Jul 23, 2020



JEFFERSON STARSHIP - Dragonfly (Grunt Records BFL1-0717, 1974)

Als dieses überwältigende Rock-Album im September 1974 erschien, musste sich jeder, der noch von dieser glückseligen und drogengeschwängerten Hippieband Jefferson Airplane schwärmte, erkennen, dass mit den 70er Jahren ein neues und äusserst innovatives rockmusikalisches Zeitalter begonnen hatte, das im Sog der kreativen Höhenflüge und des sich längst aufgelösten Blumenkinder-Korsetts auch die Hippie-Ikonen Grace Slick und Paul Kantner nicht länger entziehen wollten. Das Jefferson-Fluggerät war erfolgreich im neuen Rock-Zeitalter angekommen. Längst war es nicht mehr zwischen Nebel und Wolken als wackeliger Doppeldecker unterwegs, sondern hatte sich als Folge der kreativen Entwicklung bereits als veritables Sternenschiff in Stratosphären herangewagt, die zuvor kaum Jemand der Fans hätte für möglich halten können: Einem Raketenantrieb gleich fegte die neu formierte Crew geradewegs in den Himmel und liess die süsslich duftenden Rauchschwaden des ehemaligen Fluggeräts weit hinter sich. Die Zeiten von Warp Antrieb hatten begonnen und so manche Band setzte zum künstlerischen und kreativen Höhenflug an. In der ersten Hälfte der 70er Jahre schien in dieser Beziehung alles möglich zu sein, wie beispielsweise auch die brave Beatband Status Quo bewies, als sie ihr bärenstarkes Live-Equipment ins Studio schleppte, alle Regler auf 11 drehte und mit dem bekannten "Piledriver" den ganzen ollen 60's Pop-Muff hinweggeblasen hatte. Das war 1972 und zu der Zeit explodierte die Rockszene förmlich. Die Tontechnik erfuhr eine revolutionäre Verbesserung, plötzlich standen nicht mehr 2 oder 4, sondern 8 und 16 Tonspuren zur Verfügung, und das grosse kreative Spielen mit den Spuren war Usus geworden.

Mit den erweiterten technischen Möglichkeiten gerieten auch die Schallplatten zunehmends zu klanglichen Meisterwerken, der Begriff "Mixdown" wurde zu einem soundbestimmenden und wichtigen Element wie nie zuvor. Komplexe Arrangements, die früher im sogenannten Ping-Pong Verfahren mit enormen und hörbaren qualitativen Einbussen aufgezeichnet werden mussten, erhielten nun plötzlich ihre eigenen Spuren auf der Bandmaschine, was zum Beispiel gerade bei mehrstimmigen Gesangs-Arrangements zu einer enormen qualitativen Steigerung führte. Die ohnehin schon zu Jefferson Airplane-Zeiten markanten mehrstimmigen Vokalsätze erhielten durch die neuen technischen Möglichkeiten zusätzlichen Gehalt, sodass die Musik der Band gesamthaft wesentlich druckvoller, dabei aber auch erstaunlich frisch und unverbraucht und vor allem klanglich exzellent herüberkam. Jefferson Starship war nicht nur eine neue Band, es war auch ein hervorragendes Beispiel für die Entwicklung der soundtechnischen Möglichkeiten. Grace Slick sang im Stück "Hyperdrive" passend dazu: "I never thought there were corners in time, 'til I was told to stand in one".

Jefferson Airplane hatten ab 1971 praktisch aufgehört zu existieren. Sämtliche bisherigen Musiker der Truppe begannen, ihre eigenen Süppchen zu köcheln, wobei sich hier schon die Spreu vom Weizen zu trennen begann. Paul Kantner lebte weiterhin den Hippietraum und entwarf einen ganz eigenen Planeten, den er liebevoll "The Planet Earth Rock'n'Roll Orchestra", kurz PERRO, nannte. Mit den ewigen Hippies von Grateful Dead und David Crosby (Crosby, Stills, Nash & Young) entwarf er eine versponnene, spaceig-psychedelische bunt-naive Welt, die sich oberflächlich betrachtet vielleicht nicht grundlegend von der musikalischen Idee von Jefferson Airplane unterschied, jedoch eine enorme stilistische Weiterentwicklung bedeutete: Sie war auf lockere, sehr Dead-inspirierte Jams ausgelegt und klang manchmal fast noch verkiffter als Grateful Dead selber, wobei neben der Rockmusik auch Elemente von Folk und Blues vermehrt Einzug in den Gesamtsound fanden. Grace Slick brauchte sich nicht neu zu erfinden. Die Ikone spielte mit "Manhole" ein Album ein, das die Sängerin als das präsentierte, was sie immer schon war: Eine grossartige und sehr gefühlvolle Sängerin und Songautorin. Einzig die Herren Jorma Kaukonen und Jack Casady wechselten zu ungleich trivialerer und wenig innovativer Musik, die hauptsächlich im Bereich Folk und Blues angesiedelt war und wesentlich weniger experimentierfreudig ausgelegt war. Neben Casady und Kaukonen spielte auch der Strassenfiddler Papa John Creach bei Hot Tuna mit, der dann allerdings ausstieg, um das Sternenschiff zu besteigen und beim Drachenflug mitzufliegen, nachdem er schon in der sogenannten "Transition Phase", also der Uebergangszeit von Airplane zu Starship bei Kantner & Slick's Projekten beteiligt war.

