Mar 1, 2023


PHAROAH SANDERS - Karma (Impulse Records AS-9181, 1969)

"The New Wave Of Jazz" - so warb das Impulse Plattenlabel damals für diese und etliche weitere Jazz-Platten, und das trifft es wahrscheinlich ziemlich genau. Eine neue Welle ging durch die Jazz-Musik, als ab Mitte der 60er Jahre etliche Musiker sich mit experimentellen Facetten in ihrer Musik beschäftigten. Allen voran natürlich Miles Davis, doch auch ein Herbie Hancock stand schon in den Startlöchern. Pharoah Sanders nahm an nur zwei Aufnahmetagen dieses Meisterwerk auf, ging zusammen mit Spitzenmusikern wie dem Sänger Leon Thomas (der für den Text des fast albumfüllenden Stücks "The Creator Has A Master Plan" verantwortlich zeichnete), dem Pianisten Lonnie Listen Smith Jr. und dem Flötisten James Spaulding ins RCA Studio in New York und nahm ein über eine Lauflänge von 32:45 Minuten sich immer wieder aufbauendes und dann wieder in reinster Kakophonie in sich zusammenbrechendes Jam-Meisterwerk auf, das in seiner Intensität noch ein wenig an ähnliche Ausbrüche von John Coltrane erinnern mochte, aber eigentlich schon eine Weiterentwicklung im Bereich Free-Jazz darstellte, weil es neu neben dem Saxophon als tragendes, bestimmendes Instrument, auch Gesang als gleichwertige Ausdrucksform zuliess. Hatte ich bislang als Jung-Jazzer noch ausschliesslich gute Jazz-Alben in meiner eher bescheidenen Jazz-Sammlung, so hatte ich nun den ersten Ueberflieger - quasi das Jazz-Album meines Herzens gefunden. "Karma" erlebte ich beim Hören als unglaublich intensive Musik, mantragleich erst, dann wieder extrem fordernd, wenn die Jams zusammenbrachen. Eine für mich sehr emotionale Hör-Erfahrung und ich begann halbwegs zu begreifen, wie offen und frei neben den popseligen Hippies auch etliche Jazzmusiker in ihren musikalischen Gedanken in den ausgehenden 60er Jahren dachten.

"Karma" enthielt die erste, sehr lange Version von sanders' Meisterwerk "The Creator Has a Master Plan". Das Stück gilt sowohl als die späte Hymne des New Thing in Jazz, als auch als die Beschwörung von Peace und Happiness nach Hippie-Art. "Karma" war das dritte Album von Sanders unter eigenem Namen. Seit dem Tod von John Coltrane 1967 war er vor allem mit Alice Coltrane und dem Jazz Composer’s Orchestra in Erscheinung getreten. Zu Beginn des Jahres 1969 war ihm angeboten worden, seinem Album "Tauhid" von 1966 ein weiteres Album auf dem Impulse!-Label folgen zu lassen. Nachdem er einen Monat vorher das Album "Izipho Zam" in einer grossformatigen Besetzung für das kleine Label Strata-East Records eingespielt hatte, nahm er das Album "Karma" mit einem Nonett beziehungsweise Septett in zwei Aufnahmesessions am 14. und am 19. Februar 1969 auf. Aufgenommen wurde neben den beiden veröffentlichten Stücken noch eine dritte Komposition, "Light Of Love", die jedoch nicht auf dem Album veröffentlicht wurde. Die Musik des Albums geriet teils tonal, teils modal, ging stellenweise in die Tonsprache des freien Jazz über und wies zugleich auch Eigenarten anderer Musikkulturen auf: In den zeitgenössischen Besprechungen wurde besonders auf von der orientalischen Musik angeregte Beschwörungsformeln verwiesen, insbesondere aber auf Afrikanismen: die damals noch ungewöhnliche afrikanisch gefärbten perkussiven Akzentuierung und das afrikanisch geprägte Singen von Thomas. Leidenschaftliche Ausbrüche aus konventionellen musikalischen Strukturen und ein überraschend friedliches, spirituelles und freundliches Spiel wechselten sich ab.

