrem Gitarristen und Sänger Gary Konkol eine äusserst seltene und sehr aggressive Art von Krebs diagnostiziert wurde und er in der Folge ersetzt werden musste. Sein Tod Anfang 1973 riss ein sowohl musikalisches, wie auch emotionales Loch in die Gruppe, das in der Folge nicht mehr richtig geschlossen werden konnte. Die Musiker waren eben auch sehr gute Freunde, eine eingeschworene Truppe, die schon seit längerem gemeinsam jede Durststrecke zurückgelegt hatte.

Der in Wisconsin recht populäre Musiker Mike Richson stieg darauf als Ersatz in die Band ein, und CIRCUS begannen einmal mehr mit Konzertreisen quer durch Amerika. Der Rocker Gunnar Antell ersetzte Mike Richson für kurze Zeit, als die Band nach einer weiteren Perfektionierung ihres Sounds suchte. Doch erst mit dem Hinzukommen von Brett Peterson an der Gitarre nahm die Gruppe ihr Album im Jahre 1973 in den American Music Studios in Sauk City mit dem legendären Corky Siegel (The Siegel-Schwall Band) als ausführendem Produzenten auf. Das Album wurde anschliessend in den Paragon Studios in Chicago abgemischt und schliesslich im Frühjahr 1974 veröffentlicht. Die Band ging daraufhin auf ausgedehnte Tournee, um ihr Album entsprechend zu promoten. Es zeigt sich, dass das Album besonders im Süden, Westen und Südwesten der Vereinigten Staaten recht erfolgreich war und sich gut verkaufte. Jim Ash ersetzte noch während der laufenden Tournee Ray Cyr am Schlagzeug und Terry Knoll ersetzte Brett Peterson später an der Gitarre.

In nunmehr leicht veränderter Besetzung spielte die Gruppe im Frühling 1975 zwei Songs ein, die als Single-Veröffentlichung gedacht waren und den Grundstein für ein zweites Album legen sollten. Dazu ging die Gruppe in ein Tonstudio in Schaumburg Illinois, nahm dabei auch einige Demo-Songs zusätzlich zu den zwei fest eingeplanten Songs auf. Gleichzeitig standen die Musiker auch immer wieder auf den Rockbühnen, unter anderem zusammen mit Styx, B.B. King, Ted Nugent & The Amboy Dukes, Eric Carmen And The Raspberries, Hot Tuna, John Sebastian, Firefall, Bonnie Bramlett und die Amazing Rhythm Aces, jeweils als deren Opening Acts. Dies pushte zwar das erste Album, die Verkaufszahlen blieben aber weit hinter den Erwartungen des Managements, der Plattenfirma und letztlich auch der Band selber zurück. Schliesslich stand die Gruppe Anfang 1976 ohne Vertrag da und managte sich selbst, buchte auch eigene Konzerte, war damit aber heillos überfordert. Ausserdem sah die Band keine Möglichkeit mehr, ein zweites Album unter professionellen Bedingungen aufzunehmen, zumal sich für weitere Aufnahmen letztlich kein Geldgeber mehr fand.

Im November 1976 spielte die Gruppe schliesslich ihre letzten beiden Konzerte an der University of Wisconsin und den finalen Gig in der Bronco Bar in Chanhassen, Minnesota. Wer sich dafür interessiert, wie aus einer eher traditionell agierenden Blues- und Rockband eine Gruppe entstand, die eine klassische Hammond Orgel zugunsten von Clavinet und Moog Synthesizer im Keller verstaute, die grossartige Songs komponierte und mit exzellentem mehrstimmigem Gesang überzeugte, der sollte sich die leider einzige Platte von CIRCUS einmal anhören. Die Gruppe spielte sehr virtuos und mit viel Raffinesse und brauchte sich hinter weitaus bekannteren Bands aus diesem musikalischen Bereich nicht zu verstecken. Es gibt noch so viele unbekannt gebliebene Perlen aus vergangenen Tagen zu entdecken. CIRCUS gehören da unbedingt mit dazu.


Sep 28, 2016

EXIT - Exit (Privatveröffentlichung ohne Nr., 1975)

Die Band Exit entstand im Jahre 1972 in der Schweizerischen Stadt Frauenfeld. Die Gruppe um den Gitarristen Andy Schmid und den Schlagzeuger Kafi Kaufmann waren vor allem an Konzerten eine atemberaubend gute und sehr dynamische Band, die unter anderem als Opening Act für so illustre Bands wie beispielsweise die deutschen Formationen Birth Control und Jane auftreten und sich grossen Respekt verschaffen konnte. 1975 nahmen Exit ihr leider einziges Album auf, das sie privat vertrieben, ohne die Unterstützung einer namhaften Plattenfirma im Rücken, was sehr bedauerlich ist, denn die Platte zählt für mich noch heute zu einer der grossen Sternstunden Schweizerischen Rockmusik-Schaffens. Die kleine Auflage von lediglich 350 Exemplaren sorgte dafür, dass die LP rasch ausverkauft war und schon bald teils astronomische Sammlerpreise erzielen konnte, bis das Werk im Jahre 1993 auf dem Schweizer Label Black Rills Records noch einmal aufgelegt wurde, später, im Jahre 2008 schliesslich auch als CD. Die CD-Version bot dann noch zusätzlich sechs Bonustracks, die zuvor nicht veröffentlicht worden waren.

Aufgenommen wurden die originalen Songs damals mit zwei schlichten Revox 2-Spur-Tonband Maschinen ohne jegliche technische Tricks. Das hat heute rückblickend den Vorteil, dass ihre Songs weitgehend homogen klingen, nicht überproduziert wirken und sehr transparent und, ja ich würde sagen "ehrlich" klingen. Stilistisch reichen die Sounds des Albums von Deutschrock über englischen Beat bis hin zu klassischem Psychedelic Rock und leicht progressivem Flair. Die unveröffentlichten Bonus Tracks der CD-Ausgabe von 2008 entstanden im Probelokal der Gruppe in wechselnden Exit-Besetzungen bis 1979. Von den originalen Songs begeistern eigentlich keine mehr als die anderen: Exit hatten eine Platte eingespielt, die sich wirklich durchgehend gut anhört und die man auch von Beginn bis zum Schluss durchhören muss. Es passt alles gut zusammen, trotz der stilistischen Vielfalt. Die Band traute sich was, verfiel nicht in einen "typischen" Sound, an welchem man die Jungs hätte festmachen können. Klar: Dies allein schafft natürlich noch keine Meisterwerke.

Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Schweiz in jenen Tagen nicht gerade ein kreativer Schmelztiegel war. Zu viele Bands wollten einfach ihren grossen Vorbilder nacheifern, manche mehr oder weniger erfolgreich, andere - die meisten - leider weitgehend erfolglos. Und auch wenn die Gruppe Exit, in ihrem Ursprung bestehend aus Andy Schmid (Gitarre, Mundharmonika), Edwin Schweizer (Bass), Roman Portail (Orgel, Synthesizer) und Kafi Kaufmann (Schlagzeug und Perkussion) ebenfalls zu den Verlierern zählten, so haben sie doch immerhin ein Album hinterlassen, das noch heute zu überzeugen vermag und sich qualitativ deutlich vom eher drögen Schweizer Rock der frühen 70er Jahre unterscheidet. Was den Aufnahmen nicht schadete, war der Umstand, dass sie praktisch filterlos ohne grosse Effekte, eingespielt wurden. Dadurch erhielten die Stücke einen gewissen Live-Charakter und ihr Sound blieb zu jeder Zeit offen und dennoch kompakt. Alle vier Songs des Albums zeichnen sich durch gute Kompositionen aus, durch viel spielerische Gimmicks und verraten auch viel Know-How der Musiker, die wohl schon etliche gute Rockplatten in ihrer Sammlung stehen hatten, diese jedoch nicht kopierten, sondern aus ihnen ihre eigenen Inspirationen zogen.

"Paradise", das (bewusst oder unbewusst ?) falsch geschriebene "Balade Of Live", "Talk Around" und "Bad Gossip" bieten eigentlich alles, was damals auch international noch gespielt wurde, obschon die Musik von Exit klar zurückschauen mag: Ihre vier Kompositionen klingen eher, als wären sie drei oder vier Jahre früher aufgenommen worden. Dies bezieht sich nicht nur auf die marginale, bereits erwähnte Aufnahmetechnik, sondern insbesondere auch auf den Sound ihrer Instrumente und schlicht auf die Kompositionen, die dadurch natürlich alles andere als mittelmässig sind. Im Gegenteil: Hier versuchte eine Gruppe, einen authentischen Sound zu spielen, der in der Schweiz eher wenig populär blieb über die Jahre und 1975 wohl auch bereits out of fashion war. Vielleicht war dies auch der Grund, warum damals keine grosse Plattenfirma die LP veröffentlichen mochte. Schliesslich kamen da schon härtere Rockbands wie Tea, Krokus oder die urschweizerischen Rumpelstilz auf die noch arg provinziellen Bühnen und definierten bald darauf den neuen Schweizer Pop und Rock. Die Gruppen Toad und Tusk einige Jahre früher, spielten den härteren Rock als Exit, dafür verneigten sich Exit wiederum stilistisch hörbar und teils deutlich vor deutschen Krautrock-Bands wie Jane und Birth Control (vor allem in Bezug auf die Orgel-Arrangements in den Songs).

Trotzdem waren Exit auch recht progressiv unterwegs und man findet in ihren langen Songs auch immer wieder Reminiszenzen beispielsweise an die Pink Floyd der "Meddle"-Phase, allerdings ohne deren Hochglanz-Sound, sondern eher wie eine Art Pink Floyd-Garage Rock Combo. Originell ? Ja, auf jeden Fall und vor allem: Gut, sogar sehr gut. Denn das fehlt dem progressiven Rock mitunter: Dieses rohe, ungeschliffene Element in der Musik. Ob bewusst oder unbewusst, oder aufgrund der im internationalen Vergleich eher bescheidenen Studio-Einrichtung im damals angesagten MS Studio in Dietikon bei Zürich: Die Aufnahmen sind gut und haben die Zeit gut überdauert. Heute schätzt der Kenner solche glamourlosen Vierspur-Aufnahmen viel mehr als damals, als man selbst bei gewöhnlichen Pop-Produktionen kaum mehr irgendwo mit weniger als 24 Spuren auskam. 

Als "Proto-Prog" könnte man die Musik bezeichnen, die Exit gespielt haben: Ordentlich abwechslungsreiche Rocksongs, versehen mit interessanten wabernden Orgelausflügen, jazzigen Einsprengseln, instrumentalen Jam-Abschnitten und eher spärlich eingesetzten Synthesizer-Klängen (vor allem im Song "Talk Around"). Dabei wirkt die Musik immer auch melodiös und fast mitsingbar.

Die weiteren Songs des sehr ordentlich klingenden, aus verschiedenen Studiosessions stammenden Bonusmaterials auf der CD-Ausgabe von 2008 sind etwas jazziger und gelegentlich auch funkiger ausgefallen ("Take A Little More Time"). Mit Gallus Bachmann's Saxophon kommt eine zusätzliche Klangfarbe in die Musik, während Martin Beerli die Jazzrockausrichtung der Musik mit einem schwungvollen Elektro-Piano (neben den klassisch-progressiv eingesetzten Orgel und Synthesizer) verstärkt. "II" ist dabei eine abwechslungsreiche Instrumentalnummer mit nettem, etwas nach Canterbury klingenden Symphonik-Jazzrock, die durchaus Spass macht. Mit "Clarinetto" sorgt dann die Band mit einem nicht so recht zum Rest passenden Dixie Swing-Kalauer für einen humorvollen Abschluss.

Die Band Exit kann man vielleicht nicht mit den eher bekannteren Krokodil, Island, Circus, Welcome oder Kedama vergleichen, da diese Bands auch sehr viel mehr finanzielles Polster für ihre Aufnahmen zur Verfügung hatten, aber Fans von Jane oder generell frühem Krautrock, der zudem auch sehr melodiös sein darf, dürften diese Platte wie ich sehr mögen.
Andy Schmid und Kafi Kaufmann waren auch später noch musikalisch aktiv, nachdem die Band Exit Geschichte war. Andy Schmid starb 2001 während eines Konzerts in Kairo, Kafi Kaufmann veröffentlichte ab und zu Soloalben und ist immer noch aktiv.



