LEE RANALDO - Between The Times And The Tides
(Matador Records OLE-980-1, 2012)
Zählt man einmal alle Alben, auch jene, die durch Kollaborationen mit anderen Musikern entstanden sind, zusammen, so war dieses Werk aus dem Jahre 2012 Lee Ranaldo's insgesamt 28. Album ausserhalb seiner Stammband Sonic Youth! Trotzdem dürfte der Musiker bis heute ein gutgehüteter Geheimtipp geblieben sein, jedenfalls für Jeden, der sich nicht mit den brillianten Sonic Youth einmal befasst hat. Bei diesem Soloalbum des legendären Gründungsmitgliedes von Sonic Youth lag der Fokus erstmals deutlich beim klassischen Songwriting. "Between The Times And The Tides" war ein wundervolles Geflecht melodisch-schillernder Rocksounds. Seit dem Frühling 2010 komponierte Ranaldo eine zunächst lose Reihe von Akustiksongs. Als es an der Zeit schien, diese Stücke aufzunehmen, ging er mit Produzent John Agnello, dem langjährigen Begleiter seiner Hauptband ins Studio. Erst dort entwickelten sich die Stücke, auch dank des Besuchs einiger befreundeter Musiker, zu ihrer endgültigen Form. Die für Ranaldo typischen, individuell gestimmten Gitarren, bestimmten zwar auch hier das Klangbild, wurden aber bei jedem Song von Nels Cline’s (Wilco) brillanter Arbeit an der Leadgitarre verstärkt. Ergänzt wurde das Allstar-Lineup von Steve Shelley (Sonic Youth) am Schlagzeug, dem Gitarristen und Komponisten Alan Licht und der Jazz-Ikone John Medeski an den Keyboards. Gastauftritte gab es unter anderem vom früheren Sonic Youth-Schlagzeuger Bob Bert, sowie von Jim O’Rourke. "Between The Times And The Tides" geriet komplex, souverän und entspannt zugleich. Das beschwörte bisweilen den Geist einiger grosser Acts der alternativen Rockgeschichte herauf, klang andererseits aber so frisch und entschieden nach vorn, dass man nur darüber staunen konnte, was für eine phantastische, neue Band sich da im Verborgenen zusammengefunden hatte. Die Songtexte drehten sich vornehmlich um Ranaldo's Kindheit und Jugend und machten "Between The Times And The Tides" auch textlich zu einer eingängigen und faszinierenden Song-Sammlung eines der prägendsten Rockgitarristen unserer Zeit, den fast niemand kennt.
Es wäre vermessen zu behaupten, man hätte Sonic Youth's Lee Ranaldo ein solches Meisterwerk im Alleingang nicht zugetraut, und doch traf den Zuhörer "Between Times And The Tides" derart unverhofft, dass dieses Album sämtlichen Superlativen gerecht wurde. "The first rock album from Lee Ranaldo", prangte ein Sticker auf der Hülle von "Between Times And The Tides" und zählte sogleich die Mitwirkenden auf; unter anderem das Sonic Youth-Teilzeitmitglied Jim O'Rourke, der seinerseits nicht gerade dafür bekannt war, Rockalben klassischer Ausprägung aufzunehmen, sondern bislang eher der Avantgarde verschrieben war. Skepsis war jedoch nur so lange angebracht, wie es dauerte, sich anhand des fulminanten Openers "Waiting On A Dream" eines Besseren belehren zu lassen: Schon hier wurde die feine Psychedelik der Platte kredenzt, die Gitarren in einem angenehmen Mahlstrom verfrachtet und Ranaldo's markante Stimme legte sich wie ein flüsternder Schleier darüber. Die Überraschung war perfekt und vor allem: gelungen. Der wackere Songwriter war im Kreise seiner Stammformation Sonic Youth zwar schon für das Lyrische und Komplexe bekannt, aber man bekam stets das Gefühl, wären seine Kollegen Kim Gordon und Thurston Moore nicht, die Band würde sich in Soundexperimenten verlieren. Nicht so "Between Times And The Tides": Aufgenommen mit einer Vielzahl an Mitstreitern, die Ranaldo bereits mehrfach für Soloaktivitäten rekrutierte, waren die Songs direkt auf den Punkt gespielt. "Off The Wall" zitierte im Titel nicht nur Michael Jackson's bestes Album, es war zugleich der tollste Popsong, den R.E.M. dann doch vergassen aufzunehmen.
