Jan 5, 2018


THE DEAD BROTHERS - Wunderkammer (Voodoo Rhythm Records VR1231, 2006)

Das vierte Album der Dead Brothers (den Soundtrack zum Tatowierer-Film 'Flammend Herz' eingeschlossen) geriet wahrlich zu ihrem besten und ausgereiftesten Album bis dato. Das Label Voodoo Rhythm Records brachte es auf den Punkt und nannte "Wunderkammer" schlicht 'The White Album of the Dead Brothers'. Die Schweizer Band mit Mitgliedern aus Genf, Bern und Zürich und verwandschaftlichen Wurzeln in Nordafrika und Australien, verband in ihrer "Wunderkammer" auf unnachahmliche Weise eine Rock'n'Roll-Herkunft mit Zigeunermusik, Country, Swing und von verschiedenen Blasinstrumenten geprägte Trauermarsch-Musik, welche einer Begräbniskapelle aus vergangenen Jahrhunderten gut gestanden hätte. Neben Songs, die perfekt ins bekannte Dead Brothers-Repertoire passten, gab es zusätzlich einen griechischen Swing, eine wunderschöne Coverversion des durch Marlene Dietrich bekannt gewordenen Friedrich Holländer-Stücks "Wenn ich mir was wünschen dürfte", sowie zwei vom Neueinsteiger Delaney Davidson komponierte Songs, die genausogut der Feder von Leonard Cohen hätten entstammen könnten.

Die Wurzeln der Dead Brothers ziehen sich sehr weit zurück durch die Musikgeschichte. Seit 20 Jahren graben sie an ihren Gräbern. Punk Rock, Country und Blues sind nur ein Teil ihrer komplexen DNA, die ähnlich veranlagt ist wie die, ihrer nahen Verwandten Cab Calloway, Kurt Weill’s Drei Groschen Oper oder den Grössen der Europäischen Folklore-Instrumentalisten. Einige Bandmitglieder beleben seit Ewigkeiten die Schweizer Folk Szene (Landstrichmusig, Patent Ochsner, Echo, d’Giigemaa), andere wiederum stecken tief in der Theater-, Comedy und Film Szene (Stadt Theater Hannover, les Trois Suisses, 9 Volt Nelly) - Einige sind Orchesterleiter oder Italienische Sänger. Und bevor die Dead Brothers überhaupt zusammenfanden, spielte Dead Alain 17 Jahre bei der Genfer Punk'n'Roll-Band Les Maniacs. Alle finden für ihre Sehnsüchte ein Zuhause in der Musik der Dead Brothers. 1998 öffneten sie Pandoras Box in der Blues und Psycho Swing mit ihrer akustischen Wut verschmolzen. Heute ist ihr Sound überall zu finden: Ob in Werbung für Autos, in Fernsehserien oder Filmen und natürlich bei ihren Konzertenreisen, die inzwischen durch mehr als 20 Länder führten. Gründe genug für die toten Brüder und Schwestern, immer noch an die verlorene Welt zu glauben, von der sie träumen.

In der Ferne schlurft, untermalt von Grillenzirpen, ein karger Rhythmus und nähert sich, als eine traurige Hawaiigitarre einsetzt. "Trust in me and close your eyes". Verführend langsam und unnachgiebig entführt die verzerrte Stimme sein Opfer tief in eine absonderliche Zwischenwelt, wo das süsse Gift einlullt, die Trompete aufbellt, die Orgel zwirbelt und eine verlorene Seele sich widerstandslos hingibt. "Slowly and surely your senses will cease to resist". Die Interpretation von "Trust In Me", wie überhaupt das musikalische Drehbuch der Dead Brothers, kennt anders als das Dschungelbuch, aus dem dieses Lied der Schlange im Original stammt, keine Rettung. Leidenschaftliche Hingabe, lieben, schwelgen, weinen, tanzen, trinken und lachen im Angesicht des Sensemanns stehen beim Hörer und Besucher dieser schillernden Welt auf dem Programm. Als Begräbnisorchester starteten die Dead Brothers 1998 mit Heimbasis Genf ihre Reise ins Jenseits im Rahmen der Rock'n'Roll Parade "Electric Circus". Sie vertilgten unterwegs Hank Williams in einer Rumpelkammer, liehen im Pfandladen ihr Instrumentarium, krachten mit rohem Punk, Delta Blues und europäischen Volksmusiken zusammen, enterten mit Gleichgesinnten das Juraschiff an der Expo und drangen bis in die so genannte Hochkultur als Theaterband vor (unter anderem Bertold Brechts Dreigroschenoper in Basel).