Sep 27, 2016

THE BRANDOS - Over The Border (Blue Rose Records BLU DP0411, 2006)


Zugegeben: Wenn man von einer Band, die man schon seit Anbeginn begleitet, sämtliche Alben kennt und in sein Herz geschlossen hat, dann kommt ein eigenartiges Gefühl auf, wenn man nach fast zehnjähriger Pause erstmals wieder ein neues Album in den CD-Player schiebt und der ersten Sekunde harrt, da der erste Ton des ersten Songs von "Over The Border" aus den Lautsprechern klingt. Ein schönes Intro im "Legend Of Xanadu"-Stil versetzt den Hörer kurz nach Mexiko, ehe es dann genau in die Richtung los geht, die ein Brandos-Fan einfach erwartet - eine bärenstarke und treibende Melodie mit einem typischen Kincaid-Refrain und Gänsehaut-Harmony Vocals. Der Zuhörer lehnt sich entspannt zurück, denn er stellt begeistert fest, dass sie es nicht verlernt haben. Sie können immer noch rocken wie Hölle und Dave Kincaid hat immer noch diese einzigartige Stimme, die den Sound der Brandos seit über 20 Jahren auszeichnet. Und legt mit "Walking Home" gleich noch einen Gang zu. Gast-Schlagzeuger Simon Kirke von Free und Bad Company "The Only Love I Can Get", dem zumindest auf dem neuen Album untypischsten Kincaid-Song und gerade deshalb der perfekte Auftritt für Kirke, der darin seine Wurzeln aufblitzen lässt - ein düsterer, schleppender Rocker, ehe mit "She's The One" ein Surf-Rocker erster Güte folgt.

"The Triangle Fire" ist mit 7 Minuten das Kernstück des Albums, das mit akustischer Gitarre beginnt und sich zu einem Brandos-Meisterwerk entwickelt, bei dem wie auch bei den anderen Stücken der mehrstimmige Gesang von Kincaid und Ernie Mendillo Akzente setzt, wobei sich hier die elektrische Gitarre von Kincaid und die Uilleann Pipes von Jerry O'Sullivan ein heisses Gefecht liefern. "Dino's Song" ist das erste von drei Covers, war im Original 1968 von Quicksilver Messenger Service veröffentlicht worden und wurde in den Ursprüngen des Songs belassen, jedoch mit "Brandos-Drive" unterlegt und klingt, als wenn es in einen Jungbrunnen gefallen wäre. In "Merrily Kissed the Quaker / The New York Volunteer" lässt Kincaid seine irischen Wurzeln zur Geltung kommen, ehe man bei dem härtesten Rocker des Albums, "He's Waiting", im Original von den 60s Garage Punkern The Sonics, den stimmlichen Vergleich zu John Fogerty heranziehen muss, ob man will oder nicht. Mit "Let It Go" wird einen Gang zurückgeschaltet, ehe das traditionelle Volkslied "Guantanamera" nach 45 Minuten für einen überraschenden und sanften Ausklang eines vollkommen überzeugenden Brandos-Albums sorgt, das ich inzwischen für das beste Werk der Band halte.

In den weit über 20 Jahren ihres Bestehens hatten die Brandos etliche Besetzungswechsel zu vermelden, hier auf diesem Album besteht die Band im Prinzip aus Mastermind Dave Kincaid und Bassist Ernie Mendillo. Unterstützt wurden sie auf "Over The Border" neben den bereits erwähnten Musikern von Ex-Mitglied Frank Funaro am Schlagzeug, Andy Burton an der Hammond Orgel sowie Dennis Diken (Schlagzeug bei "She's The One" und "He's Waiting"). Produziert und arrangiert wurde das Album von Dave Kincaid, der auch alle Stücke geschrieben hat, von den Coverversionen abgesehen.

The Brandos begeisterten schon immer mit handgemachtem Rock & Roll, der bluesgetränkte Gitarrenattacken enthielt, gemischt mit Country- und Folk-Anleihen, die tief in der amerikanischen Musiktradition verwurzelt waren. Die Brandos, die von dem Film "The Wild One" derart begeistert waren, dass sie sich nach dessen Hauptdarsteller Marlon Brando benannten, formierten sich 1986 in der Besetzung David Kincaid (Gesang, Gitarre, Mandoline, Banjo), geboren am 21. März 1957 in Santa Monica,Kalifornien, Ed Rupprecht (Gitarre), Larry Mason (Schlagzeug) und Ernie Mendillo (Bass und Gesang). Der Kopf der Gruppe war der in Seattle aufgewachsene Sänger, Gitarrist und Texter David Kincaid. Der von irischen Vorfahren abstammende Kincaid spielte seit Mitte der 70er Jahre zusammen mit Larry Mason in diversen Rockbands seiner Heimatstadt Seattle. 1979 gründeten Kincaid und Mason gemeinsam mit Steve Adamek (Gesang und Gitarre) die Power Pop Band The Allies. Unterstützt wurden sie dabei von dem Songwriter Carl Funk. Die Allies konnten mit ihrer Mischung aus kraftvollem Gitarrenpop, Punk und New Wave 1982 mit dem Song "Emma Peel" einen Radio-Hit in Seattle landen und mit der im März 1982 veröffentlichten LP "Allies" einen Achtungserfolg erzielen. Die Band spielte bis Anfang 1985 in den Clubs ihrer Heimatstadt, doch dann war plötzlich die Luft raus. "Irgendwie war in Seattle nicht mehr viel los, und so entschied ich, die Stadt zu verlassen. Ich wollte im Zentrum der Dinge sein, also ging ich nach New York. Im 'Village Voice' graste ich die Annoncen nach Gruppen ab, die Musiker suchten, und landete so schliesslich bei Soul Attack, der Band, in der Ernie Mendillo und Ed Rupprecht spielten", erklärt Dave Kincaid.