"Xtina As I Knew Her" und "Shouts" zeigten sich hingegen als Rock-Standards und liessen die Gitarren aufheulen. Selbst die ruhigeren Nummern "Hammer Blows" und "Stranded" versuppten nicht im Soundbrei, sondern waren konzentrierte Beobachtungen eines Menschen, der in seinem Leben nicht alles, aber schon ziemlich viel gesehen hat. Lee Ranaldo adelte sich mit der Platte schlichtweg selbst und während Moore und Gordon ihre Scheidung rechtskräftig machten, war ihm ein Rundumschlag gelungen, der selbst nach mehrmaligem Hören neue Facetten preisgeben konnte. Ob dahinter ein Konzept oder Wille zu kommerzieller Aufmerksamkeit steckte, lässt sich nur vermuten und doch gefiel sich "Between The Times And The Tides" darin, die Erwartungen ad absurdum zu führen; ihnen ein wunderbares Ergebnis hintenanzustellen. Eine sanft modulierende Keyboard-Fläche, dann eine aus vier Tönen bestehende, einmal die Tonleiter hoch, wieder hinunter und nochmal halb hinauf springende lakonische Kinderlied-Melodie, dann ein extrem gut abgehangenes Halb-Riff, die Band stieg ein, und Lee Ranaldo sang: "Comin' in from Colorado, Taking a late night Jet out of the snow" und da war er, dieser verführerisch dramatische, coole Sog, der einem die Nackenhaare aufstellte, den Blick leerte und die sofortige Bereitschaft erzeugte, sich in die Welle fallen zu lassen, denn man wusste: Sie trägt. Sonic Youth hatten ebenfalls unzählige solcher Momente im grossen, reichen Katalog ihrer Musik. Bei Sonic Youth war Lee Ranaldo das tief braunäugige und subtil silberblickende Pendant zu Thurston Moore's extrovertierter New York-Nerdness. Die von ihm gesungenen Songs, und das waren pro Sonic Youth-Album selten mehr als einer oder zwei, berührten dank des sonoren Baritons immer mit einer charismatischen Präsenz und etwas In-sich-Ruhendes, auch im kakophonischsten Feedback-Gewitter.
Davon wiederum gab es auf "Between The Times And The Tides" so gut wie gar nichts zu hören. Bei Sonic Youth brachten Ranaldo und Moore surreale Soundskulpturen zum flirren. "Between The Times And The Tides" klang dagegen wie moderner Independent Rock amerikanischer Prägung. Der Vergleich mit Wilco wurde schon an anderer Stelle erwähnt, und passenderweise spielte hier neben Alan Licht Wilco's Nels Cline eine ziemlich prominente Gitarre. Steve Shelley am Schlagzeug hatte geradezu etwas Rührendes, denn er hatte auch schon auf den Rock-orientierteren Solo-Alben von Thurston Moore getrommelt. "Wen soll man denn sonst nehmen ?" werden sich ohnehin viele Fans gedacht haben, schliesslich machte man seit fast 20 Jahren zusammen Musik. Aber auch der frühere Sonic Youth-Schlagzeuger Bob Bert kam zum Einsatz; daneben Jim O'Rourke als üblicher Verdächtiger und ehemaliges fünftes Rad am Sonic Youth-Wagen sowie als ganz besondere Ueberraschung der mit Jazz-Hintergrund ausgestattete John Medeski, dessen Hammond-Orgel sich fast überall unter die Gitarren legte und den detailreichen Soundteppich erst so richtig dickflüssig machte. Musik zum darin schwelgen. Den sympathisch understated'en Liner Notes des Albums konnte man entnehmen, dass alle 10 Songs auf der akustischen Gitarre geschrieben worden waren und die Elektrifizierung erst später stattfand. "Stranded" und "Hammer Blows" basierten auch in ihren endgültigen, hier zu hörenden Versionen auf kontrolliert gespielten Westerngitarren, und vor allem "Hammer Blows" ging dabei sehr ans Herz: Ein Song übers Abschiednehmen, übers Loslassen, vielleicht auch über das Scheitern einer Beziehung, deren einer Teil immer wieder "on the road" war. "Shine up your nails, feel the wind in your sails" sang Lee Ranaldo abschliessend, der Schlussakkord ertönte, und Ranaldo klopfte arhythmisch auf den Gitarrenkorpus, sodass das Instrument dröhnend resonierte und man den Atem anhielt; nicht der einzige Neil Young-Moment auf dieser Platte: Auch der Refrain von "Xtina As I Know Her" erinnerte in seiner Zwei-Akkord Einfachheit an Young. Die Strophen dagegen blieben auf einem Ton und gewannen ihren harmonischen Reichtum allein durch die Texturen, die aus dem Zusammenspiel der Gitarren entstanden. Hypnotisch und abgründig.
