THE STRANGLERS - Rattus Norvegicus IV
(United Artists Records UAG 30045, 1977)
"Rattus Norvegicus" war das Debütalbum der britischen Band The Stranglers. Das Album fiel in die Blütezeit des Punk in Grossbritannien. Es wurde im April 1977 von United Artists Records veröffentlicht und erreichte auf Anhieb Position 4 der britischen Albumcharts, was es zu einem der erfolgreichsten Alben der britischen Punk-Ära machte. "Rattus Norvegicus" ist das Taxon der Wanderratte. Die Benennung der Platte ist nicht ganz eindeutig. Das von Paul Henry gestaltete Frontcover trägt den Titel "The Stranglers IV", der offizielle Titel "Rattus Norvegicus" ist lediglich auf der Rückseite vermerkt. Ursprünglich sollte das Album "Dead On Arrival" heissen, der Name wurde jedoch kurz vor der Veröffentlichung geändert. Geplant war zunächst die Veröffentlichung eines Livemitschnitts eines Konzertes von 1976. Dieser Plan wurde aber auf Grund der schlechten Qualität der Aufnahme fallengelassen. Textlich handelten die Stücke auf "Rattus Norvegicus" von Alltagssituationen und Personen aus dem Umfeld der Band. Aus diesem Rahmen fallen lediglich "Goodbye Toulouse" mit Bezug auf Prophezeiungen des Nostradamus und "Ugly" mit Bezug auf ein Gedicht von Percy Bysshe Shelley. Die Aufnahmen und die gesamte Produktion inklusive Abmischung des Albums durch Martin Rushent dauerten lediglich eine Woche. Die Liste der Titel entsprach dem damaligen Liveset der Band.
Im Rahmen der Aufnahmen wurde etwa die Hälfte des Nachfolgealbums "No More Heroes" mitproduziert. Den ersten 10000 Exemplaren der LP "Rattus Norvegicus" war eine Gratissingle mit den Liedern "Peasant in the Big Shitty" (live) und "Choosey Susie" beigelegt. Das Lied "Peaches" musste für britische Radiostationen wegen zahlreicher sexueller Anspielungen mit einem alternativen Text neu eingespielt werden. Aber auch in seiner 'entschärften' Form enthielt das Stück noch eindeutig-zweideutige Aussagen: "Walking on the beaches, looking at the peaches". Doch das als Single sehr erfolgreiche "Peaches" war nicht der einzige Höhepunkt auf diesem hervorragenden Album, das trotz seines einmaligen Live-Charakters auch über einen hervorragenden Klang verfügt. Schon der Einsteiger "Sometimes" war eine Granate. Der Song stürmte gleich von Anfang an los wie eine Rakete, der gehetzt wirkende Gesang befeuerte die ungestüme Grundstimmung des Titels noch zusätzlich. "Goodbye Toulouse" wirkte mit seinem knorrigen Bass, der völlig hyperventilierenden Kirmes-Orgel und dem schnellen Rhythmus wie ein aus der Bahn geworfenes Karrussell, das sich zuerst immer schneller dreht und danach aus seiner Verankerung reisst. Bei diesem Stück konnte man am ehesten einen typischen Punk-Charakter ausmachen auf einem Album, das ansonsten so gar nicht nach Punk klingen wollte, sondern aufgrund seiner eher im "vintage" Bereich angesiedelten Instrumentierung eher wie eine Art Rock Platte von 1973 klang - den Platten von David Bowie oder Be Bop Deluxe nicht unähnlich.
Das dritte Stück "London Lady" allerdings konnte man durchaus als waschechter Rock'n'Roll britischer Prägung bezeichnen. Hier schimmerte der Glanz der frühen Dr. Feelgood durch. Der Gitarrenlauf erinnerte frappant an jene Läufe von Wilko Johnson, die der Gitarrist später auch auf seinem Album "Solid Senders" präsentierte. Sehr elegant zieht der Song ab durch die Decke und wieder lieferten die Stranglers einen Beweis dafür, dass man sie nicht in die Punk-Schublade stecken konnte. Auch das nächste Stück war ein Volltreffer und einer meiner Lieblingssongs der Stranglers überhaupt: Die schmierige, angeblueste "Princess Of The Streets", betrachtet von ihrem Ex-Lover in einer muffigen, kalten und verdreckten Butze, in der nur der Zigarettenrauch noch für Stimmung sorgt. Ein herrliches Stück depressive Stimmung, das jedoch im Verlauf einen wunderschönen Refrain erfährt, den man so in diesem Stück überhaupt nicht erwarten würde. Das schon fast entrückte, sehnsuchtsvolle Gitarrensolo tut sein übriges und macht aus dieser Nummer eine der besten dieses Albums.