Die Musiker beschlossen, mit einem veränderten Sound einen Neuanfang zu starten und nahmen mit Hilfe eines Schlagzeug-Computers in Kincaids Apartment einige Demo Songs auf. Schon bald hatten die Musiker genug Material zusammen, um es in den New Yorker Clubs vorstellen zu können. Unter dem Namen "The Brandos" und mit Kincaids altem Freund Larry Mason als nunmehr festem Schlagzeuger begann die Band im Februar 1986, in den angesagten New Yorker Clubs wie dem CBGB, Tramps und The Bitter End aufzutreten. Im Oktober 1986 gingen die Brandos ins Studio, um ihre erste LP "Honor Among Thieves" (die es in den Staaten bis auf Rang 108 in die Hitparade schaffte!) aufzunehmen, die von dem New Yorker Label Relativity Records 1987 veröffentlicht wurde. Das Album glänzte mit einem klaren und frischen Powerrock, mit satten Gitarren, klugen Texten und starken Melodien und verhalf der noch jungen Gruppe schnell zu nachhaltigem Erfolg auch ausserhalb der USA. Sänger David Kincaid beeindruckte dabei mit einer durchdringenden Stimme, die immer wieder Vergleiche mit der von John Fogerty's mächtigem Organ hervorrief. Im Mai 1987 tourten die Brandos erstmals durch Europa. Danach spielten sie bei US-Konzerten als Vorgruppe für INXS, The Cars, und den Georgia Satellites. Im Frühjahr 1988 wurde das Album "Honor Among Thieves" in der Sparte "Best Album (Independent Label)" mit einem New York Music Award ausgezeichnet, und Dave Kincaid bekam in der Sparte "Best Male Vocalist (Independent Label)" ebenfalls einen New York Music Award verliehen.

Danach begannen die Brandos mit den Aufnahmen an ihrer zweiten LP "Trial By Fire", die aber wegen Rechtsstreitigkeiten mit verschiedenen Plattenfirmen nie veröffentlicht wurde. Die Band musste zwischen 1989 und 1992 eine Zwangspause einlegen, in der sie versuchte, einen neuen Plattenvertrag auszuhandeln, und landete schliesslich, nachdem sie von RCA Records wieder gefeuert wurde, beim deutschen Label SPV Records. Das 1992 veröffentlichte Album "Gunfire At Midnight" durfte allerdings aufgrund der Rechtsstreitigkeiten, die die Karriere der Brandos in den USA für weitere sechs Jahre blockieren sollte, nur in Europa erscheinen. Dave Kincaid hierzu: "1991 haben wir uns überlegt, ob wir die Sache beenden sollen oder noch einmal durchstarten. Das Jahr zuvor war wirklich hart. Ich hatte geheiratet und konnte meiner Frau nichts bieten. Die anderen kehrten in ihre alten Jobs zurück. Ich bin eine Zeitlang Lastwagen gefahren und habe zwischendurch neue Songs geschrieben. Es war unser schlimmster Alptraum".

Doch mit dem Album "Gunfire At Midnight" brachten die legitimen Nachfolger von Creedence Clearwater Revival, wie sie oft bezeichnet wurden, ihre Karriere wieder in Schwung. Die LP bekam glänzende Kritiken, und durch ausgiebige Tourneen durch den europäischen Kontinent konnten sich die Brandos eine grosse Fangemeinde erspielen. Dass die Band zu den besten Gitarrenrockbands der Welt gehört, bewies sie mühelos mit dem ausgefeilten Gitarrenrock der LP "Gunfire At Midnight". Das vom Magazin Stereoplay als ein rauhes, ungeschliffenes Rock-Juwel bezeichnete Album enthielt ein kraftvolles Potpourri aus Country-Rockern ("Partners"), Rockabilly-Nummern ("The Last Tambourine") und dynamischen Rockern ("How The Dice Fall"). Als Singles wurden die Songs "The Keeper" (1992), "Anna Lee" (1993) und der hymnenhafte Rock-Song "The Solution" (1992) ausgekoppelt. Am Songwriting war wieder, wie auf vielen anderen Platten der Brandos, der Texter Carl Funk beteiligt.

Auf ihrem 1994er Album "The Light Of Day" wurde Ed Rupprecht, der nur an zwei Stücken des Albums beteiligt war, grösstenteils durch Scott Kempner von den fabelhaften Roots-Rockern The Del-Lords ersetzt. Bei dieser Platte setzte die Band verstärkt auf akustische Instrumente und erweiterte das Spektrum um den Einsatz von Violinen-, Banjo- und Mandolinenklängen, so dass man von einer gelungenen Mischung aus Rock und Folk, Kraft und Gefühl sprechen konnte. Von der traditionsbewussten Folk-Rock-Platte wurden die Songs "Not A Trace" (1994) und "Love Of My Life" als Singles ausgekoppelt. 1995 veröffentlichte die deutsche Plattenfirma SPV Records die zehn Titel umfassende CD "The Light Of Day" mit akustischen Versionen bekannter Songs inklusive Coverversionen wie "Twenty Flight Rock" von Eddie Cochran und "Green River" von CCR. Ganz im Stile von Creedence Clearwater Revival klang auch die CD "In Exile - Live" (1995). Das packende Live-Dokument enthielt kraftvolle, funkensprühende Songs aus den vorangegangenen Studio-Alben sowie das Traditional "The Recruiting Sergeant".

Auf dem 96er Album "Pass The Hat" präsentierten sich die Brandos in veränderter Besetzung, denn Rupprecht, Mason und Kempner waren ausgeschieden und durch Frank Funaro (Schlagzeug, ehemals bei The Del Lords) und Frank Giordano (Gitarre) ersetzt worden. Das rauhe, erdige und kraftvolle Roots-Meisterwerk, wie es von der Zeitschrift Musik Express/Sounds bezeichnet wurde, enthielt wieder jede Menge Rock-Hymnen, von denen das folkige "Tell Her That I Love Her", der Titel-Track "Pass The Hat" und das erdige "You'll Still Be Mine" besonders herausragten. Ausserdem waren auf dem Album mit "German Skies", "Let The Teardrop Fall", "The Siege" und "The Other Side" vier Songs vertreten, die von dem unveröffentlichten Album "Trail By Fire" stammten und für "Pass The Hat" neu aufgenommen wurden. Im gleichen Jahr beteiligte sich David Kincaid als Produzent, Mandolinenspieler und Background-Sänger an dem Solo-Album des Songwriters Carl Funk, das von Folk, Rock und Pop beeinflusst war.

