JONI MITCHELL - Don Juan's Reckless Daughter (Asylum Records BB-701, 1977)
Dass die grosse Mutter Rockmusik nicht nur unzählige Söhne hervorgebracht hat, sondern auch eine Vielzahl von Töchtern, dürfte bekannt sein. Wenngleich es in diesem Genre im Verlaufe der Jahrzehnte einen deutlichen Überschuss an männlichen Vertretern gibt, wäre es dennoch unfair, von einer reinen Männerdomäne zu sprechen. Zu den vielen Rock-Frauen mit Format, die sich über die Zeit und den Zeitgeist längst hinweggesetzt haben, gehört zweifelsohne Joni Mitchell. Die am 7. November 1943 im kanadischen Alberta als Roberta Joan Anderson geborene Tochter eines US-Airforce-Soldaten, beginnt bereits relativ früh damit, ihren Hang zur Poesie und Lyrik musikalisch auszuleben. Von ihrer Mutter - einer frömmelnden Lehrerin – mit Shakespeare und anderen Klassikern malträtiert, baut sie in ihrer Kindheit und Jugend eine eigene, oft bizarre Traumwelt auf, die sich später regelmässig in ihren Liedern widerspiegelt. Das ebenso prüde Kanada der 60er Jahre, in der die klerikalen Dogmen und ein verlogenes, auf Doppelmoral basierendes gesellschaftliches Gefüge den Ton angeben, wird auch permanent in ihrem Elternhaus reflektiert. Diese Umstände führen dazu, dass Joni, die mit 21 Jahren ein nicht eheliches Kind zur Welt bringt, quasi gezwungen wird, ihre Tochter zur Adoption frei zu geben. Sie entflieht dieser spiessigen Enge und trifft 1965 in Toronto den Folk-Sänger Chuck Mitchell, mit dem sie in der Folgezeit durch diverse Studenten - und Szenelokalen tingelt. Hierbei lässt sie sich musikalisch vor allem von ihrem Ehemann inspirieren.
Das Resultat ihres Schaffens ist die im Jahre 1968 veröffentlichte LP "Song To A Seagull". Auf diesem Erstlingswerk wird überdeutlich, für welche Art von Musik der Name Joni Mitchell zukünftig stehen wird: Es ist die sich am Klimax befindliche Hippie-Ära, die Flower-Power-Bewegung mit ihren meta-physischen, oft durch diverse Halluzinogene unterstützte Alltags-Erlebniswelt, die hier in den Songtexten häufig auf prosaische Weise verarbeitet wird, oft nur von ihr mit einer akustischen Gitarre vorgetragen. Mitchell zwingt sich damit selbst in ein folkloristisches Korsett. Der damit gewollt textbezogene Wert ihrer Lieder bewegt sich deshalb auch zwischen Heile-Welt-Phantasie und individueller Harmoniesucht; jenseits der ansonsten brutalen Umwelt, die die kapitalistische US-Konsum-Kriegsgesellschaft fast monolithisch aufgebaut hat. Joni´s Antwort hierauf ist die Flucht in eine schwebend-fliessende Traumwelt, die sie permanent ohne jene menschenverachtenden Mechanismen der hierarchisch strukturierten Gesellschaftsordnung mitsamt ihrer zum eigenen Überleben erforderlichen Hinnahme der daraus resultierenden Zwänge.
Ihre Songs verkörpern eine Mixtur aus unverbindlicher Neutralität zum gesellschaftlichen Establishment und dessen auf Profitmaximierung fixierten sowie agierenden Exponenten einerseits, mit dem selbst er - bzw. gelebten, hippiesken Parallelkosmos andrerseits; zu dessen Ausdruckform unter anderem auch das Woodstock-Festival 1969 zählt. Mitchell selbst tritt hier wegen des Verkehrschaos rund um das Gelände nicht auf, entwirft gleichwohl, die Fernsehberichterstattung mitverfolgend, umgehend das Konzept für ihren gleichnamigen Song. Ihrer blühenden Phantasie ist es geschuldet, dass aus den zunächst über das Festivalgelände mit seinen fast 600000 Besuchern hinweg donnernden US-Kampfbombern, lediglich bunte Schmetterlinge werden, die eben nicht zur Abwehr eines Aufstandes der Massen gegen die Nixon-Politik eingesetzt werden können. Schon allein deshalb wäre es fatal, Joni Mitchell in einem Atemzug mit Folk-Interpretinnen wie beispielsweise Joan Baez nennen zu dürfen. Wiederum zeigt sie sich Jahre später konsequent genug, um eine 1,5 Millionen Dollar-Kaufofferte eines amerikanischen Plattenkonzerns für ihre bis dato bestehenden Kompositionsrechte schlankweg abzulehnen, weil sie sich dann selbst verkaufen würde.
