Mar 18, 2016

VARIOUS ARTISTS - Definitiv: Zürich 1976-1986 (Definitiv Records DEF 001, 1986)
VARIOUS ARTISTS - Definitiv 2: Zürich 1987-1997 
(Rec Rec Records Make Up 17, 2003)

Die Zürcher Punk-Mutter Sylvia Holenstein von der Band Mother's Ruin sagte einmal, dass der Punk aus Langeweile heraus entstanden ist. Das ist vielleicht nicht einmal so falsch, denn Mitte der 70er Jahre war Zürich in der Tat ein trostloses Pflaster für Jugendliche. Enzo Esposito vom Kabarett Götterspass, in den 70er Jahren hautnah am Punk der Zeit mit seiner Band Ladyshave, analysierte feinsinnig, dass es innerhalb der Rockmusik ausser Langeweile und zappaesken Gähn-Intellektualismen eigentlich nur grad das gab, was die pubertierende Schwester sich so anhörte: Suzi Quatro oder Glitter-Rock. Seiner Meinung nach war allerdings der Glam-Rock, wie er später genannt wurde, so etwas wie die Initialzündung für den späteren Punk. Schwelbrand nannte man dann wohl das, was sich bereits ab 1972 in den USA abzeichnete: Der Mut zum Glitzern, verbunden mit aggressiver Musik, die dem entweder von dumpfem Kommerz oder dann von intellektuellem Progressiv-Sound dominierten Musikzirkus gegensteuern wollte. Die Frage, die sich Experten damals stellten, war höchstens: Geht die neue musikalische Revolution wirklich von rosaroten Plateauschuhen, glitzernden Anzügen und Vokuhila-Frisuren aus ? Ich meine, trotz der bahnbrechenden New York Dolls, den Hollywood Brats oder den legendären Dictators: Nein. Der Fun, die politische Kraft und die musikalische Aggressivität waren schon vorher. Ihre Protagonisten hiessen MC5, The Stooges oder Count Five und sie verkörperten die donnernde Ablehnung gegenüber dem Establishment, pissten auf Regeln und Grundsätze, missachteten jegliche Umgangsformen, indem sie einfach ihre Eigenen definierten und in die Welt hinaus schrien, und wer sich bei entsprechender Blütenbeschallung nicht gerade im Drogennebel an psychedelischer Heilsfindung versuchte, zertrümmerte wie von Sinnen Mobiliar an Konzerten, bei welchen man meist nicht so recht einschätzen konnte, wer denn nun die grösseren Rüpel sind: die Musiker oder das Publikum. Nachdem diesen sogenannten Garage Rock Bands die Zähne gezogen waren (bisweilen auch durch die Gesetzeshüter, die ja schon beim Anblick von Pilzköpfen etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt zuvor in Bereitschaft standen, oder noch früher Eltern ihre Blagen "mit dem/der stimmt doch was nicht!" ins Heim steckten, wenn sie den Hüftschwung von Elvis nachäfften), wurde es wieder ruhiger in der Welt der Jugendlichen und wer nicht gerade intellektuell von warmweichen Folk-Softies penetriert werden wollte, suchte sein Heil im verfrickelten Intellektuellen-Progrock. Fehlte für beides der Intellekt, resp. das Schmuse-Gen, blieb immer noch der Hitparaden-Einheitsbrei, der immerhin auch endlich mal etwas mehr Rock-Anteil bot.