1997 beschäftigte sich Kincaid mit den Aufnahmen seines Solo-Albums "The Irish Volunteer", das die Folk-Seite des hemdsärmeligen Rockers präsentierte und überwiegend akustische Arrangements enthielt. Im Sommer 1997 gingen die Brandos mit dem Schlagzeuger Tom Goss auf Europa-Tournee. Ein neues Album erschien im Oktober 1998. Eingespielt wurde die CD "Nowhere Zone" mit den Musikern Kincaid, Mendillo, Giordano und Funaro. "Nowhere Zone" bedeutete eine Rückkehr zum klaren amerikanischen Rock, welcher der Band den Durchbruch sichern sollte. Doch die Grosstadt Folkrock Songs wurden wieder nur von den Fans vernommen, und die Brandos zählten auch weiterhin zu den ewigen Geheimtipps. Von den Fans besonders herbeigesehnt, enthielt die CD die verbliebenen sechs Songs der unveröffentlichten Platte "Trail By Fire". Im Sommer 1999 tourten die Brandos mit dem Schlagzeuger Tom Engels wieder durch Europa und traten unter anderem im Vorprogramm von Van Morrison, Deep Purple und Bryan Adams auf. Während dieser Tour wurde das im Eigenvertrieb erschienene Konzert-Dokument "Live At Loreley" aufgenommen. Gegen Ende 1999 erschien die Zusammenstellung "Contribution - The Best Of 1985-1999", auf der die Band ihre fast fünfzehnjährige Karriere Revue passieren liess. Als besonderes Bonbon enthielt diese wundervoll zusammengestellte Roots Rock-Mischung die beiden unveröffentlichten Songs "Hallowed Ground" und "My Way To You".

 Danach wurde es ruhiger um die Brandos. Zwar gab es noch ein paar kleinere Tourneen, wie im Dezember 2002 und im Juli 2006 in Deutschland, doch weitere Alben wurden zunächst nicht eingespielt. Von David Kincaid erschien 2001 aber das Solo-Album "The Irish-American's Song", auf dem er wieder authentische und grösstenteils akustische Folksongs präsentierte, die das Liedgut der irischen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg aufgriffen. Anschliessend ging Dave Kincaid auch als Solist auf Tournee und trat dabei regelmässig auch in Deutschland auf.

Wenn man den gesamten Brandos-Schatz entdecken möchte, kann man letztlich getrost jedes Album der Gruppe einmal antesten. Es ist letztlich immer ein Garant für tolle Roots Rock-Musik mit einer schönen Portion Americana und dem lufitgen irischen Folkrock-Flair, für das der Name Dave Kincaid steht. Mir persönlich gefällt einfach das stilistisch sehr breitgefächerte Album "Over The Border" am besten. Es suggeriert auch vom Titel her das, wofür Dave Kincaid's Musik immer stand: Stilistische Grenzen überschreiten.





 

Sep 9, 2016

Endlich Ferien.
Ich bin bald wieder zurück.
Stay tuned...Beatnik
 
 
FRIGHT PIG - Out Of The Barnyard
(Nomenclature Music Publishing 852232004000, 2013)

Fright Pig. Allein der Name lässt aufhorchen. Und dann das Cover. Völlig abgefahren. Ein "Sensenraumfahrer" nähert sich einem Ferkel säugenden Schwein. Dahinter ein abgewrackter Bauerhof, im weiteren Hintergrund irgendwo im Nebel oder Smog eine Trabantenstadt. Was erwartet den Musikhörer hinter so einer auf den ersten Blick absurd wirkenden Plattenhülle ? Nun, es ist auf jeden Fall extrem gut gemachter und interessant aufgebauter Progressive Rock. Aber in welchem Stil ? Wo sind die Anleihen ? Das ist wahrlich schwer zu sagen. Da gibt es Genesis zu Peter Gabriel-Zeiten, da gibt es Neal Morse-Harmonien (zu Spock's Beard oder Transatlantic-Zeiten). Der Gesang ist durch die oftmals weniger eingängigen Linien schwer zu fassen. Vielleicht ein bisschen in der Art von Daniel Gildenlöw. Und mit seiner Band Pain Of Salvation haben auch die Metal-Anteile auf diesem Werk irgendwie zu tun. Aber auch die wilden Passagen bei Emerson Lake & Palmer, vo allem deren teils wild und ungestüm wirkenden Keyboard-Attacken im Stile eines Keith Emerson scheinen durch. Es ist alles irgendwie wie bei der ersten Platte der Gruppe HAKEN, nur nicht mit so viel Metal-Anteil, aber immer noch mit einer gehöriger gehörigen Rock-Komponente. Die Kompositionen sind extrem vielschichtig und verschachtelt. Das kann man nach einigen Hördurchgängen gar nicht alles erfassen! Die Fright Pig-Musiker müssen sich auch ernsthaft mit klassischer, beziehungsweise barocker Musik auseinandergesetzt haben, denn sehr viele Skalen kommen aus dem klassischen Umfeld. Dann gibt es auch Folklore-Anteile, im letzten Stück gar Country-Passagen. Aber keine Angst: das löst sich alles in Rock auf, der immer wieder an die 70er Jahre erinnert.

Es fällt wirklich schwer, das musikalische Repertoire von Fright Pig in wenigen Sätzen treffend zu umschreiben. Aber es ist grandios, niemals langweilig. Atemberaubend in seiner Vielfalt, für manchen Zuhörer vielleicht fast schon ein bisschen zu viel. Progressive Rock von Schweinen für Schweine ? Was lässt sich bei einem solchen, zugegebenermassen recht originellen Bandnamen alles hineininterpretieren, wenn sich zudem die Musiker Pseudonyme wie Pig Maillion oder Pig Lee Whigli verabreichen. Fünf Jahre schweineintensiver Arbeit stecken in jedem Fall in diesem muskelbepackten Heavy Progressive Rock-Album, und das hört man in der Tat: Die Stücke wirken sehr ausgereift, sie sind gespickt mit technischen Kabinettstücken, gut produziert und schliesslich sagenhaft vielseitig in punkto Arrangements oder angerissenen musikalischen Stilen. Insofern wäre ein Bandname wie etwa 'Chamäleon' auch nicht unpassend gewesen, denn kein Stück gleicht dem anderen. Dennoch wirkt das Album wie aus einem Guss.

