Aug 17, 2020



ARJEN ANTHONY LUCASSEN - Lost In The New Real
(Inside Out Music IOMLTDCD 356, 2012)

Arjen Anthony Lucassen ist ein holländischer Multi-Instrumentalist und ein Meister der Kreativität, der hierzulande schon mit zahlreichen Bands und Projekten stets einem qualitativ extrem hohen Level folgte und dabei immer wieder mit kreativen Ueberraschungen aufwartete. Seine Monumental-Epen unter dem Band-Banner AYREON, oder auch das dem Progressive Metal-nahe Projekt STAR ONE warteten stets mit einer Heerschar an hervorragenden Musikern und Sängern auf. Der Künstler zelebrierte bei all diesen Projekten aber stets die musikalische Alleinherrschaft, vielleicht am besten nachvollziehbar bei seinem Album GUILT MACHINE, das quasi als Bandname in Erscheinung trat. Die Motivation Lucassens, auch einmal ein echtes Solo-Album einzuspielen, das wiederum anderen Grundideen Nahrung gibt, ist daher gut nachvollziehbar und seiner immensen Kreativität geschuldet. Sein nimmermüder Drang, stets Neues auszuprobieren, gipfelte 2015 im Mittelalter-inspirierten Konzept-Werk "The Gentle Storm", das der Musiker mit der ehemaligen Sängerin von THE GATHERING, Anneke van Giersbergen, veröffentlicht hat.

Wichtig für den Künstler war beim 2012er Album "Lost In The New Real", der Erwartungshaltung der Fans nicht entsprechen zu müssen, nicht mit vielen Musikern zusammenzuarbeiten, und vor allem: ein komplettes Album selber einzusingen, nachdem Arjen Lucassen jahrelang stets mit Gastsängern seine Alben einspielte und nur selten einmal selber das Mikrophon in die Hand nahm. Folgerichtig war dieses Werk eigentlich das erste echte "Lucassen"-Werk, das der Musiker von A bis Z sich selbst auf den Leib zugeschnitten hatte. Es handelt sich bei "Lost In The New Real" natürlich wiederum um ein Konzeptalbum, und zwar um ein sehr Interessantes und Schlüssiges. Indem Lucassen sich vor der musikalischen Vergangenheit, die ih nselber all die Jahre geprägt hat, verneigt, stellt er ein Zukunfts-Szenario auf die Beine, wo alte Werte nicht mehr zählen, Maschinen und Computer alle instrumentalen Fertigkeiten längst übernommen und eine Welt kreiert haben, in welcher Kreativität und künstlerisches Schaffen weitgehend eliminiert ist. In einer Art Rückschau legt Lucassen ein Werk hin, das sich deshalb folgerichtig am alten Musikschaffen bedient und aufzeigt, wo eigentlich all die schön gestylte, unpersönliche und kalte Plastikwelt ihren Ursprung hatte.

Zitate gibt es in dieser Hinsicht massig. Das fängt schon bei einem eindeutigen Songtitel wie "Pink Beetles In A Purple Zeppelin" auf und manifestiert sich musikalisch in extrem vielen Schattierungen der Rockmusik, wie wir sie heute kennen, wie Rock, Metal, Pop, Folk, Industrial. Man kann "Lost In The New Real" durchaus als das Spannendste Album von Arjen Lucassen bezeichnen, denn das Vielseitigste ist es ganz bestimmt. Mit diesem Konzept breitet der holländische Musiker auch seine ganz eigene musikalische Entwicklung aus, streift all die vielen Stationen, die er selber als Inspirationsquelle über viele Jahre eingesogen hat und sie für sein eigenes Schaffen über die lange Zeit, die er nun schon Musik macht, verinnerlicht hat. Entstanden ist dadurch das mutigste Album, das der Holländer jemals aufgenommen hat. Und mit Sicherheit auch eines seiner besten. 

Inhaltlich geht es auf dem Werk wie bereits erwähnt um die Wirren der modernen, von Computern und Internet dominierten Welt. Zusammengehalten wird das Album von der Stimme des Schauspielers Rutger Hauer, den Arjen Lucassen als Sprecher für die Einleitungen zu den Songs gewinnen konnte. Wie auch musikalisch gibt es ebenso bei den Texten – trotz des konzeptionellen roten Fadens – keinerlei Barrieren. Ernste Themen stehen neben augenzwinkernden oder gar albernen, vor allem in der Popmusik üblichen Texten. Da Lucassen sich selbst keinerlei Grenzen bei der Umsetzung seines Konzeptes setzte, bietet er auch musikalisch eine enorme stilistische Vielfalt. Ob sinfonisch in Richtung klassischem Progressive Rock, eher betont bodenständig rockend, eher bombastisch oder auch bewusst sehr einfach strukturiert: Die Musik wirkt trotzdem, dank dem Gesamtkonzept, das von Rutger Hauer's Erklärungen stets zusammengehalten wird, erstaunlich kompakt und nachvollziehbar, sodass die stilistische Vielfalt auf den Hörer faszinierend und in keiner Weise erdrückend wirkt.

