KEVIN COYNE - Blame It On The Night (Virgin Records V 2012, 1974)
Ein Musikkritiker hat über Kevin Coyne einmal geschrieben, er wäre ein Punk gewesen, bevor man Punk überhaupt kannte. Tatsache ist: Kevin Coyne war einer der originellsten und eigenständigsten Sänger und Songschreiber, mit einem sehr üppigen musikalischen Oeuvre, das sich mal humoristisch, mal tragikomisch, immer wieder dadaistisch und in jedem Fall auch antibourgeois offenbarte. Er war so etwas ähnliches wie der Tom Waits des Vereinigten Königreichs, der Schrullige mit der Krone, das Sprachrohr der Entrechteten, der kleinen Leute, der Versager, Verlierer und schrägen Vögel. Zu seinen Fans zählten der Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten gleichsam wie Bonnie "Prince" Billy oder Sting. Kevin Coyne kredenzte schon punkige Klänge mit exaltiertem Gesang, als sich noch niemand in der Musikwelt mit dieser Stilart befasste, aber schon einige das reinigende Gewitter herbeisehnten, das die egomanischen Rockstars bald durcheinanderwirbeln sollte. Malcolm McLaren gestand Kevin Coyne einmal, wie sehr die Sex Pistols von Coyne's wüster Art zu musizieren beeinflusst wurden. Vergleicht man Coyne's Song "River of Sin" zum Beispiel mit dem Sex Pistols-Song "Anarchy in The U.K.", so erkennt man die geistige Verwandtschaft auf Anhieb. Der dauerhaft vom Starprinzip angewiderte Musikaktivist und BBC-Journalist John Peel, der sein eigenes Plattenlabel Dandelion Records betrieb, veröffentlichte 1969 Kevin Coyne's erstes Album. Schon damals war der charismatische Liedermacher als Sänger der angebluesten Gruppe Siren ein auffallender Performer, dessen Stimme in Stücken wie "And I Wonder" oder "Some Dark Day" klarmachte, dass sein lyrischer Impetus den Blues, der so oft das Idyll im Elend sucht, bei weitem überstieg. In seinem letzten Gespräch mit der Presse erläuterte Kevin Coyne die Ursachen für sein düsteres Weltbild: "Ich machte zunächst Kunsttherapie am psychiatrischen Hospital in Whittingham. Später arbeitete ich als Sozialarbeiter mit Junkies in Soho. Diese beiden Erfahrungen lehrten mich, dass die Welt kein fairer Ort ist".
Die Lebenswelten der Erfolgreichen waren Kevin Coyne einerseits zu langweilig, andererseits auch zu suspekt. Als Künstler konzentrierte er sich ausschliesslich auf die Aussenseiter der Gesellschaft. In seinen rauhen, aber teilweise erstaunlich melodiösen Liedern fanden sie alle Asyl: die dicken Mädchen, die gehänselten Schulbuben, die verwirrten Pensionäre, ja sogar depressive Hilfspolizisten. Coyne's Songs, aber auch seine amüsanten Kurzgeschichten versuchten den vom Leben über die Massen geprüften Menschen jene Würde zurückzugeben, die ihnen das wirkliche Leben geraubt hatte. Derfeine Beobachter studierte auch Grafik und Malerei, weshalb er parallel zu seiner Musik auch immer Bilder malte, dadaistisch-psychedelische Skizzen seiner Gestrandeten und Gestrauchelten anfertigte, die er dann nicht selten auch auf die Plattencovers hievte. Seine Beschäftigung mit Drogensüchtigen und Geisteskranken beeinflusste ihn nachhaltig. Lieder wie "Asylum" und "Mad Boy" oder auch "Mona, Where's My Trousers" zeugten davon. 1969 nahm er zusammen mit seiner Band Siren für John Peel's Dandelion Records also seine ersten Platten auf. Nach dem Ende von Dandelion Records wechselte er zum noch ganz jungen Label Virgin Records von Richard Branson. Bei dieser Plattenfirma entstanden in den folgenden Jahren einige seiner besten und bekanntesten Platten, darunter sein Debutalbum für Virgin Records, das erste auf dem Label veröffentlichte Doppelalbum mit dem Titel "Marjory Razorblade", aber auch seine wohl populärsten Werke "Beautiful Extremes" und "Millionaires And Teddy Bears". Auf "Marjory Razorblade" spielten in seiner Band unter anderem Zoot Money und Andy Summers mit, ein Umstand, über den er sich in späteren Jahren des öfteren lustig machte. Er selbst hatte 1971, nach dem Tod von Jim Morrison, das Angebot abgelehnt, der neue Sänger der Doors zu werden, angeblich, weil ihm die Lederhosen nicht gefielen. Man darf aber annehmen, dass ihn eine Karriere als Popstar schlicht nicht interessierte.