Der kehlig-kraftvolle Gesang von Sänger Pig Mailion wirkt sehr amerikanisch. Man hört Chöre, vergleichbar jenen der Band KANSAS und neben einem extrem muskulös wirkenden Schlagzeug-Spiel bekommt man vielfach sehr kraftvolle, tiefgestimmte Gitarren und fette Keyboards zu hören. Die Band spielt sehr, sehr variabel und durchläuft dabei auch zahlreiche Subgenres des Progressive Rock von voluminiösem Symphonic- über melodiösen Neo- und keyboardgeschwängerten Retro-Progressive Rock bis hin zu hartem und breakigem Progressive Metal. Würde man den Silmix von Fright Pig kurz zusammenfassen, könnte man sagen: Sie kombinieren die Erhabenheit und Eleganz von TRANSATLANTIC mit der druckvollen Härte von METALLICA. Dabei wirken ihre Songs manchmal in der Tat etwas überpathetisch, fast schon überladen, auf der anderen Seite gibt den Kompositionen gerade auch die kompromisslose Härte den ungemeinen Schwung, der solch teilweise komplexen Progressive Rock-Stücken oftmals fehlt. Hier sind ein paar Musiker beherzt zu Werke gegangen und haben sich vielleicht in ihrem Schweinestall geschworen: Den ganzen 'Traumtheatern' dieser Welt zeigen wir jetzt mal, wo der Hammer hängt.

Es fällt einem auf, dass die technische Versiertheit der Musiker über weite Strecken wie ein Showcasting wirkt, so als ob sie es allen beweisen müssten. Das lässt das Album insgesamt vielleicht etwas arg prätentiös und aufgeblasen wirken. Es wird unglaublich viel zusammen- und hineingepackt, so dass man ob der häufigen Tempo- und Rhythmuswechsel bei aller Melodiösität schon mal ins Hyperventilieren kommen kann. Die Gitarren bestimmen oberflächlich zwar das Geschehen, aber die agilen Keyboards verleihen den Stücken einen symphonisch-progressiven Schlag, was auch Platz für gelegentliche Akustikgitarren-Intermezzi lässt. Damit alles geordnet verläuft, reiht die Band Songs und Instrumentals abwechselnd auf wie an einer Perlenkette. Und von Stück zu Stück mischt man den wuchtigen, temporeichen Kompositionen nebenbei Flamenco-Parts, Western-Gefiedel oder Irish Folk unter.

Somit ergibt sich ein gewaltig abwechslungsreiches Klangbild: Man stelle sich beispielhaft ein irisches Akustikgitarren-Riff vor, das in eine mellotrongeladene Passage übergeht, die von Orgelparts überschwemmt wird, welche anschliessend mit einem Gitarren- und Moog-Solo versehen werden, um schlussendlich wieder in das ursprüngliche Akustik-Riff zurückzublenden, und all das in kaum einer Minute Spielzeit. Das lässt einem buchstäblich sprachlos zurück. Oft ist solches akustisches Gebaren nahe an der Reizüberflutung: Die Fülle prasselt regelrecht auf den Hörer ein, weil die Instrumentalisten fast permanent bis zum Anschlag aufspielen. Aber nicht vergessen bitte: Emerson Lake & Palmer, Queen oder Dream Theater haben solch dramatische musikalische Exzesse auch immer wieder vorgefüht, und es hat sie noch jeder Hörer überlebt.

Alles in allem präsentieren Fright Pig mit ihrem einzigen Album "Out Of The Barnyard" ein Album, das den Zuhörer staunen lässt, wie mit sagenhafter Selbstverständlichkeit Stile und Subgenres des progressiven Rock quasi im Hochgeschwindigkeitstempo miteinander verquickt werden. Ein Werk, dem man ob seiner auf die Spitze getriebenen Atemlosigkeit hin und wieder eine Art atmosphärischer Entspannung wünschen möchte, die für Ausgewogenheit sorgt. Und dem Schlagzeuger liesse sich auch klar machen, dass nicht jedes Stück ein Schlagzeugsolo ist, zu dem die anderen Musiker nur als schmückendes Beiwerk eingesetzt sind. Wüsste man es nicht besser, könnte man nämlich hinter dem Schlagzeughocker glatt einen Mike Potnoy vermuten. Das Album ist aber dennoch eine dicke Empfehlung für alle Freunde des kraftvollen, melodischen Progressive Rock, das so endet, wie es enden muss, nämlich mit einem brachialen Gewitter, das indes vorher schon während der ganzen Länge der Platte in akustischer Form über den fix und fertigen Zuhörer hereinbrach. 

Noch kurze Anmerkungen zu den Stücken auf diesem Album: "Re-Creation" ist im Stile der Flower Kings oder Kaipa gespielt, mit etwas mehr Kraft hier und da vielleicht. "Incident At Pembroke" klingt wie eine progressive Rockband, die im letzten Moment merkt, dass das Venue, in dem sie auftreten wird, ein Irish Pub ist. Das Ganze beginnt sehr folkloristisch, mündet dann aber bald in veritablen Hardrock, der über typische progressive Elemente verfügt. In dieselbe Kerbe haut "The Meaning Of Dreams": Jazzige Orgelanleihen, die vor einigen Jahrzehnten auch Keith Emerson präsentiert hatte, vermischen sich mit modernen Progressive Metal-Elementen. In "Barque de la Lune" spielt die Band nach einem romantischen Klavierintro ein akustichses Gewitter, mit dem sie sich vor Dream Theater nicht verstecken müssen, wobei es nie zu derb wird: Das virtuose Klassik-Klavier kehrt wieder, aber auch die frickeligen Gitarrenpassagen, und so pendelt das Stück immer zwischen Neo-Klassik und höchst melodiösem Tech-Metal, ohne dabei die Gefilde des Retro Progressive Rocks zu verlassen. 

