Mar 30, 2023


DREAM THEATER - Octavarium (Atlantic Records 83793-2, 2005)

Nachdem die Progmetaller von Dream Theater mit dem eher harten Vorgängeralbum "Train Of Thought" in Richtung Trash Metal gefahren waren, kehrten sie mit ihrem achten Album "Octavarium" wieder zu einem deutlich progressiveren Stil zurück, der in mancherlei Hinsicht auch ein grosser Schritt vorwärts bedeutete. Zum einen arbeiteten Dream Theater für dieses Album erstmals mit einem kompletten Orchester zusammen, was für die Band noch ungewöhnlich, im progressiven Rock allerdings durchaus bekannt war und ist. "Octavarium" war auch das letzte Album, das Dream Theater auf dem Plattenlabel Atlantic Records herausbrachte, nachdem die Gruppe während insgesamt 14 Jahren bei der Firma unter Vertrag gestanden hatte. Zu guter Letzt war es auch das letzte Werk, das die Band im Hit Factory-Studio in New York aufgenommen hatte, denn kurz nachdem die Band die Aufnahmen beendet hatte, wurde dieses geschichtsträchtige Studio für immer geschlossen. Gemessen an den üblichen kommerziellen Erfolgen von Veröffentlichungen einer progressiven Rockband war Dream Theater's "Octavarium" nachgerade ein Ueberflieger: Das Album erreichte in vielen Ländern Spitzenpositionen in den Charts, so etwa die Top 5 in Finnland, in Italien und in Schweden, sowie die Top Ten in Polen, den Niederlanden, in Norwegen und in Japan. Ein Thema, das sich auf verschiedenen Ebenen durch das gesamte Album "Octavarium" zog, war die Oktave, und damit zusammenhängend die Zahlen 8 und 5. Eine Oktave ist ein Intervall von acht Tonstufen, und Fünf ist die Anzahl der Halbtöne innerhalb einer Oktave (die schwarzen Tasten auf dem Klavier). Der Grund für dieses Konzept könnte darin liegen, dass es sich bei "Octavarium" um das achte Studioalbum der Band handelte.

Auf die Acht, respektive auf die Oktave wurde schon im Albumtitel angespielt, aber auch die Anzahl der Songs in dem Album betrug acht. Die Tonarten, in denen die Songs geschrieben worden waren, sämtliche im übrigen in der Tonart Moll, umfassten ebenfalls genau eine Oktave: Der Beginn erfolgte in "f", daraufhin erklangen in aufsteigender Reihenfolge "g", "a", "h", "c", "d", "e" und schliesslich wieder "f". Dazu passend war auf der Rückseite der CD-Hülle ein mit "f" beginnender Abschnitt einer Klaviertastatur angedeutet, der eine Oktave umfasst, und auf der die Songtitel auf die jeweils dem Grundton der Tonart entsprechenden Taste gedruckt sind. Auch die acht Kugeln und die fünf Vögel auf dem Albumcover liessen sich als weisse und schwarze Klaviertasten deuten, die von einem "f" zu dem darüberliegenden "f" gingen. Zahlreiche weitere, mehr oder weniger versteckte Hinweise auf die Oktave, respektive auf die Zahlen Acht und Fünf wurden in die Stücke selbst, in ihre Songtitel und in die Illustrationen im Booklet eingebaut. Ein weiteres Thema des Werks war die Zirkularität aller Dinge: Der Gedanke, dass sich die Geschichte im Kreis bewegt und alles irgendwann wiederkehrt, so wie der Endpunkt eines Oktavenintervalls zugleich der Anfangspunkt des nächsten ist. Dies drückte sich unter anderem im Tonartenschema des Albums aus, das von "f" zu "f" führte, oder darin, dass das Album mit derselben Note begann, mit der auch das Vorgängeralbum "Train Of Thought" endete. Neben expliziten Erwähnungen des Themas in den Texten fanden sich auch zahlreiche textuelle und musikalische Anspielungen auf frühere Songs von Dream Theater selbst und von anderen Bands. Auch in den Illustrationen kam dieses Thema vor, unter anderem im immer wieder zurückschwingenden Kugelstosspendel auf dem Cover.