Das Album bewegte sich zwischen den beiden Polen der damaligen Jazzproduktionen: Einerseits orientierte es sich an den relativ (nur wenig im Studio bearbeiteten) spontanen Jam-Session artigen Aufnahmen, wie sie für Alben wie "Free Jazz: A Collective Improvisation" oder "Ascension" typisch waren und die nur wenig im Studio nachbearbeitet wurden; andererseits strukturierte Sanders den Aufbau des Stückes vor und kalkulierte sehr bewusst die Bearbeitungstechniken, die Alben wie "The Black Saint And The Sinner Lady" oder "Bitches Brew" auszeichneten, ein. Nach Ansicht von Trevor MacLaren war "The Creator Has A Master Plan" einer der feinsten und bestausgeführtesten und nachbearbeiteten Jams, die je auf Platte aufgenommen wurden, auch wenn Sanders später Kritik an der Spur-Belegung der Aufnahme äusserte: Saxophon und Bass lagen übereinander und konnten daher nur schwer getrennt wahrgenommen werden. Daher war es zum damaligen Zeitpunkt auch kaum möglich, bei der Nachbearbeitung das Saxophon deutlicher herauszustellen. Leon Thomas wies darauf hin, dass dieses Album eine neue Qualität in den Free Jazz brachte: "Bis dahin waren es die Blasinstrumente, die neue Dimensionen in Klang und Ausdruck erkundeten". Hier jedoch wäre eine Gesangsstimme dem Saxophon gleichgestellt. Sehr früh hat die Kritikerin Gudrun Endress darauf verwiesen, dass erstmals im neuen Jazz der Reichtum der menschlichen Stimme präsentiert wurde: "Die Platte "Karma" zeigt das ganz deutlich im Miteinander und Gegeneinander von Instrument und Stimme".

Im Zentrum von "Karma" stand das am 14. Februar 1969 aufgenommene halbstündige Stück "The Creator Has A Master Plan". Das ausgedehnte Stück hatte Sanders 1968 gemeinsam mit Sänger Leon Thomas, der für den Text verantwortlich zeichnete, geschaffen. Das Thema der Komposition wurde zunächst 1968 von Sanders bei seinen eigenen Auftritten in New York als Erkennungsmelodie gespielt und hiess "Pisces Moon". Teilweise kann die Komposition als eine Variante von John Coltrane's Album "A Love Supreme" begriffen werden, zumal dessen Anfang in dem Stück, das auf den gleichen Harmonien beruht, teilweise aufgenommen wurde. Als Sanders 1968 in Brooklyn Leon Thomas begegnete, der damals mit Randy Weston arbeitete, bat er ihn, für das Stück einen Text zu schreiben. Der ursprüngliche Text von Thomas sagte Sanders jedoch nicht zu, und er bat ihn, etwas Spirituelleres zu schreiben. Angeblich gab es hinsichtlich der Urheberschaft auch Streit und Zerwürfnis. Nach Angaben von Christian Broecking reagierte Pharoah Sanders empfindlich auf die Frage, wer von beiden nun der eigentliche Creator vom Masterplan war. Für "Karma" wurde das Stück zum ersten Mal (am 14. Februar 1969) eingespielt. Das Stück begann direkt mit einer hymnischen Stimmung und intensiven Saxophonausbrüchen, die an Coltrane erinnerten. Dann setzte der Bass ein und spielte ein Riff, das aus dem ersten Teil von "A Love Supreme" stammte. Die Flöte stellte das auf zwei Akkorden beruhende Thema von The Creator vor, über das dann das Saxophon, getragen von den weiteren Instrumentalisten improvisierte.