"Darkest Of Forms" zeigt dann ein weiteres Mal, dass es eben nicht immer in einer Katastrophe enden muss, wenn eine Progressive Rockband sich am Mainstream Rock versucht. Es kommt eben immer darauf an, wie man das macht. Und Fright Pig verstehen es ganz grossartig, das beste aus diesen beiden stilistischen Welten zu vereinen. "Presumido" ist dann ein weiterer Progmetal-Kracher. Hart, aber hörbar und mit einer tollen akustischen Gitarre, welche die Musik dauernd anders zu verorten sucht, als ihr das eigentlich natürlich wäre. Das abschliessende "The Claustrophobia Of Time" ist dann erneut vollkommen anders. Der Beginn ist deutlich von Emerson Lake & Palmer inspiriert, es ist aber auch ein ausgesprochen folkiges Akkordeon eingestreut. Nach dem chaotischen Einstieg schält sich ein Song heraus, der auf gesanglicher Ebene wieder Züge des typischen amerikanischen Melodic Rock trägt, wenn auch die Begleitung einen elegant wirkenden härteren Progrock dazu spielt. Das Ganze mündet schliesslich in einen herrlich überkandidelten Orgelrock ganz im Geiste von Keith Emerson. 

Fazit: Wem ausufernde und extrem fordernde Tempi-, Stimmungs- und Stilwechsel Spass machen und einiges an schwerverdaulichem progressiven Rock gewohnt ist, dem bieten Fright Pig mit ihrem leider einzigen Werk ein ganz eigenes musikalisches Universum, dessen beide Pole "70er Jahre Progressive Rock" und "moderner Prog-Metal" heissen. Die Scheibe ist rasant, fordernd und trotzdem gut ausgependelt. Ihr eigener musikalischer Planet gerät nicht so schnell durch etwaige Pol-Verschiebungen in Turbulenzen. Anders gesagt: Wer schon so abgebrüht ist, dass ihn Dream Theater oder Haken niht mehr aus der Fassung bringen können, der sollte sich diese Sauerei unbedingt einmal anhören.





Sep 8, 2016

THE STRAWBS - Deadlines (Arista Records SPART 1036, 1978)

Das letzte Album der Strawbs zu Ende der 70er Jahre bedeutete einen radikalen Wandel hin zum reinen Rock-Pop der damaligen Zeit. Weggewischt waren die noch letzten verbliebenen Folk-Sprenkel vergangener Jahre- Vom Folk und Folkrock der frühen Tage der Band war schon einige Jahre zuvor nicht mehr viel übrig geblieben. Im Grunde waren die Strawbs schon seit ihrem denkwürdigen Album "Hero And Heroine" aus dem Jahre 1974 eine andere Band als zu Beginn ihrer Karriere, als immerhin mit Sandy Denny in den Anfangstagen noch eine der grossen Stimmen der britischen Folkmusic am Mikrophon stand. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des allerdings nicht minder grandiosen Werks "Deadlines" stand Strawbs-Gründer Dave Cousins genervt durch die ewigen Verrisse der englischen Musikpresse und angetrieben durch den Wunsch nach neuen Horizonten vor der Entscheidung,die Band zu verlassen, was er auch in einem der Songs für das Album zum Ausdruck brachte, indem er etwa im Titel "The Last Resort" anmerkte: "Will you miss me, I doubt it". Die positive Wende brachte jedoch der Wechsel zur Plattenfirma Arista Records, welche der Gruppe jene musikalische Freiheit zugestand, die sie brauchte, um unvoreingenommen und kreativ an das neue Werk heranzugehen, ohne im Vorfeld schon befürchten zu müssen, dass endlose Diskussionen mit den Verantwortlichen eine Veröffentlichung der Platte in die Länge ziehen würden.

Die Strawbs, zu jenem Zeitpunkt noch als Vierer-Stammformation unterwegs, bestehend aus Dave Cousins (Gesang und akustische Gitarre), Dave Lambert (Gesang und Gitarre), Chas Cronk (Bass, akustische Gitarre und Gesang) und Tony Fernandez (Schlagzeug und verschiedene Perkussions-Instrumente), boten für die Aufnahmen zu diesem Album die zwei zusätzlichen Musiker und Keyboarder John Mealing und Robert Kirby auf, welche auch live das aktuelle Line-Up vervollständigten. Die Musiker spielten die Songs zum neuen Album ein, das zum erstenmal ein rein Rock-orientiertes Werk werden sollte. Schon der Opener "No Return" zeigte mit seinem satten Rock und der wilden Entschlossenheit des Songtextes, wohin die neue musikalische Reise jetzt gehen sollte. So typisch amerikanisch hatten die Strawbs bislang nie geklungen. Der Vorteil war, dass die Band sich in den vergangenen Jahren immer wieder in den Vereinigten Staaten aufgehalten hatte, sich dort auch eine treue Fangemeinde schaffen konnte, und so erstaunte es nicht, dass Dave Cousins und Dave Lambert vor allem mit Songs an den Start gingen, die dem amerikanischen Rock- und Pop-Spirit entsprachen. Mit dem nachfolgenden "Joey And Me" wurde ein lockerer Gassenhauer über das "freie Leben on the road" nachgereicht, der genauso amerikanisches Lebensgefühl versprühte, einen lockeren Westcoast-Rock Groove präsentierte und laut seiner persönlichen Einschätzung noch heute zu den Favoriten von Dave Cousins gehört.

Die klaviergetragene Rockballade "Sealed With A Traitors Kiss" erinnert beispielsweise an die frühen Poprock-Songs von Phil Collins, nachdem er bei Genesis ausgestiegen war, um eine Solokarriere zu beginnen. Ein solcher Song hätte damals ganz bestimmt Furore gemacht, wäre er denn als Single veröffentlicht und entsprechend gepusht worden. Noch heute kann man sagen, dass die Strabs mit dieser neuen musikalischen Ausrichtung ein sehr viel grösseres Publikum hätten erreichen müssen, als es damals tatsächlich der Fall war. Man kann darüber spekulieren, ob der Zeitpunkt für solche Musik der richtige oder der falsche war. In der Tat spielten damals reine Rock- und Pop-Bands in Amerika wie hierzulande eine relativ kleine Rolle, gemessen am gesamten Musikmarkt. Es war die Zeit der grossen Veränderung hüben wie drüben, der Punk- und die New Wave-Welle hatten jeden Musiker und Fan erfasst, man stand an der Schwelle zum Plastik-Zeitalter. Da musste eine solche Platte wie "Deadlines", auch wenn sie noch so perfekt eingespielt und produziert war, schon fast wie ein Anachronismus wirken.