Etwa ab 1976 begann sich die zu erwartende Eruption sichtbar abzuzeichnen. In Zürich ging die Saat im Herbst 1977 im Club Entertainer im Niederdorf, dessen Stammgast ich war, auf. Dort gab es die ersten Pogo Parties, an die ich mich heute noch gut erinnern kann. Das war einfach kompromisslos geil. Die ersten musikalischen Sprosse des Züri Punk waren Rudolph Dietrich und seine legendären Nasal Boys, die keinen Deut von ihrem Credo "länger, härter, schneller" abweichen mochten, bis das Business sie einholte, ausbremste und ihnen den Namen Expo verpasste. Ebenfalls zu den Pionieren gehörten Sperma, die mit ihrem Stück "Züri Punx" auch gleich die Hymne für die Zwinglistadt lieferten. Auch Sperma habe ich live erlebt: Die konnten nix, aber das perfekt. Wunderbar! Für mich waren sie die ultimativen Helden - damals wie heute. Peter, Päde, Tommy und Turi: Vier lustige und ehrliche Dilettanten, die in meinen Augen als Einzige das Prädikat 'Punkmusiker' verdient gehabt hatten.

Wie jede Musikrichtung wurde auch der Punk schon bald kommerzialisiert. Hip und chic, wie es damals war, mit Schliessnadeln im Gesicht rumzupöbeln, verschlissene Klamotten zu tragen (selbst bemalt!) und entsprechende Nicht-Frisuren salonfähig zu machen: Die Schickeria war nicht weit weg und proklamierte das "anders sein" umgehend zum Lifestyle. Rudolph Dietrich hatte diesbezüglich im Scene-Zine "Wah-Wah" erzählt, wie er mit seinen Nasal Boys von der Plattenfirma CBS unter Vertrag genommen wurde. "Wir kamen zur CBS als Nasal Boys und mit einer klaren Linie. Sie haben uns dann beides kaputt gemacht. Sie haben von uns einen neuen Namen (Expo) und ein neues Image verlangt. Ihr Vorgehen ist etwa so: Sie rupfen Dich wie ein Huhn, stellen Dich vor den Spiegel und werfen Dir dann vor, hässlich und ohne Federn zu sein. Und dann musst Du Dir Federn zulegen, die ihnen passen."

Im Jahre 1980 begannen in Zürich die sogenannten Krawalljahre, nachdem der Stadtrat einen Riesenkredit für das Opernhaus bewilligt hatte, und damit die Jugend in Zürich brüskierte, weil praktisch zeitgleich ein sehr viel kleinerer Kredit für den Um- und Ausbau des Jugendhauses „Drahtschmidli“ abgelehnt wurde. Damit nahm eine Jugendkultur die Zügel in die Hand, deren Lieblingsausdrücke „amore e anarchia“ waren. Es folgten Demos mit Gummigeschossen und Tränengas, umgestürzten Containern und abgefackelten Autos. Die Jugendszene machte sich in einem dem Abbruch geweihten Haus in der Nähe des Hauptbahnhofes breit, indem sie dieses Haus kurzerhand besetzte. Damit war das AJZ (Autonome Jugendzentrum) geboren. Es kamen viele neue Punkbands, die zu diesem hoffnungslosen Krieg mit der Obrigkeit, der von einer desillusionierten Jugend ausging, den musikalischen Soundtrack lieferten. Obwohl Punk nie etwas mit politischer Agitation zu tun hatte, wurden etliche Musiker und Bands genau hierzu missbraucht und die Jugendbewegung erklärte so manchen Act zum Vertreter ihrer Sache, was später zu einer Zersplitterung der Jugend führte. Aus der ursprünglich gebündelten "Kraft durch Freude" (Bandname) wurde letztlich eine Kleingrüppchen-Szene, die sich auch noch gegenseitig anbiederte.