"Hanging Around" ist dann wieder vorwärtstreibend, der knorrige Bass von Jean-Jacques Burnel dominiert hier wieder zusammen mit dem prägnanten und mit für den typischen Frühsound der Band verantwortlichen Orgel von Dave Greenfield, der 1975 zur Band stiess, nachdem der Gründungs-Keyboarder Hans Wärmling noch vor den Aufnahmen zur ersten LP aus der Band ausgeschieden war. "Hanging Around" klang hart und trocken, besass wie alle anderen Songs auch diesen typischen Live-Charakter und erinnerte am ehesten an einen Garage Rock mit entsprechenden stilistischen Verweisen an die 60er Punks wie MC5 oder The Stooges. Das vierteilige "Down In The Sewer" war ein weiterer Höhepunkt dieses Werks. Das sich über 7 1/2 Minuten ziehende Stück überzeugte durch längere Soloteile und eine extrem angriffige Lyrik. Ueberhaupt mass die Band nicht nur auf diesem Debutalbum den Songtexten eine grosse Bedeutung bei: In ihren Texten wurde oft das Leben der Underdogs thematisiert und in gleichnishafte Formen gebracht, gleichsam die dekadente Lebensweise in den oberen Schichten aufs Korn genommen. Dabei wechselten sich primitive Textpassagen mit anspruchsvolleren ab. Stilbildend war die Verwendung symbolbehafteter Tiere wie des Raben und der Ratte, letztere tauchte auch immer wieder im Schriftzug des Bandnamens auf.
Das Album "Rattus Norvegicus" hielt sich nicht weniger als 34 Wochen in den britischen LP-Charts und war damit eine der erfolgreichsten Platten der Punk Aera in England. Es war damit auch das dritterfolgreichste Stranglers-Album. Die beiden Nachfolger "No More Heroes" und "Black And White" erreichten jeweils noch höhere Charts-Platzierungen (beide Rang 2). Die Singles-Auskopplungen "Grip" und "Peaches" erreichten die Plätze 44 und 8 der Singles-Charts. Nach Streitereien und Prügeleien mit Journalisten hatte die Band um 1980 einen kurzzeitigen Tiefpunkt, als sie in Nizza wegen Aufwiegelung zu Unruhen im Gefängnis landete und Sänger Hugh Cornwell wegen Drogenbesitzes eine Haftstrafe absitzen musste. Danach wandelte sich auch der musikalische Stil der Band. Waren die ersten drei Studioalben noch eher ungestüm und vorwärtstreibend und begründeten den bis heute währenden Ruf als herausragende Band des frühen Punk, so leitete spätestens das 1980er Album "The Gospel According to The Meninblack" auf experimentelle Weise eine Phase anspruchsvoller Popmusik ein. Diese Phase sollte während der gesamten 80er Jahre den Stil der Band bestimmen und brachte weiterhin kommerzielle Erfolge.
Das 1981er Album "La Folie" enthält den grössten Hit der Stranglers "Golden Brown", mit dem die Band erstmals auch auf dem Kontinent erfolgreich war. Bis in die Mitte der 80er Jahre hinein hatte die Gruppe zahlreiche weitere Hits und konnte regelmässig in den Hitparaden landen, unter anderem mit Liedern wie "Strange Little Girl", "No Mercy", "Big In America" und "Always The Sun". Nachdem Ende der 80er Jahre der Erfolg nachliess und die Stranglers nur noch mit Coverversionen und Remixen ihrer alten Hits auffielen, trennte sich Hugh Cornwell von der Band und verfolgte eine Solokarriere. Seitdem knüpfte die Band wieder mehr an ihren ursprünglichen Stil an. Ergänzt um Paul Roberts und John Ellis, der inzwischen von Baz Warne ersetzt wurde, besteht die Band bis heute fort und veröffentlicht regelmässig Alben und Singles.
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