Ursprünglich sollte das Album "Octave" betitelt werden, aber als die Progressive Rockband Spock’s Beard Anfang 2005 ihr ebenfalls achtes Album "Octane" herausbrachte, beschloss Dream Theater den Albumnamen mehr von diesem zu differenzieren. Nach Ankündigung des Namens "Octavarium" gab es unter den Fans viele Spekulationen, was dieser Titel bedeuten könnte. Sprachwissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei "Octavarium" um ein lateinisches, respektive aus dem Lateinischen entlehntes Wort, bestehend aus dem Wortstamm Octav- (von octavus = "der achte" bzw. octava = "die achte", davon abgeleitet "die Oktave") und dem Suffix -arium (Neutrum von -arius), dessen Grundbedeutung "...betreffend" ist. Die wörtliche Bedeutung von "Octavarium" kann also ungefähr mit "das Achte betreffend" oder "Oktaven betreffend" umschrieben werden, was gut zum Konzept des Albums passt. Mit dem erwähnten Suffix gebildete Wörter sind im Lateinischen Adjektive, die aber auch oft substantiviert werden. In letzterem Falle wird das Hauptwort nicht genannt, sondern muss aus dem Kontext geschlossen werden (hierzum Beispiel "... betreffendes Album" oder ähnlich). Das Wort "Octavarium" existierte schon im nachklassischen (spätantiken) Latein und bezeichnete damals eine Steuer in Höhe von 1/8 (wörtliche Bedeutung in diesem Fall: "den achten Teil betreffende Steuer"). Als Werktitel kam das Wort auch im "Octavarium Romanum" ("Römisches Octavarium") vor, einem die katholische Liturgie behandelnden Buch aus dem Jahr 1628 ("liturgische Oktaven betreffendes Buch"). Ob diese zeitlich weit zurückliegenden und inhaltlich abgelegenen Verwendungen des Wortes einen Einfluss auf den Namen des Dream Theater Albums hatten, sei dahingestellt. Die auf Internetforen weit verbreitete Auflösung des Namens in octa + varium mit der angeblichen Bedeutung "acht Variationen" ist grammatikalisch jedenfalls nicht korrekt (was natürlich nicht ausschliesst, dass Dream Theater theoretisch auch eine solche Deutung vorgeschwebt haben könnte).

Denkt man nun musikalisch betrachtet beispielsweise an die sehr gute, aber eher untypische Platte "Six Degrees Of Inner Turbulence" (CD 1), oder das zuvor veröffentlichte Album "Train Of Thought", oder aber das kitschige Gesamtwerk der zweiten CD von "Six Degrees Of Inner Turbulence", so fiel einem immer wieder die Variationsfähigkeit der Gruppe Dream Theater auf. Auch hier liess sich die Gruppe neben dem bedeutungsschwangeren inhaltlichen Gesamtkonzept in musikalischer Hinsicht etwas spektakulär Neues einfallen, insbesondere durch die Mitarbeit eines kompletten Orchesters. Aber nicht nur das. Auch immer mehr und deutlich hörbare Reminiszenzen an die Mitt-70er Pink Floyd Sphärenmusik hielten Einzug in die Arrangements der Songs. Insbesondere der überlange Einstieg in das sich über 24 Minuten erstreckende Titelstück "Octavarium" erinnerte an die Einleitung von Pink Floyd's "Shine On You Crazy Diamond"-Thema der Platte "Wish You Were Here". Aehnlich wie die Entwicklung bei anderen progressiven Rockbands wie etwa der Flower Kings, konnte man auch bei Dream Theater einen immer stärker werdenden Hang hin zum symphonischen Wohlklang vernehmen, der gerade hier auf "Octavarium" erstmals so üppig zum tragen kam.

Das erste Stück des Albums, "The Root Of All Evil" folgte den thematischen und auch musikalischen Konzepten der früher veröffentlichten Songs "The Glass Prison" und "This Dying Soul". Letzteres wurde sogar auch im Song zitiert. Gleich am Anfang gab die Band um John Petrucci alles: Mike Portnoy spielte ein absolut dynamisches, vorwärtspreschendes hartes Drumming, Keyboarder John Myung lieferte erstklassige Keyboard-Passagen und JohnPetrucci leistete gitarristische Schwerstarbeit. James LaBries' Stimme war dem Song deutlich besser angepasst als bei den beiden zuvor veröffentlichten Alben der Gruppe. "The Answer Lies Within" war die Ballade des Albums und meiner Meinung nach die beste seit dem Werk "Scenes From A Memory". Aufgelockert wurde der Song deutlich durch den leichten orchestralen Bombast. "These Walls" war unbestritten der grosse Ohrwurm des Albums: So locker und eingängig hatte man die Band bis dato eher weniger gehört, doch inzwischen gehörten eingängige, fast schon poppige Melodien fest zum Repertoire der Gruppe. Schnell fiel indes auf: Wenn Dream Theater versuchten Bombast einzubauen, gelang ihnen das grundsätzlich immer. Besonderes Lob galt in diesem eher verklärten, leicht melancholisch wirkenden Song deutlich Rudess und seinem Keyboard, aber auch James LaBrie sang hier so schön wie selten zuvor. Besonders bei der sich stetig aufbauenden Bridge, die in einem wohlarrangierten Amalgam aus den Zutaten Petrucci, Rudess und vor allem Portnoy endete, war Gänsehautstimmung garantiert.