Spencer Dryden schied bereits Anfang 1970 aus, ebenso wie der Sänger Marty Balin. Paul Kantner und Grace Slick, inzwischen ein Paar geworden, waren noch Label-gebunden und veröffentlichten mit "Bark" und "Long John Silver" zwei weitere Studioproduktionen für RCA Records und legten mit einem Live-Album mit dem Titel "Thirty Seconds Over Winterland" auch noch einen tollen Konzertmitschnitt nach, bevor sie, nun unabhängig in ihrer Veröffentlichungs-Philosophie mit den Alben "Blows Against The Empire" (das im Untertitel bereits den Zusatz 'Jefferson Starship' trug!) "Sunfighter" und "Baron von Tollboth & The Chrome Nun" drei sich im musikalischen Wandel präsentierende Alben vorlegten, die den Erfolg der späteren Starship-Werke schon vorwegnahmen. Obwohl konzeptlastig, waren auf allen drei Platten bereits bodenständigere und rockigere Themen zu hören, sodass eigentlich die nächsten 1 1/2 Jahre dazu verwendet wurden, die verschiedenen Projekte unter einen einzigen Band-Hut zu bringen.

Massgeblichen Anteil am wiedererstarkten und zweifellos auch kommerzieller ausgerichteten Sound der neuen Formation Jefferson Starship hatte Marty Balin, der zurückgekommen war, nachdem ihm mit einem Bandprojekt samt Album namens Bodacious D.F. kein Erfolg bescheiden war. Ausserdem waren mit Pete Sears und vor allem Craig Chaquico zwei hervorragende Gitarristen zur folrmation gestossen, die dem neuen Jefferson-Sound ihren Rock-Schliff gaben. Während Pete Sears zuvor schon bei Steamhammer, Stoneground und der Soul- und Funk-Shouterin Betty Davis brillierte, kam der langjährige musikalische Kumpel von Rod Stewart gerade von der Studioaufnahme dessen "Smiler"-Albums zu Jefferson Starship. Da Pete Sears auch hervorragend Keyboards spielte, entstanden in der Folge diese perfekten Sound-Arrangements, bei denen Sears immer punktuiert und absolut songdienlich entweder zusätzliche Rhythmus-Gitarre oder aber Keyboardsounds beisteuerte. Als Leadgitarrist fungierte Craig Chaquico, ein damals noch relativ unbekannter Gitarrist, äuf dessen Dienste allerdings zuvor Grace Slick und Paul Kantner bereits für ihre "Transition Phase" Projekte zurückgriffen. Besonders schön war dabei seine Gitarrenarbeit am Album "Baron von Tollboth & The Chrome Nun". Auch der Schlagzeuger John Barbata war auf jenem Album zu hören und er wurde zum fixen Schlagzeuger der Gründungsbesetzung von Jefferson Starship.