Joni Mitchell wäre jedoch nicht zu jener Joni Mitchell geworden, hätte sie ab Mitte der 70er Jahre nicht die Metamorphose von einer reinen Folkinterpretin zu dem wesentlich komplexeren und anspruchsvolleren Jazz-Genre vollzogen. Die Zeiten änderten sich und mit ihnen jene sezessionistisch exakten Abgrenzungen der sehr unterschiedlichen Musikstile. Verschmelzungen aus und mit oft konträren Richtungen sind nun nicht mehr tabu, sondern ein gewollt belebendes Element; ja sogar ein notwendiges Muss, um musikalisch nicht auf der Stelle zu treten. Mit ihrem Album " Don Juan´s Reckless Daughter" ist es Joni Mitchell gelungen, die revolutionäre Ader der Musik vollends aufzudecken. Sie schafft es hiermit eine Brücke über den trennenden Fluss mit Namen Mainstream zu schlagen, in dem sie ihre fundamentalen Aufbauten aus dem Gebiet des folkloristischen Rock mit denen des Jazz verbindet. Herausgekommen ist dabei ein zehn Titel umfassendes Doppelalbum, das mit dem nahtlos ineinander übergehenden Stück "Overture/Cotton Avenue" beginnt. Nach den eher uninspiriert geschlagenen Saiten ihrer Akustikgitarre brummt der Bass, gespielt von Jaco Pastorius, zart begleitet von einem Schlagzeug, zu Joni´s Gesang über eine impressive Wahrnehmung eines sich verabschiedenden Tages auf dem Land, jenseits einer zum Abendleben erwachenden Stadt. Es zieht sie dorthin, wo das Leben pulsiert - in die Cotton Avenue. Sie fühlt, obschon längst nicht mehr so jung, den Drang nach dem vermeintlich sorgenfreien Spass, den sie in jener Strasse finden kann, die jene Abwechslung bietet, die ihr die Tristesse der Provinz gleichwohl verweigert. Joni´s Text strotzt vor Lebensfreude in der 70er Jahre Erlebniswelt.
In dem Folgesong "Talk To Me" fleht sie in einem beschwipsten Zustand („I didn´t know I drank such a lot, till I pissed a tequila-anaconda the full length of the parking lot”) einen Unbekannten an, sich mit ihr zu unterhalten. Sie bittet um ein Gespräch über Dieses und Jenes. Es ist ihr egal, welches Thema angesprochen werden soll: über Landschaften, Jesus, Hitler oder Howard Hughes - es ist ihr völlig egal. Der von ihr so Angebetete schweigt aber beharrlich. Am Bass begleitet von Jaco Pastorius, schrubbt Mitchell ihre Gitarrenriffs herunter; so impulsiv, wie ihr Text auf den Zuhörer einwirken muss. Es folgt das wundervolle "Jericho". Ein melancholisches Lied über die Hochgefühle in den Phasen des Verliebtseins. Ihre Mauern, die sie rund um ihre eigene Persönlichkeit aufgebaut hat: Sie fallen, wie einst jene in Jericho. Exzellent untermalt von ihrer zusammengestellten Combo, bestehend aus Bass, Schlagzeug, Bongos und dem von Wayne Shorter getriebenen Sopran-Saxophon mutiert der Titel zu einem rhythmischen Jazzstück.