Mit dem relativ guten Verkaufserfolg seines Doppelalbums "Marjory Razorblade" gelang Kevin Coyne nicht nur der Durchbruch in England, er sorgte auch dafür, dass Coyne weiterhin bei Virgin Records Platten einspielen und veröffentlichen konnte, auch wenn sie letztlich nicht den erhofften Gewinn abwarfen. Man muss diesbezüglich Labelchef Richard Branson ein Kränzchen winden, dass er auch aus kommerzieller Hinsicht eher hoffnungslose Künstler und Bands unterstützte. Das hatte allerdings auch einen finanziellen Hintergrund: Branson wurde mit seiner ersten Veröffentlichung "Tubular Bells" von Mike Oldfield so reich, dass er auch viele musikalische Wagnisse eingehen konnte und trotzdem noch genug verdiente. Von Kevin Coyne allerdings war Richard Branson immer schon überzeugt und er förderte ihn entsprechend, lieferte ihm auch immer wieder hervorragende Musiker, wenn Coyne ins Tonstudio ging, um neue Aufnahmen einzuspielen. Der Nachfolger von "Marjory Razorblade" mit dem Titel "Blame It On The Night" erschien schon knapp ein Jahr später und präsentierte erneut eine umwerfend tolle Sammlung an hervorragenden Songs, die teils schräg, teils auch herrlich bodenständig rockend daherkamen und allerbeste Songschreiber-Qualitäten bewiesen.
Für die Aufnahmen zu den 12 Songs des Albums "Blame It On The Night" fanden sich einige hervorragende Musiker und Toningenieure zusammen, und zwar im legendären Manor Studio in Monmouth. Als ausführender Produzent, Arrangeuer und Mixdown Engineer wurde Steve Verroca verpflichtet, der unter anderem einige Zeit zuvor mit Link Wray die legendären "Three Track Shack"-Aufnahmen eingespielt hatte, die dem alten Rock'n'Roller zu einem Comeback verhelfen konnten. Verroca arbeitete schon bei "Marjory Razorblade" für Kevin Coyne: die wie sanft in Watte getauchte wunderbare Atmosphäre beispielsweise der Single "Marlene" ging auf Verroca's Konto. Der Bluesgitarrist Gordon Smith, der auch bei Flaming Youth spielte, steuerte einige hervorragende Slide-, Dobro- und akustische und elektrische Gitarrenklänge bei, die wirklich exzellent waren, ausserdem spielte er auch bei einigen Titeln die Mundharmonika. Smith war schon auf dem legendären Blue Horizon Label unter Vertrag gestanden und hatte dort auch ein brilliantes Bluesalbum veröffentlicht.
Ausserdem waren bei diesen Aufnahmen der Keyboarder Fiachra Terence Wilbrah "Fi" Trench, der auch bei Solid Gold Cadillac und bei If gespielt hatte und der Bassist Tony Cousins mit dabei. Cousins wechselte später in die Produktion und betreute vor allem aufstrebende New Wave-Bands und Künstler wie etwa die Gruppe XTC. Der Multi-Instrumentalist Ruan O'Lochlainn steuerte Saxophon, Gitarre und Klavier bei. O'Lochlainn war zu der Zeit auch Mitglied der Gruppe Bees Make Honey. Schliesslich noch der Schlagzeuger Chilli Charles von der Band McKendree Spring, der auch für Mike Oldfield gearbeitet hatte. Diese fabelhafte kleine Schar ausgesuchter Musiker schufen für ihren Meister ein hervorragend klingendes Werk, das qualitativ dem Virgin-Debutalbum "Marjory Razorblade" in nichts nachstand, jedoch weitaus weniger erfolgreich war. Aufgenommen von Simon Heyworth, der schon die "Tubular Bells" Platte auf den Weg gebracht hatte, strahlten die aufgenommenen Songs viel Wärme und Gefühl aus, selbst dann, wenn Kevin Coyne beseelt rockte. Es fanden sich auf "Blame It On The Night" zahlreiche Songs, die Coyne später lange Jahre auch live vortrug und zu seinen besten Momenten gehören. Als Beispiele seien hier etwa "River Of Sin", "Sign Of The Times", "Poor Swine" oder "Don't Delude Me" genannt.