Die unverschämt lockere und wunderschöne Rockballade "I Don't Want to Talk About It" war das nächste Beispiel grossartigen Songwritings, und auch dieser Titel ist heute noch so aktuell wie damals. Kein bisschen abgelutscht oder old fashioned klingt dieser traumhaft schöne Song mit ihrer zeitlosen Message "You lit the fire and let it burn, you've reached the point of no return". Bei diesem Titel sang Dave Lambert, doch Dave Cousins stimmte gleich den nächsten Song an: "The Last Resort", einer der Höhepunkte dieses Albums. Ein forscher Song, dessen Temposteigerung sich allerdings so gar nicht rockig aufbäumte, sondern den Laidback-Groove des gesamten bisherigen Albums einfach noch forcierte. Der Song verströmt dieses typische Westküsten-, Highway- und "lass den lieben Gott einen guten Mann sein"-Feeling, eine perfekte Symbiose aus grossartigem Songwriting und unbekümmertem Lebensgefühl.


Selbstreflektierend und bewusst vorwärtsgerichtet präsentierte sich die zweite Seite des Albums mit dem ersten Stück "Time And Life", einem inzwischen typischen Strawbs-Titel, der diese rockig-dramatische Komponente aufwies, ohne sich irgendeiner platten Härte zu bedienen. Die Magie der früheren Jahre schimmerte bei diesem Stück trotzdem leicht durch, was hauptsächlich durch den Einsatz des Mellotrons, gespielt von Gastkeyboarder Robert Kirby gelang. In die Moderne wurde dieser Track aber auch durch den zweiten Keyboarder John Mealing gehievt, der mit seinen Polymoog- und Minimoog-Sequenzen für tolle Kontrapunkte sorgte. Auch das nachfolgende "New Beginnings" folgte dem Konzept der musikalischen Neuausrichtung und Zukunftsorientierteit der Gruppe. Der Song widmete sich dem Umstand, Kinder zu haben, und wie sich dies auf die Persönlichkeit des Menschen auswirkt, wie sich seine Vorstellungen von Verpflichtung und das Setzen von Prioritäten im Leben dadurch verändert und dass man schlussendlich für den ganzen Rest senes Lebens eine andere Vorstellung davon haben werde, wie man mit sich selbst und den Nähsten in seiner Umgebung umgeht. Ein an die Empathie der Menschen appellierender Song ? Das hat durchaus was.
 

Mit dem nächsten Stück "Deadly Nightshade" erinnerte sich Dave Cousins an den früheren Song "Down By The Sea" - zumindest lässt dies das markante Grund-Riff des Stücks erahnen. Sollte man bei diesem Titel allerdings den Eindruck gewonnen haben, dies wäre nun alles Neue gewesen, das die Strawbs dem Zuhörer präsentiert hatten, der musste völlig überrascht sein vom das Album beschliessenden, mystisch-folkrockigen "Words Of Wisdom". Wieder konnte man im Songtext die Zeile "No Return" nachhören, also noch einmal vermittelte Dave Cousins seine Position, nicht mehr zurückblicken, sondern zukunftsorientiert musizieren zu wollen. Dieser düstere, später aber auch recht dramatische und von einem unglaublich erhabenen Arrangement geschwängerte Song gehört für mich persönlich zum allerbesten, was diese Gruppe je gespielt hat. Mächtig zieht sich diese riesige akustische Wolke immer mehr zusammen, nur um sich kurz vor einem heftigen Gewitter einfach zu verabschieden: Die Spannung entlädt sich nicht, sie klingt einfach aus. Ein bemerkenswertes Ende für ein Stück, das sich kontinuierlich auf einen ganz bestimmten Punkt aufbäumt. Dies wiederum war irgendwie symptomatisch für die ganze Platte. Dave Cousins hatte ganz bewusst die neue musikalische Ausrichtung aufgezeigt, liess sich aber trotzdem irgendwie noch ein Hintertürchen offen. Zu gross war seine Enttäuschung über die Erfolge der vergangenen Jahre. Immerhin ist bemerkenswert, dass er sich daduch nie hat entmutigen lassen und immer wieder nach neuen Ausdrucksformen gesucht hat. 

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Songs zu diesem Album in lediglich einer Woche komponiert und eingespielt wurden. Die Band musste trotzdem alle Songs ein zweites Mal aufnehmen, weil die originalen fertigen Bänder einem unbeabsichigten Löschen im Tonstudio zum Opfer fielen. Das Plattenlabel Arista Records, das die Strawbs neu unter Vertrag nahm, hegte grosse Hoffnungen in die neue Platte, veröffentlichte auch einige Singles, reichte die Gruppe von TV-Sender zu TV-Sender wie zum Beispiel der damals sehr populären "Multi Coloured Swap Shop" von Noel Edmonds. Auch organisierte das Plattenlabel eine Promotion-Tour, die Dave Cousins jedoch vorzeitig abbrach und nach England zurückkehte, als er vom plötzlichen Tod seiner ehemaligen Weggefährtin Sandy Denny hörte.

Das Plattencover der "Deadlines" LP wude vom renommierten Hipgnosis-Team realisiert, das für seine Arbeiten für Pink Floyd, Genesis, Paul McCartney, Hawkwind, Roy Harper, Black Sabbath und zahlreiche weitere berühmt ist. Zahlreiche Kritiker äusserten sich damals eher negativ zum Album, sprachen oft und gerne von "Strawbs, die versuchen, nicht wie Strawbs zu klingen". Ich halte das für ziemlichen Blödsinn. Es entsprach dem ebenso innovativen, wie dem aufgrund erfolgsloser vergangener Produktionen entsprungenen Gedanken von Dave Cousins, sich musikalisch weiterzuentwickeln. Das selbstgewählte, nicht aufgezwungene neue Klangbild der Gruppe bescherte den Fans immerhin einige der besten Kompositionen der Strawbs. Erst heute, fast 40 Jahre nach der Veröffentlichung, kann man nachhören, wie zeitlos und unvergänglich Songs wie "The Last Resort", "Words Of Wisdom" oder "I Don't Wanna Talk About It" geblieben sind. Aufgrund der hohen Qualität der Kompositionen und des hervorragenden Klangbildes würde ich persönlich die "Deadlines" zusammen mit dem 1974er Werk "Hero And Heroine" als die beiden besten Strawbs-Platten nach der klassischen folkigen Frühphase bezeichnen.