Der nächste Song "I Walk Beside You" reihte sich in Werken wie "Innocence Faded" oder "You Not Me" ein, schlug aber vor allem Zweitgenanntes mühelos. Eine Nummer, die auch locker als Single hätte erscheinen können, doch Dream Theater wären nicht Dream Theater, wenn man nicht etwas mehr als simple Radiokost erwarten durfte. Besonders Jordan Rudess gab diesem Track kurz vor den Refrains einen sehr schönen Touch und John Petrucci verstand es grandios, mit seinem einladenden Gitarrenspiel hervorzustechen, selbst wenn ein anderes Instrument oder James LaBrie im Vordergrund standen. Insgesamt eine für Dream Theater eher untypische, radiotaugliche Nummer. "Panic Attack" wiederum fing mit Myung's Bass-Spiel an und mündete in ein brachiales Gewitter, das durch das kraftvolle Schlagzeugspiel von Mike Portnoy dominiert wurde. Hört man diesen Song, wird man wieder an die früheren Progmetall-Zeiten der Gruppe erinnert, die noch immer da waren, wenn auch nicht mehr hauptstilbildend, jedenfalls nicht auf "Octavarium". "Panic Attack" war eines der technischsten Lieder des Albums, erneut dominiert von Myung's Bass, dem pfeilschnellen Schlagzeugspiel Portnoy's und einem selten so aggressiv aufspielenden John Petrucci. Immer wieder drängelte sich Rudess in den Song ein, bombardierte den Hörer mit schnellen Keyboardpassagen. Und, was ganz schön ist, es gab ein superbes Petrucci-Solo. Insgesamt eines der wutentbranntesten, verrücktesten Werke der Gruppe Dream Theater. Der Titel "Never Enough" begann mit einem gedämpften Bass, bevor Petrucci und Portnoy einstiegen. Rudess und eine leicht verzerrte LaBrie-Stimme folgten. Der Song gewann mit der Zeit immer mehr an Dramatik, bevor er nach dem Refrain wieder von der Gitarre und dem Schlageugspiel auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. "Never Enough" war eine weitere Uptempo Nummer, allerdings nicht so hämmernd wie "Panic Attack".

"Sacrified Sons" begann ähnlich wie damals "The Great Debate" mit einigen Stimmfetzen, während sich im Hintergrund langsam etwas anbahnte. Doch statt dem erwarteten Ausbruch von Portnoy oder Petrucci, begann der Song eher recht ruhig und balladesk mit Rudess und LaBrie. Eine Spannung lag aber deutlich spürbar in der Luft. Und tatsächlich: Myung zupfte hart am Bass und zusammen mit Petrucci liessen sie den zweiten Teil des Songs schon ganz anders aussehen. Auch Portnoy wurde etwas wilder, während Rudess kaum noch und LaBrie gar nicht mehr zum Zuge kam. Dann setzte auch wieder das Orchester ein und trieb "Sacrificed Sons" in Höhen wie man sie von Dream Theater erwartet hatte. Etwas in dieser Art hatte man zuletzt auf dem Album "Scenes From A Memory" hören können. Am Ende kam noch einmal James LaBrie zum Einsatz, und der trieb zusammen mit dem Orchester und dem gesamten Team den bereits gehörten ersten Teil des Songs zum Ende. Ein episches Werk, in der Tat.

Mit dem 24 Minuten langen Titelstück "Octavarium" stand am Ende dieses berauschenden Werks noch der Longtrack und insgesamt sicherlich auch der Höhepunkt des Albums auf dem Programm. Ein zweites "A Change Of Seasons" durfte man nicht erwarten, aber auch glücklicherweise kein "Six Degrees Of Inner Turbulence" (CD 2), auch wenn „Octavarium" oftmals an die Ouverture jenen Albums erinnerte. Zu sagen gab es hier eigentlich nur: ein musikalisches Abenteuer, das trotz seiner Länge und der Tatsache, von Dream Theater in Szene gesetzt worden zu sein, flott ins Gedächtnis ging, kurzweilig und eingängig geriet, ein quasi 24 Minuten langer Ohrwurm, wie ihn eigentlich nur Dream Theater präsentieren konnten. Das fing beim elegischen Gilmour-inspirierten Gitarrenintro an, endete irgendwann in einem Mix aus perfekter Instrumentbeherrschung und Orchester, und brachte zwischendurch auch mal ein "Scenes From A Memory" Zitat, nämlich eines aus "The Dance Of Eternity". Insgesamt war dieser lange Titeltrack zwar facettenreich, doch es überwogen deutlich die balladesken Aspekte. Das passte LaBrie natürlich gut, war er doch eher für die ruhigen Töne geeignet. Es war fast schon so, als wollten Dream Theater ihren perfekten Song schaffen und keine Risiken eingehen. Das war ihnen am Ende hervorragend gelungen, aber ob es perfekt war, sollte man nicht zu diskutieren brauchen. "Octavarium" war ein absoluter Ueber-Song, der einem am Ende sprachlos hinterliess. Und noch eines fiel auf: Wenn der Titelsong zu Ende ging, hatte man nicht den Eindruck, einem 24 Minuten langen Stück gelauscht zu haben. Ein ganz besonderes Hörerlebnis. Für Dream Theater Fans war dieses Werk ohnehin Pflicht. Zu schön um wahr zu sein: weder Fans der ersten Stunde, noch "Train Of Thought"-Neulinge wurden hier enttäuscht. Doch "Octavarium" war letztlich kein zweites "Images And Words" oder gar ein "Awake". "Octavarium" war schlicht "Octavarium" und reihte sich mit seiner Eigenständigkeit, seiner Modernität und den musikalischen Innovationen perfekt in die Reihe ihrer Meisterwerke ein.


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