Kevin Coyne war übrigens der zweite Künstler nach Mike Oldfield, den Richard Branson für sein neues damals brandneues Plattenlabel Virgin Records verpflichtete. Kurioserweise hatte der Selfmade-Millionär eine durchaus innige Beziehung zu Coyne's sozialkritischen Songs. Zu seinem Biographen Mick Brown sagte er einmal: "You know the one I really loved ? Kevin Coyne. He was amazing". Ich denke, das ganz Besondere an der Person und an dem Musiker Kevin Coyne war seine absolute Eigenständigkeit. Man konnte ihn einfach mit niemand anderem vergleichen: Seine Stimme war ebenso einmalig wie seine verschrobenen Lieder, die manchmal sowas von sperrig, und im nächsten Moment wieder voller Poesi und Liebe sein konnten. Wie wertvoll das war, wusste der strubbelige Barde wohl auch selbst: "Diese Unverwechselbarkeit ist vielleicht das Höchste, das ich erreicht habe. Inspirieren tut mich vieles. Kunst oder auch ein Vorfall im Supermarkt. Aber ich laufe nicht mit dem Notizbuch herum. Man vergisst so viel, aber das Wesentliche fällt einem später wieder ein".
Dass er dennoch öfters mit anderen Künstlern verglichen wurde, ärgerte ihn. "Das fing an, nachdem ich "Marjory Razorblade" rausgebracht hatte", erklärte Coyne: "Dabei halte ich Leute wie Neil Young oder Van Morrison für intellektuell tot. Die spielen brav mit in dem, was man Rockzirkus nennt. Bands wie die Mekons, die Sex Pistols oder die Ruts fand ich später viel aufregender". Wie die von Kevin Coyne Genannten scherte er sich wenig um Fehler. Verspielte er sich bei Plattenaufnahmen, so liess er, unbeeindruckt vom Perfektionswahn jener Jahre, alles so, wie es aus ihm herausgebrochen war. Seine Lieder waren Triebabfuhr und Trost für ihn. Wenn er zart "The world is full of fools, but it doesn't make them a bad person" sang, dann bargen diese Zeilen für ihn selbst mindestens so viel Trost wie für die Zuhörer. Coyne wusste um den Selbstheilfaktor des Musizierens: "Lieder zu schreiben ist ein bisschen eine technische Übung, vor allem aber eine Form der Selbsttherapie. Auch wenn ich nicht in die Liga der Stars vordringen wollte, so war es mir doch wichtig, mir einen Namen zu machen. Hätte ich nicht kreative Wege eingeschlagen, wäre ich wohl zum Massenmörder geworden"
In Deutschland, wo ein Auftritt im Rockpalast den Künstler Kevin Coyne einem breiteren Publikum bekannt machte, hatte er eine kleine, aber treue Fangemeinde. Es kam daher nicht überraschend, als er nach einem Nervenzusammenbruch 1981, verursacht durch Alkoholismus und Überarbeitung, Deutschland als neuen Lebensmittelpunkt wählte. Coyne lebte seit 1985 in Franken. 1992 erhielt er den 'Preis der Stadt Nürnberg für Kunst und Wissenschaft'. Zahlreiche Kunstausstellungen und musikalische Auftritte mit seiner Kevin Coyne-Band machten ihn nicht nur in England, sondern auch in Deutschland, Österreich und Frankreich kontinuierlich bekannter. 1986 trat er unentgeltlich beim Anti-WAAhnsinns-Festival gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf auf die Bühne. Coyne litt schon seit längerem an Lungenfibrose, sein Tod am 2. Dezember 2004 kam dennoch völlig überraschend. Am 10. Dezember 2004 wollte Kevin Coyne eine weitere CD vorstellen, dazu kam es dann leider nicht mehr.
Ach Kevin, ich hätte Dich so gern live gesehen.
ReplyDeleteKevin Coyne habe ich schon als Kind geliebt obwohl mir die Musik zu sperrig war und die Sprache natürlich fremd. Aber ein Kind spürt, wer ein lieber Mensch ist. Ich hab seine Verzweiflung,seine Hoffnung und seine Liebe gehört.
Seinen Trotz und seine Wut, die nie in Hass umschlug.
Später hab ich dann auch die Texte verstanden und wurde kritischer:
es gibt Platten, die ich, vor allem musikalisch, nicht gut finde.
Aber egal, er ist mein Kevin Coyne und mein schräger, geliebter großer Bruder.
Manchmal bin ich in Nürnberg und sitze an seinem Grab und dann fällt mir der olle Biermann ein: Wie nah sind uns manche Tote, doch
wie tot sind uns manche, die leben.
Er fehlt und ich hab ihn so gern...