Erst nach beinahe acht Minuten setzte die Stimme von Leon Thomas ein, der einzelne Zeilen des Liedtextes wie ein Mantra vortrug und dann in Jodeltechnik Scat sang, bevor Sanders wieder eine hymnische Stimmung erzeugte. Dann begann ein zweiter Durchgang durch das Stück mit einigen Ausbrüchen von Sanders in seinen emotionell betonten Improvisationen. Ab der Mitte des Stücks entwickelte sich dann eine freie und sehr intensive Improvisation, bei der auf durchlaufende Harmonien verzichtet wurde. Der Jodelscat von Leon Thomas entwickelte sich zu beeindruckend wilden Fluktuationen von Knacklauten und dahinfliessenden Worten. Auf der zweiten Plattenseite, auf der das Stück fortgesetzt wurde, entwickelte sich eine typische Free Jazz-Climax, aus der Sanders mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit für musikalische Übergänge zurück in den Bereich der Ruhe und Ausgeglichenheit führte, wenn etwa vier Minuten vor Schluss nach Art einer Reprise das Thema wieder auftauchte: Ein Sturm ebbt langsam ab und zurück bleibt der Mensch in einer veränderten Welt. Es ist der Wille des Schöpfers, dass jeder in Glück und Frieden lebt. Trotz der Nonettbesetzung und Leon Thomas’ warmen Gesangs war Sanders der eigentliche Solist, der beinahe die gesamte Länge des Stückes über die Hauptlast von Melodieführung, Struktur und Improvisation trug. Mit seinem Ensemble erzeugte er ein breites Stimmungsspektrum, das über weite Strecken sehr lyrisch ist und viele Anklänge an Coltrane's spirituelle Phase enthielt, andererseits aber auch Ausbrüche aufwies. Sanders schien der Sekretär der Geister zu sein, der bescheidene Umspanner ihrer Energien.

Das zweite Stück "Colors", für das ebenfalls Sanders und Thomas als Urheber zeichneten, wurde am 19. Februar 1969 aufgenommen; das Ensemble war kleiner, weil auf die Klangfarben von Flöte und zusätzlicher Perkussion verzichtet wurde, und es gab auch Abweichungen in der Besetzung der Rhythmusgruppe. Trotz des naiven Textes wirkte diese Komposition wie eine glaubhafte Fürbitte, was die spirituelle Grundströmung des Albums weiter unterstrich: "Gott schickt uns seinen Regenbogen, und ich sehe seine Farben. Ohne ihn gibt es keine Harmonie", hiess es im Songtext von Leon Thomas. Dieses Stück wurde wohl mit Bedacht als besinnlicher Ausklang als zweites Stück angefügt; auch bei der Interpretation dieses Stücks wurden die Ausdrucksmittel gewählt, die schon John Coltrane gebrauchte. Das Album erreichte Platz 5 der US-amerikanischen Jazz-Charts und Platz 188 der amerikanischen Billboard-Charts im Bereich der populären Musik. "Karma" verkaufte sich besser als manches Rockalbum. Der ökonomische Erfolg von "Karma" brachte Sanders einen festen Plattenvertrag mit ABC-Paramount Records ein, der Mutterfirma von Impulse Records. Das Musikmagazin Rolling Stone wählte das Album 2013 in seiner Liste 'Die 100 besten Jazz-Alben' auf Platz 4.

 "The Creator Has A Master Plan" läuft bei mir immer über die volle Lauflänge, und es kommt mir nie so vor, als hätte ich am Ende grad tatsächlich über eine halbe Stunde Musik gehört. Ich höre hin, ich höre weg, und wieder hin und dann wieder weg...das Stück vereinnahmt mich völlig - bis zu dem Moment, wo ich merke, dass dieses ganze Aufbauen und wieder zusammenbrechen in gewaltigem Getöse ein bisschen vielleicht auch den Zustand unserer Welt reflektiert. Der Mensch baut ohne Unterlass auf, treibt sich selbst unaufhaltsam vorwärts und wie von Sinnen und ohne zu hinterfragen alles auf die Spitze - und am Ende fällt alles mit gewaltigem Getöse auseinander. Immer und immer wiederholt sich das, Jahrtausende lang schon. "The Creator Has A Master Plan". Vermutlich hofft er, dass der Mensch irgendwann einmal zur Vernunft kommt. 

The creator has a master plan
peace and happiness for every man.
The creator has a working plan/peace and happiness for every man.
The creator makes but one demand
happiness through all the land.

Der Schöpfer hat einen Meisterplan:
Friede und Glück für Jedermann.
Der Schöpfer hat einen Arbeitsplan:
Friede und Glück für Jedermann.
Der Schöpfer stellt nur eine Forderung auf:
Glück soll sein im ganzen Land.

Musik, die nicht von dieser Welt ist, und ein bemerkenswertes Album, das zeigt, was alles möglich und erlebbar wird, wenn man sich selbst als Künstler keine kreativen Schranken auferlegt.



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