Oct 12, 2016

OUGENWEIDE - Herzsprung (Grosse Freiheit Records BB053, 2010)

"Herzsprung" war das zehnte Studioalbum der deutschen Folk Rockgruppe Ougenweide. Es erschien am 23. April 2010 unter dem Label Grosse Freiheit Records. Die Idee für diese CD entstand mit der Begegnung des Gründungsmitgliedes Frank Wulff-Raven und der Schauspielerin und Sängerin Sabine Maria Reiss  im Jahre 2000, konnte aber lange nicht umgesetzt werden. Die Kompositionen sind von Frank Wulff-Raven, während Sabine Maria Reiss  Texte aus mehreren Jahrhunderten und verschiedenen europäischen Ländern aufspürte und teilweise aus dem Englischen ins Deutsche übertrug. Das Album erschien zum 40-jährigen Bandjubiläum und war das erste Studioalbum nach 14 Jahren. Von den Gründungsmitgliedern der Band wirkten der Sänger und Perkussionist Olaf Casalich und die Brüder Frank und Stefan Wulff mit, dazu die Sängerin Sabine Maria Reiss, der Gitarrist Hinrich Dageför, der Schlagzeuger Martin Engelbach und der Klarinettist und Akkordeonist Krzysztof Gediga. Als Gastmusiker waren Ferdinand von Seebach (Posaune), Leonie Wulff (Gesang) und Angelika Bachmann (Violine) bei einigen Stücken zu hören.

Auf dem Album "Herzsprung" werden Instrumente wie Gitarre, Bass und Schlagzeug verwendet, aber auch so ungewöhnliche Instrumente wie Tritonshörner, Kinsho Koto, Dutar, Clavioline, Monochord, Launedda, Fiedel, Nyckelharpa und Waldoline. Fast alle dieser Instrumente werden von Frank Wulff-Raven gespielt. Beim Titel "Ein leis und traurig Lied", dessen Text Maria Stuart zugeschrieben wird, sind einige der im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gesammelten Musikskulpturen der französischen Brüder Baschet zu hören. Die CD eröffnet mit dem Prolog "Tritons Ruf", einem auf Meerschneckentrompeten geblasenen Stück, das in das namensgebende Instrumentalstück "Herzsprung" übergeht. Es folgt ein Heilungssegen aus dem 10. Jahrhundert, betitelt "Phol ende Uuodan", von Olaf Casalich gesungen. Textvorlage ist der zweite Merseburger Zauberspruch. Damit knüpft man an eine erfolgreiche Ougenweide-Nummer an. "Ein leis und traurig Lied", in dem Maria Stuart als 18-Jährige den Tod ihres Gatten, François II. beklagt, wird von Sängerin Sabine Maria Reiss interpretiert.

Mechthild von Magdeburg, eine der wenigen Minnesängerinnen des 13. Jahrhunderts, beschreibt in ihrem Gedicht "Dy Minne" die Macht der Liebe, die am Jüngsten Tage in der Waage schwerer wiegen wird als die gesamte Erde. Die Musik wurzelt im französischen "Une jeune fillette". Christina Rossetti, Schwester des Malers Dante Gabriel Rossetti, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Künstlergruppe der Präraffaeliten gründete, ist mit mehreren Texten auf dem Album vertreten. Das Stück "Einem Lieben" basiert auf zwei Rossetti-Gedichten, die Sabine Maria Reiss ins Deutsche übertrug und zu einem Text zusammenführte. Es folgt mit "Uisk flo aftar themo uuatare" ein Text aus dem 10. Jahrhundert in Altsächsisch, ein Heilungsgebet für ein Pferd. Der "Dansa joioza", ein provenzalisches Tanzlied nach dem Text des Trobadorliedes "A l’Entrada", erzählt von der frühlingshaften Aprilkönigin, die über den eifersüchtigen Winterkönig obsiegt. Nach Christina Rossetti's "Lilien & Rosen" über die Vergänglichkeit der Schönheit folgt ein Tanz- und Liebeslied in altem Italienisch, genannt "Ella Mia".

Hans Neusidler's "Der welsche Tanz", für Knickhalslaute im frühen 16. Jahrhundert komponiert und von Ougenweide schon einmal für das Album "Eulenspiegel" im Jahre 1976 erstmals bearbeitet, leitet über in ein Lied aus dem Glogauer Liederbuch (um 1470), "Ich sachs eins mals", ein kurzer Text über die Liebe und die Endlichkeit allen Lebens. Das dritte Stück nach einem Rossetti-Gedicht ist "Echo". Es handelt von der Liebe, die über den Tod hinausgeht. Es führt nahtlos über in das Lied "Partite Amore", ein Abschiedslied, mit dessen Text der Notar Nicholaus Phylippi im Bologna des 13. Jahrhunderts ein Dokument fälschungssicher gemacht hat. Die Platte "Herzsprung" endet mit dem Epilog, einem kurzen Instrumentalstück für Tritonshörner und Kinderklavier. Frank Wulff-Raven verstarb am 19. März 2010, nur wenige Wochen vor der Veröffentlichung des Albums. Am 4. Juni 2010 gab Ougenweide ein Konzert zur Veröffentlichung des Albums, bei dem Wulff-Raven's Part von drei Musikern übernommen wurde. "Herzsprung" wurde auf den „Babyblauen Seiten“ eine durchgehend „elegische Stimmung“ nachgesagt. Besonders die Leistung der Sängerin Sabine Maria Reiss wurde gelobt, die Musik als artifizieller Folkrock bezeichnet, das Stück "Ein leis und traurig Lied" erhielt das Prädikat Art-Pop.


Das Album "Herzsprung" ist mit Sicherheit das nachdenklichste und poetischste Werk in der Ougenweide-Diskografie. Es trägt vor allem die Handschrift des verstorbenen Multi-Instrumentalisten Frank Wulff, der den Sound von Ougenweide 40 Jahre lang massgeblich mitgeprägt hat. Man hört ihn auf ganz vielen Instrumenten aus aller Welt noch einmal grandios musizieren. Ougenweide knüpften hier an ihre grosse Zeit in den 70er Jahren noch einmal eindrücklich an, verleugneten aber auch nicht die Jahre, die dazwischen lagen. Olaf Casalich, ein weiterer Veteran aus der Anfangszeit der Gruppe, trumpfte mit zwei grandios gesungenen Vertonungen von althochdeutschen Texten aus den Merseburger Zaubersprüchen auf, und auch die Sängerin Sabine Maria Reiss zeigte sich erfreulich vielseitig. Vom traurigen Minne-Lied über Chanson-Anklänge bis hin zur Italo-Pop-Hymne, die Ougenweide aus einem mittelalterlichen Tagelied gemacht hatten, reichte das Spektrum auf diesem überzeugenden Album. Am Ende des Begleitheftes zur CD steht geschrieben: "Das Leben ist schön". Musik wie diese sorgt dafür, dass man das auch wirklich glauben kann.



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