Die zweite Seite der LP besteht nur aus dem Stück "Paprika Plains", einer Hommage an die Schönheit der Landschaften während ihrer Traumreise und der Rückkehr zu ihrem Wohnort. Jene Impressionen, die Joni gesanglich herüberbringt, könnten aber auch für jene x-beliebigen Reisen und Fahrten durch x-beliebige Regionen zutreffen. Das Opus "Paprika Plains" wird von Joni Mitchell auf dem Piano gespielt, unterstützt von dem durchgängig knurrenden Bass von Jaco Pastorius, sowie einem orchestralen Mittelteil mit Streichinstrumenten, ehe ein donnernder Schlagzeugeinsatz den finalen Saxophon-Part von Wayne Shorter ankündigt. Eine stilistische Gratwanderung zwischen dem Jazz-Rock, dem folkloristischen sowie dem klassischen Genre. Die orchestrale Passage wirkt zwar leicht überzogen, sie gibt dem Stück jedoch eine recht einprägsame Kehrtwende, denn das metallisch hämmernde Klavier und die tendenziös monotone Stimme von Mitchell könnte den Zuhörer leicht dazu bringen, das Stück nach wenigen Minuten auszublenden. Dass er dies letztlich nicht tun wird, liegt vor allem am finalen Einsatz von Wayne Shorter und Jaco Pastorius.
Auf der dritten Seite des Doppelalbums findet sich der Song "Otis And Marlena", der von dem glamourösen Rentnerleben, das dem Hang zum Zwang auf ewige Jugend und Schönheit folgt auch dann noch unterliegt, wenn die hochbetagten, aber reichen und superreichen US-Witwen in Miami Beach längst einen bestellten Vormund und Vermögensverwalter ertragen müssen. Ein von Sonne und Meer versüsstes Nichtstun, während zwei Jugendliche (Otis und Marlena) ihrerseits, die ärmlichen Lebensbedingungen vor Augen, nach dem eigentlichen Sinn des Lebens suchen, verschwenden diese reichen Witwen ihr Geld für plastische Schönheitschirurgie und unnütze Luxusgüter: widersprüchliches Amerika. Dennoch stellt der Text kein politisches Statement, sondern eher eine Momentaufnahme dar, in der sich der Traum von Reichtum und Luxus herausschält, der für die Mehrzahl der US-Bürger nie in Erfüllung geht. Joni´s Gesang und ihre akustische Gitarre werden von einer dezent gespielten elektrischen Gitarre, einem Schlagzeug und einem Piano begleitet.
Es folgt der annähernd 7-minütige Instrumentaltitel "The Tenth World ", eigentlich ungewöhnlich für eine ansonsten singende Musikerin, die zudem grossen Wert auf aussagekräftige Songtexte legt. Ein Conga- Bongo- und Trommel-Inferno, begleitet von undefinierbarer Stimm-Akrobatik. Ein erfrischendes Stück mit afro-arabisch folkloristischen Zügen. Die dritte Seite des Albums endet mit dem Titel "Dreamland". Ähnlich wie beim vorgängigen Stück, gibt Gastmusikerin Chaka Khan einige Gesangspassagen zum besten und verleiht diesem Song das wiederum arabisch, resp. afro-amerikanische Flair, das mittels weitestgehend unbekannter Instrumente wie spezieller Snaredrums und Sandpaper Blocks eingespielt wird. Der Grundrhythmus ist auch hier von der Gitarre Mitchell´s bestimmt. Sie lässt ihr Traumland in den kanadischen Weiten beginnen, begibt sich dann textlich - wohl auch real - in die Mitte Nordafrikas, dort wo die Kulturen des Okzidents mit denen des Orients verschmelzen und die gnadenlos brennende Sonne die Haut der Menschen fast schwarz eingefärbt hat. Eine musikalische Reise jenseits der Alltagshektik der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrem materiellen Götzentum. Wenn sie ihr Traumland verlässt, um zurück in den kalten Winter Kanadas zu fliegen, verbleibt die Erinnerung an jene andersartige Welt als Sand in ihren Schuhen, den sie in dem geschäftigen Treiben des Molochs New York verstreut. Ein Stück Musik zum Träumen, zum Sinnieren über die andere Seite des Lebens, des friedlichen Zusammenseins unterschiedlicher Menschen und deren Kulturen.