Natürlich gibt es auf diesem erstaunlichen Werk Passagen, die auch auf Lucassen's AYREON-Werke gepasst hätten, da er doch seinen immer wieder erknnbaren persönlichen Stil hat. Doch insgesamt bietet "Lost In The New Real" unendlich viel mehr an kreativen Spielereien als seine anderen Produktionen. Bei 20 Songs kann es vielleicht nicht 20 Volltreffer geben. Und dennoch finden sich auf dem Doppelalbum kaum irgendwelche Schwachstellen, unpassende oder gar schlechte Songs schon gar nicht. Nicht mal Mittelmässige, würde ich sagen. Denn jedes Konzept in sich sich geschlossen, die Stücke gehören alle zusammen und sollen daher auch als Ganzes funktionieren und letztlich in diesem Kontext beurteilt werden. Individuell herausgefilterte Titel als eher durchschnittlich bezeichnen zu wollen hiesse daher, das Gesamtkonzept als Solches in Frage stellen zu wollen, und dafür besteht hier in der Tat kein Anlass zu irgendwelcher Kritik. Das ganze Werk ist überzeugend aufgebaut und perfekt in Szene gesetzt, zudem von hochkarätigen Musikern eingespielt worden.

Die bereits erwähnte stilistische Vielfalt des Werks umfasst beispielsweise solch auf den ersten Blick vielleicht eher nicht zusammen passende Sachen wie das auf moderne Loungemusik getrimmte "Don’t Switch Me Off", den exaltierten Coversong "I'm The Slime" aus der Feder von Frank Zappa oder die bereits erwähnte Poprock Rundum-Hommage "Pink Beatles In A Purple Zeppelin", das selbstironisch-lässige "When I’m A Hundred Sixty-Four", das treibende "E-Police", das mächtige Beatles-orientierte Breitwand-Stück "Dr. Slumber’s Eternity Home", das nicht minder epische "Yellowstone Memorial Day" mit hörbaren Referenzen an den Altmeister David Bowie und die zehn Minuten dauernde Achterbahnfahrt des Titelsongs, um nur einige zu nennen. Herrlich wirken da dann auch die bewusst gestreuten Zitate aus allerlei bekannten Rocksongs und natürlich die gut gewählten Coversongs von Rock-Berühmtheiten, denen Arjen Lucassen musikalisch teilweise massiv zu Leibe rückte.

Beispielsweise das Pink Floyd-Stück "Welcome To The Machine", das im Kontext zur Geschichte des Albums richtigerweise ein extrem maschinengesteuertes Grundbild erhielt, das vom organischen Sound des Floyd-Originals kaum mehr etwas behalten hat - als Versinnbildlichung der kalten Welt aber hervorragend auch in so einem Klangkleid glaubwürdig funktioniert. Aber auch Led Zeppelin's "Battle Of Evermore", das für mich fast beste Stück auf dem Album, das den Hörer in seiner ursprünglichen Form mit jener wundervoll verträumten Mandolinenmelodie verführte, hier in Lucassen's Variante jedoch genau diese Gefühlskälte von heute präsentiert, die von vielen Menschen fälschlicherweise für Gefühl gehalten wird, letztlich aber doch nur Oberflächlichkeit bedeutet. "Some Other Time", im Original von Alan Parsons, passt perfekt zu diesem musikalischen Konzept und reiht sich herrlich ein in alles, was der Künmstler uns mit auf den Weg geben will: Es gibt eine andere Zeit als die heutige. Sie war einmal, könnte aber auch genauso gut dereinst einmal wieder sein. Je nachdem, wie wir Menschen mit unseren wertvollen Ressourcen umgehen und wie bewusst wir an uns selber arbeiten. "Veterans Of The Psychic Wars", ein Song der Gruppe Blue Oyster Cult, zu welchem der legendäre Science Fiction Künstler Michael Moorcock den Text beisteuerte, passt ebenfalls perfekt ins Gesamtkonzept. 

Arjen Anthony Lucassen ist nicht nur ein begnadeter Songschreiber, Instrumentalist und Arrangeur, er ist auch ein sehr guter Sänger, der mit seiner Stimme viele unterschiedliche Stimmungen transportieren kann. Angesichts der musikalischen Klasse, der Selbstverständlichkeit und der Leichtfüssigkeit, mit der er sämtliche Stilbarrieren überwinden kann, um am Ende doch ein absolut homogenes Album zu präsentieren, sei die Frage erlaubt: Was kann Lucassen eigentlich nicht ?



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