Fulminant war der Auftakt der LP mit dem kernigen Rocksong "Ride The Tiger", in welchem Craig Chaquico mit einer tollen Wah Wah Gitarre gleich den Rock in den Vordergrund stellte, wie er bis dato noch nie von Jefferson-Musikern präsentiert worden war. Der Songmix aus treibendem Rock-Groove, dem wie immer unwiderstehlichen mehrstimmigen Gesang sowie Kantner's und Slick's Faszination gleichermassen für Orientalisches, Mystik und Utopie wirkten als Ganzes äusserst spannend und elektrisierend. Vor allem zeigte schon dieser Opener der LP die Aufbruchstimmung einer Band, die im Begriff war, wie Phönix aus der Asche emporzusteigen. Das nachfolgende "That's For Sure", wiederum ein Rocksong, enthielt bereits einige typische Soundmerkmale, wie sie die Band in den folgenden Jahren noch verfeinern würde. Da war dieser irgendwie lässige Grundgroove, den man schon als typischen Westcoast-Sound bezeichnen konnte, andererseits wirkten die verspielten Instrumental-Arrangements, wiederum perfekt in gemeinsamer Interaktion vorgetragen von Pete Sears und Craig Chaquico zusammen mit dem freakigen Geigenspiel von Papa John Creach sehr unterhaltsam und anspruchsvoll. Ueberhaupt fiel auif, dass die neue Band wesentlich mehr Sinn und Gespür für detailreiche Ausschmückungen der Stücke entwickelte, was beim dritten Stück "Be Young You" aus der alleinigen Feder von Grace Slick zum ersten wahren Höhepunkt der Platte führte. Immer wenn Grace Slick ein auf ihr Storytelling perfekt zugeschnittenes selbstkomponiertes Stück zum besten gab, klang das manchmal wie nicht von dieser Welt. Diese Frau hatte einfach eine unheimliche Mystik in sich, und was sie sang, klang wie pure Magie. Auch der nächste Song war ein Highlight: Das sich über fast acht Minuten erstreckende Liebeslied "Caroline", komponiert und gesungen vom zurückgekehrten Marty Balin. Ich würde heute noch "Caroline" als das vermutlich beste Stück nennen, das dieser tolle Musiker mit diesem ganz eigenen und jederzeit wiedererkennbaren Stimmcharakter je geschrieben hat.

Eine schöne Plattform erhielt der Fiddler Papa John Creach im das die B-Seite der LP beginnenden Stück "Devils Den", wiederum von Grace Slick lead-gesungen und von der Band mit tollem mehrstimmigen Gesang unterstützt. Eine kleine Ueberraschung war das nachfolgende "Come To Life", ein wundervolles laidbackes Westcoast-Rockstück aus der gemeinsamen Feder des ehemaligen Grateful Dead Musikers Robert Hunter und dem vormals bei Quicksilver Messenger Service spielenden und nunmehr ebenfalls im Starship eingestiegenen Bassisten David Freiberg. Der absolute LP-Höhepunkt markierte dann die Covernummer "All Fly Away" aus der Feder des amerikanischen Folk-Troubadours Tom Pacheco, einem Musikbarden, dem zeitlebens nie die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die er eigentlich verdient gehabt hätte. Und schliesslich das wahre Space Balladen-Monster "Hyperdrive", eine Nummer, die wohl mit zum besten gehört, was Grace Slick - hier zusammen mit Pete Sears - jemals geschrieben hat. "Hyperdrive" ist fast wie ein Space-Märchen aufgeführt mit grosser Geste gespielt, verträumt wirkend, manchmal tieftraurig, dann wieder betörend schön und unfassbar melancholisch. Das Stück besteht aus einem Songteil und einem instrumentalen zweiten Teil, der wiederum einige Aehnlichkeiten mit dem zweiten, ebenfalls instrumentalen und von Klavier getragenen Teil des Songs "Layla" von Derek & The Dominos aufweist. Ein zum Sterben schönes Stück.

Die Zukunft nach "Dragonfly" konnte gar nicht besser sein, war aber unbestritten absehbar. Mit dem im Folgejahr präsentierten zweiten Album "Red Octopus" landete Jefferson Starship einen Volltreffer. Die aus dem Album ausgekoppelten Singles "Miracles" (phantastisch gesungen von Marty Balin) und "Play On Love" festigten den Ruf der neuen Band als fabelhafte Reinkarnation einer der herausragenden Bands der Hippie-Aera. Vor allem ist der enorme Erfolg der Band Jefferson Starship wohl zu einem grossen Teil das Verdienst von Marty Balin, der für den Rest der Dekade bei der Band blieb und niemals den Versuch unternommen hat, zurück in die alten Hippie-Träume zu verfallen, sondern die Band stilistisch konsequent immer weitergeführt hat, sodass Jefferson Starship heute rückblickend als eine der wichtigsten Rockbands aus dem Amerika der 70er Jahre bezeichnet werden können. Mit "Dragonfly" legten die Musiker hierzu ihren Grundstein. Das Album gehört für mich zu den besten Alben aller Zeiten. Es gibt nicht viele Alben, die sich im Laufe meiner jahrzehntelangen Freude an guter Musik so oft auf den Plattenteller gedrängt haben.




 

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