SAHARA - Sunrise (Pan Records 87 306 IT, 1974)
Ich bin 16 Jahre alt, kriege Taschengeld und bin leidenschaftlicher Plattensammler. Davor war ich LEGO-süchtig. 1975 besitze ich fast so viele Langspielplatten wie LEGO-Steine. Ich muss mir soviel anhören, da ist einfach keine Zeit mehr für LEGO - und auch kein Platz mehr. Die meisten meiner Platten kaufe ich nicht im Plattenladen, sondern bei einem Händler, dessen Name ich längst vergessen habe, der mir aber immer in Erinnerung geblieben ist, weil er alles verkaufte, was man in eine Steckdose stecken konnte, vom elektrischen Lockenwickler bis zur gefühlten 2 1/2 Meter breiten Monster-Stereoanlage, bei der Radioteil, Cassettenrecorder und Vinyl-Plattenspieler in einem Gerät untergebracht waren - nebeneinander nicht übereinander. Dieser Händler verkaufte auch Vinyl-Rückläuferware, also Ramschmusik, die keiner kaufen wollte, und die der Händler deswegen von den Plattenfirmen billigst kriegen konnte, sodass er sie in seinem Laden für fast geschenkt verhökern konnte. Als einer, der extrem viel Ahnung von Musik hatte - ich kaufte meine Platten in der Regel nach Plattenhüllen, die mir gefielen - also gar keine, war auch diese LP der Münchner Gruppe Sahara irgendwann einmal in meinem Regal. Damals noch ziemlich Hitparaden-Format gewohnt, ignorierte ich erstmal das 27:20 Minuten lange und die komplette zweite Seite der LP füllende Titelstück "Sunrise" und hörte praktisch immer nur die erste Seite, die mit dem wunderschönen "Circles" ein Stück Country-Glückseligkeit bot, die es mir einfach angetan hatte. Viele Jahre lang war deshalb die Gruppe Sahara (auch später noch, als ich die Band gut kannte und ihre beiden Alben längst im Regal stehen hatte) noch immer die Gruppe aus München mit dem "Circles".
Sahara hatten zuvor schon unter dem Namen Subject ESQ Musik gemacht, und unter diesem Label auch ein Album eingespielt, das ich erst in den 90er Jahren für mich entdeckt habe. Schon da spielten die Musiker einen exzellenten Rock, den ich auf keinen Fall in die Krautrock-Ecke stellen mag. Auf der LP feierten sie einen tollen Mix aus progressivem Rock, Jazzrock und noch typischer 60er Jahre Psychedelik. Stellenweise war die Band mit dem dort gespielten Sound, vor allem, was die Arrangements anbetrifft, ihrer Zeit um einige Jahre voraus, was man damals allerdings noch nicht wusste. Was den Sound der nachfolgenden "Sunrise" LP anbetrifft, so war es bestimmt jeder einzelne Musiker der Gruppe, der seinen ganz eigenen musikalischen Charakter einbringen konnte, dass schlussendlich so ein vielschichtiges und abwechslungsreiches Album entstehen konnte. Alex Pittwohn, der Tenor Saxophon und Mundharmonika spielte, steuerte das von mir so geliebte "Circles" bei, ein Titel, der sich komplett von der anderen Musik auf dem Album abhob. Das leicht klassisch beginnende "Marie Celeste" aus der Feder von Keyboarder Hennes Hering und Gitarrist Nicholas (Nick) Woodland entwickelt sich rasch zum echten Rocksong, der über alle Zutaten verfügt, den damals Grössten ihres Faches gerecht zu werden. Geile Gitarre, wildes Saxophon, cooles Orgel-Solo: Hier war ein extrem vielversprechendes und äusserst kreatives Sextett am musizieren. Das bereits erwähnte gemütliche "Circles" macht dem "Rainbow Rider" Platz, einem Song, der über eine relativ lange einleitende Sequenz den Hörer schweben lässt, bevor der konkrete Track, der bald auch jazzige Akzente setzt, wieder in sich verpufft. Das ist schön gemacht.
Der Titelsong dann, die über die gesamte LP-Seite laufende "Sunrise"-Suite zeigt in insgesamt 2 Parts und 7 Themen alles, was ein gut gejammter und teilimprovisierter Progressiv Rock-Track bieten kann: Von klar progressiven Elementen über jazzige Passagen bis hin zu üppigen Momenten, etwa wenn das Mellotron den Lead-Part übernimmt, oder gar britische Folk-Atmosphäre versprüht, wenn der Klang einer Flöte fast schon Jethro Tull-ähnliche Dimensionen annimmt. In dieser herausragenden Suite erinnern Sahara klanglich oft an Bands wie Nektar (Phase "A Tab In The Ocean") oder Eloy. Die Suite hält die Spannung über die gesamte Spieldauer aufrecht und weist keinerlei musikalische Längen auf. Weltklasse.
Das Ariola Unterlabel Pan Records veröffentlichte einige weitgehend unbekannt gebliebene Perlen damals, von denen sicherlich die folkig-orientierten HERO empfehlenswert sind, aber auch die Hippie-Supergroup METROPOLIS, der "Saz spielende Hendrix" ALEX (Wiska) und die rockigen DUFFY ("Scruffy Duffy"). Von Sahara gibt es dann noch das zweite Album "For All The Clowns", veröffentlicht 1975 auf Ariola Records, das qualitativ gegenüber diesem Erstling eigentlich in Nichts nachsteht und genauso empfehlenswert ist, auch wenn dort dann die Musik insgesamt etwas gestraffter wirkt und nicht mehr so viel Anteil an Experimentellem aufweist wie die "Sunrise", die mit Sicherheit mit zum Besten gehört, was ich aus jener Zeit von einer deutschen Band bis heute kenne.
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