Auf dem Textblatt dazu die typische Sonic Youth-Schreibe: "Xtina", und "your" wurde mit "yr" abgekürzt. Man kannte das alles, und die farbenfrohen Fotos erinnerten beinahe an das Innencover von "Goo", Sonic Youth's Mainstream-Durchbruch von 1990. "Off The Wall", was für ein fluffiger Indie-Hit. "Lost" klang fast wie eine poppige Bob Mould-Nummer. Und am Ende kam ein Song namens "Tomorrow Never Comes": Stark synkopierter Rhythmus und eine lässig angeschlagene elektrische Gitarre, ein Akkord, dazu dronengleiche Feedback-Sounds und Rückwärtsspuren, die fast wie Tape-Loops klangen: eine Beatles-Reminiszenz, genauer gesagt ein Tribut an "Tomorrow Never Knows". Später erhielt der Song doch noch einen richtigen Refrain, aber der Einfluss war klar zu erkennen. "Shouts" hingegen war vielleicht der am meisten an Sonic Youth erinnernde Song auf "Between The Times And The Tides". Er präsentierte einen längeren C-Teil mit gesprochenen Passagen, die gerade eben durch den Krach der Instrumente hindurch drangen. Der Text wurde inspiriert durch ein Foto, auf dem im Mittelgrund ein Paar zu sehen war, das engumschlungen auf dem Asphalt lag. Er küsste sie. Im Vordergrund stand ein Polizist in Kampfmontur, im Hintergrund sah man die Rücken seiner Kollegen. Den Blicken des Betrachters entzogen: Der Riot in Vancouver, den die Ordnungskräfte im Zaum halten sollten und der sich 2011 nach einem Eishockeyspiel entzündete. Nein, kein Song über Eishockey-Riots. Vielmehr hatte Ranaldo beim Schreiben des Songtextes an die "Occupy Wallstreet"-Bewegung gedacht, in der er sich auch selbst engagierte. Und so entstand ein Song über die globale Protestwelle aus der partikularen Sicht dieses Paares. Dass es sich dabei in der Realität am Ende eben nicht um ein Liebespaar handelte, sondern darum, dass sie verletzt und ausser Kontrolle war und er versuchte, sie herunterzubringen, indem er sie umarmte und küsste - nun, das fällt wohl in die Kategorie "Missverständnisse, die zu grosser Kunst führten".
Lee Ranaldo hatte mit "Between The Times And The Tides" jedenfalls ein meisterhaftes und sehr modernes Rock-Album vorgelegt, das auch ohne den mächtigen Sonic Youth-Bezug Gültigkeit hatte. Im Hinblick auf die ungewisse Zukunft seiner Heimat-Band machte es Hoffnung, und es geriet um einiges besser als vergleichbare Alleingänge von Thurston Moore. Dies ist eines jener Alben, die man sich als Nichtkenner viele Male anhören muss, bis sich einem die Faszination vollständig erschliesst, die von diesem Werk ausgeht. Wer sich die Zeit dafür nimmt, wird am Ende reich belohnt mit einer Sammlung von Songs, die er so leicht nicht mehr aus dem Gedächtnis bringen wird.
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