Trotzdem hallte der Punk in Zürich noch lange nach. Bis weit in die 80er Jahre standen ihre Protagonisten noch auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Nachdem die Obrigkeit das Aufbegehren der Jugend längst niedergeknüppelt und der Mainstream die musikalischen Wogen blütenweiss geglättet hatte, spielten die Dressed Up Animals, Sarah Röben oder Unknownmix dann einen sehr eigenen, von der New Wave inspirierten Sound, der viel Eigenständigkeit und Forschungsdrang offenbarte, sei es in Richtung klassischem Pop, Jazz oder auch Avantgarde. Die Sammlung "Definitiv 2: Zürich 1987-1997" zeichnet dann die Post Punk-Dekade nach. Zürich wurde zunehmends kosmopolitischer, aber auch mondäner und vor allem: teurer. So erstaunt es nicht, dass lange Zeit Bahnreisende, die in den Hauptbahnhof von Zürich einfuhren, ein riesiges visuelles "Willkommen" sehen konnten, in Form des Schriftzuges "Zureich" und der Hausbemalung "Alles wird gut". Das Wohlgroth-Areal, ein ehemaliges Fabrikgelände an bester Lage, diente vielen Künstlern als Kulturfabrik, teilte die Stadtbewohner jedoch in zwei Hälften. Die einen schimpften es Schandfleck, die anderen stilisierten es zu einer Art Zürcher Christiania hoch. Bemerkenswert und ein typisches Statement, das die damalige Situation in Zürich bestens umschreibt waren die Worte, die Stadtpräsident Josef Estermann nach einem erneuten "Nein" bei der Abstimmung der Zürcher Stimmbürger zum Erhalt und Ausbau des Kanzlei-Zentrums von sich gab: "Frauen, Ausländer und alternative Kultur haben in der Stadt Zürich momentan keine grossen Sympathien." Auch die offene Drogenszene beim Landesmuseum und später auf dem Letten-Areal gingen als schockierende Bilder um die Welt. Sehr her die schöne Weltstadt Zürich: So reich und so kaputt.

In den 90er Jahren entstanden in und um Zürich dann etliche Szenenlokale, Clubs, Hallen und Treffs: Der Mainstream war in Zürich angekommen und hatte sich etabliert zum abgestumpften Konsumterror. Längst gab es kein Wohlgroth-Areal mehr (abgerissen), kein Autonomes Jugendzentrum (abgerissen) und keine Drogenszene mehr (weil nicht sein kann, was nicht sein darf). Stattdessen ein breites Angebot an allen möglichen kulturellen oder kommerziellen Möglichkeiten, sich zu vergnügen. Je nach Betrachtungsweise kann das als positiv oder negativ gewertet werden. Was sicherlich heute nicht mehr existiert, ist irgendein Pioniergeist, sowohl in der Gesellschaft wie auch im musikalischen Schaffen. Warum auch ? Ist doch alles so schön bunt und unkompliziert heute. Stromlinienförmig leben ehemals unvereinbare Weltanschauungen glattgebügelt in friedlicher Koexistenz nebeneinander. Quadratisch, praktisch, gut.

Die beiden liebevoll zusammengestellten Sampler "Definitiv" zeichnen einen grandiosen Umriss dieser Stadt, lassen in umfangreichen Beilagen Musiker, Medienschaffende, Kulturbeautragte und Szene-Kenner zu Wort kommen und bieten musikalisch eine phantastische Reise von archaischem Punk-Dilettantismus über fönfrisiert-kühlen Champagner-New Wave bis hin zu avantgardistischen Klängen und frühem Techno. 75 Perlen stadtzürcherischen Musikschaffens, das in seiner Individualität kaum umfangreicher und farbenfroher sein könnte. Aber egal, in welche musikalische Richtung die alten Helden meiner Jugend auch gingen: Sie sind immer meine Helden geblieben. Viele von ihnen habe ich auch persönlich kennenlernen dürfen.

Detaillierte Infos zu den beiden Samplern, zu Bands und Musikstücken kann man auf der "Definitiv"-Webseite finden:

http://www.definitiv-zuerich.ch/

Der Berner und Wahlzürcher Stephan Eicher, heute ein Weltstar, beschrieb seine Musik im Juni 1982 in einem Szene-Magazin: "Ich mache, was Jeder in sich hat und was ich verstehe. Meine Musik kommt aus dem Herzen, ich spüre sie mit dem Magen und natürlich ist auch etwas vom Schwanz drin."

Alles wird gut.

 



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