Auf der vierten Seite ihres Albums hat Joni Mitchell den Titelsong als Einleitung eingeflochten. "Don Juan´s Reckless Daughter" - ein unbekümmert und sorgenfrei lebendes weibliches Geschöpf möchte sie selbst eben nicht sein, auch wenn sie dies hier im Songtext so darstellt. Wieder erklärt sie eine mythologische Zeitreise in eine von ihr ersonnene Traumwelt. Inmitten einer Landschaft von fast erdrückender Schönheit, jenem Teil von Amerika, der sich gottesfürchtig und - wohl eher nur oberflächlich - sorglos zeigt. Hier ist der Amerikaner noch mit der Natur verschmolzen, hier ist die Zeit des "go west, young man" noch lebendig, weil nämlich auch stehen geblieben. Staubblinde Fenster von uralten und quasi in sich zusammenfallenden Holzhäusern, die an Strassen stehen, deren Modernität allenfalls in dem Aufstellen von handgeschriebenen Werbetafeln zu sehen ist und die jene Honky Tonk Bar und Whiskey Saloon Atmosphäre versprühen, wie sie John Wayne in seinen unzähligen, gleichförmigen Westernfilmen glorifiziert hatte. Ihre Einwohner lassen noch eine Ära durchschimmern, in der des Mannes Wort und sein Colt nicht nur etwas galten, sondern das Gesetz verkörperten. Joni lebt diesen Song, in dem sie ihn - durch jene, oft ans Nervige grenzende Gesangsdarbietung - im Verbund mit den Gitarrenriffs predigt. Is this (not) America ? Die treibende Gitarre ist noch nicht vollständig ausgeblendet, da erklingen bereits die ersten Töne von Off Night Backstreet ". Ein eher verzweifelter Versuch, die Intention einer Zweitfrau erklären zu wollen, die quasi ihr Liebesleben, ihre Gefühle an einen längst besetzten Mann formuliert; wohl wissend, dass dieser eher die schwarzhaarige Konkurrentin, statt sie, favorisiert. Das Lied wird durch eine vokale sowie orchestrale Hintergrundbegleitung erheblich aufgepeppt.
Das Album endet mit "The Silky Veils Of Ardor". Gerade dieses Stück, von Joni Mitchell nur alleine vorgetragen, wird zum Widerpart des leicht überfrachteten Opus "Paprika Plains". Es könnte, so wie bei mir, damit leicht zu einem Favoriten gekürt werden. "I´m a poor wayfaring stranger, travelling thru all these highs and lows” – eine bekannte Textzeile, leicht abgewandelt, aus dem Standard “Wayfaring Stranger”. Selbstsuche? Vielleicht. Ein philosophisch angehauchter Erklärungsversuch, zu den Inhalten, die das Sein und Dasein abseits der permanenten Suche nach dem Lebensglück und einem passenden Partner sonst noch zu bieten hat. Viel Fassade und aufgesetztes, ja gekünsteltes Drumherum, produziert von Mitmenschen, deren immanentes Bestreben es ist, selbst das Glück im Leben zu finden, weitab mit den Plastikveilchen aus Ardor. Herrlich.
Zur Besetzung auf diesem Album bleibt noch zu erwähnen, dass Joni Mitchell auch hier zwei völlig unterschiedliche musikalische Welten miteinander verban: Jazzmusiker auf der einen Seite – eher im Countryrock und -Pop angesiedelte Künstler auf der anderen. Jaco Pastorius und John Guerin, Wayne Shorter und Larry Carlton als ausgewiesene Top Jazzmusiker, im Zusammenspiel mit Eagles- und Countryrock-Musikern wie Glenn Frey und John D. Souther. Dazu Soulkoryphäe Chaka Khan und die weiteren, ebenfalls stilistisch grenzüberschreitenden Musiker Don Elias (Perkussionsinstrumente), Michael Colombier (Klavier), Alejandro Acuna (ebenfalls Perkussionsinstrumente) Airto Surdo (Bass Drum) und Michael Gibbs als Arrangeur der orchestralen Darbietungen.
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