Nach den Alben "Dead Music For Dead People", "Day Of The Dead" und dem instrumentalen Soundtrack zum Dokumentarfilm "Flammend Herz" öffnete das fabulöse Quartett zum vierten Mal den Sarg. Ein Sarg freilich, der sich als unaufgeräumte, kuriose, tiefe und arg verwinkelte Wunderkammer herausstellte. "Wunderkammer" war denn auch der fast schon programmatische Titel des dritten regulären Albums der interkontinentalen Dead Brothers. In jeder Ecke und jedem Winkel lauerten neue Falltüren, die tiefer ins Labyrinth einer funkelnden Unterwelt führten. Einer Unterwelt, die so gar nichts Morbides an sich hatte, eher wie ein abenteuerlicher Spielplatz streunender Melancholiker wirkte und allenfalls mit den Phantasien in Tim Burtons wunderbarem Film 'Corpse Bride' vergleichbar wäre. "Wunderkammer" war das bis dato reichste Album der Dead Brothers. Im Kollektiv schrieben Alain Croubalian, Pierre Omer, Delaney Davidson und Christoph Gantert die Songs des Werks, projizierten eigene Visionen in fremdes Liedgut und schufen vielschichtige Arrangements für ihre von verschiedensten Stilen durchzogene, weltumspannende Musik. Wurde "Dead Music For Dead People" der Legende nach mit nur einem einzigen Mikrophon aufgenommen, loten die Vier nun im freien Spiel mit den Möglichkeiten des Studios neue, tiefe Dimensionen ihrer Musik aus.

Ohne die Rohheit der ersten Alben aufzugeben, pflegten sie in ihrer "Wunderkammer" die Liebe zum musikalischen Detail: Windsägen heulten im Hintergrund, exotische Stimmen tauchten auf, Spelunken-Klaviere malten verschwommene Stimmungsbilder und ergänzten das knorrige Stamm-Instrumentarium der Band (Banjo, Akkordeon, Gitarre, Blasinstrumente, Perkussion) aufs vorzüglichste. Traumwandlerisch eingesetzte Studio-Kniffe und Zitate wirkten nie verschwenderisch, nie beliebig, der multi-instrumentale Charakter der einzelnen Musiker wie auch die Band als Kollektiv gewannen deutlich an Tiefenschärfe. Und so labte sich der Hörer am kaputten, knochentrockenen Punk von "My Baby's White", trank im Bistro zu chaotischem Zigeunerjazz à la Django Reinhardt, stand im grossartigen "Just A Hole" lebensmüde an seinem eigenen Grab und landete in "The Story Of Woody And Bush" in einem staubigen Western Saloon, der sich in eine psychedelische Halluzination auflöste. Kurz: Die rauhen und doch zerbrechlichen, melancholischen und doch lachenden, widerspenstigen und doch einladenden Dead Brothers schlugen dem zagen Alltag einmal mehr ein Schnippchen.

Im Januar 2006 wurde überdies der Film 'He Who's Not Busy Being Born Is Busy Dying' lanciert. Der Regisseur M.A. Littler, der bereits für das Portrait über die musikalische Heimat der Band, dem heimischen Voodoo-Rhythm Label, verantwortlich zeichnete, begab sich dabei mit den Dead Brothers auf die Suche nach dem verbindenden Kern des Universums. Eine ewige Suche, die die vier beseelten, rastlosen Musiker mit ihrem Drang zur Kreation vorläufig in die traumhafte, surreale Wunderkammer führte. Zwischen Gorgol Bordello und Tom Waits fanden die Dead Brothers letztlich ihren Stuhl. In minimalistischem Sound machten sie bombastische Hörerfahrungen möglich. Ihr Album "Dead Music For Dead People" war diesbezüglich schon ein Überraschungserfolg, der auch in Punk Kreise eindringen konnte. Beerdigungsmusik gehört in unserem Alter ja mittlerweile zum Leben, und das ist ja jetzt nicht unbedingt die Art von Musik, die auf Teufel komm raus auf der Suche nach unbeackerten musikalischen Weiden nervt, sondern das sind Musiker, die ganz relaxt das tun, woran sie Freude haben. Damit werden sie Generationen von schlechten Plagiaten zum Vorbild dienen, aber die Dead Brothers sind das Original. File under: Garage, Jazz, Country, Gypsy Punk & Rock'n'Roll. Verwirrt ? Das ist gut so.



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