Dec 3, 2016


MAGMA - Zühn Wöhl Ünsaï Live 1974 
(MIG Made In Germany Records MIG 01102 2CD, 2014)

Für überzeugte Fans der Gruppe Magma war diese überraschende und lange in den Radioarchiven verschollene Aufnahme ein Traum: Live aufgenommen für Radio Bremen am 6. Februar 1974 präsentierte die Doppel-CD gut 40 Jahre nach der Erstausstrahlung im Radio eine Live-Performance von Christian Vander's Gruppe in bestechender Klangqualität. Von allen Magma-Archivaufnahmen dürfte "Zühn Wöhl Ünsaï" denn auch eine der allerbesten sein. Sie kann sich auf jeden Fall mit der bis dato erhältlichen Radioshow "BBC 1974 - Londres" messen: Superbe Klangqualität, musikalisch phantastische und künstlerisch hervorragende Darbietungen, sowie dieselbe Band-Besetzung. "Zühn Wöhl Ünsaï - Live 1974" präsentierte die leider nur kurzlebige, nichts desto trotz fabelhafte Besetzung aus Christian Vander (Schlagzeug und Gesang), Jannick Top (Bass), Claude Olmos (Gitarre), Michael Graillier und Gerald Bikialo (beide Keyboards), und den tollen Klaus Blasquiz mit seiner Perkussion, der auch Gesang beisteuerte. Diese hervorragende Bandbesetzung existierte von Januar 1973, als der Top-Bassist Jannick Top Magma beitrat, bis Frühjahr 1974, als der Gitarrist Claude Olmos die Gruppe verliess, und zwei der bahnbrechenden Alben von Magma, nämlich das exzellente "Mekanik Destruktiw Kommandoh"(auch bekannt als "M.D.K.") im Frühjahr 1973 und "Köhntarkösz" im April '74 hinterliess, welches auch schon Claude Olmos' Nachfolger, den ebenso hervorragenden Brian Godding präsentierte.

Was der Fan von Magma hier auf zwei CDs zu hören bekam, war letztlich ein sehr seltenes, absolut professionell aufgenommenes Konzert-Dokument einer Gruppe, die auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens angekommen war. Wer mit der Band Magma nicht ganz so vertraut ist: Christian Vander und Klaus Blasquiz erfanden eine eigene Sprache, nannten diese Sprache Kobaia. Wie Blazquiz erklärte, sollte Kobaia eine phonetische Mischung, bestehend aus slavonischen und deutschen Wortkreationen beinhalten, die vor allem passend zu ihrer Musik sein sollten. Diese Sprache hatte durchaus eine Aussage, wenn auch nicht Wort für Wort, sondern eher im Kontext zur Musik als phonetische Unterstützung, beziehungsweise als phonetischer Gegenpol zur Musik. Die Verbindung von Musik und Sprache war letztlich das Spezielle an Magma's Musik, aber natürlich nicht nur. Besonders live allerdings entfachte diese Mischung aus fremdartigem Sprach-Singsang und der ebenfalls recht eigenwilligen Musikart von Magma (der sogenannten Zeuhl Musik) eine unglaubliche Spannung. Da klangen diese phonetischen Einwürfe manchmal wie Sprachfetzen irgendwelcher Aliens, dann aber auch wieder wie mantraähnliche Gesänge, bisweilen recht chaotisch, dann aber auch wieder unglaublich melodiös und geheimnisvoll. Diese eigene Sprache erlaubte es Magma, ihrer oftmals improvisierten Musik auch eine Art improvisierten Gesang beizufügen.

Mit diesen aussergewöhnlichen Gesängen, zusammen mit der Intensität ihrer Musik und der brillianten Spielqualität der Musiker konnten Magma live ein unglaubliches Feuer entfachen. Der Gesang machte bisweilen sogar dieses spezielle Feuer erst richtig aus. So auch nachzuhören auf diesen Aufnahmen von 1974, als die Gruppe weltweit mit ihrem Album "Mekanik Destruktiw Kommandöh" bekannt geworden war. Ihre hier präsentierten Rhythmustiraden erfuhren an diesem Auftritt eine ganz spezielle Live-Atmosphärik, bei welcher immer wieder teils dramatisch verfremdete Stimmeinsätze zum Zug kamen, die manchmal total fremdartige Roboter-Monotonie mit niederfrequenten Stimm-Manipulationen vermischten, die aber zwischendurch trotzdem wieder sehr real und aussergewöhnlich gut gesungen waren. Musikalisch fusste auch hier wie auf anderen Magma-Alben vieles im Jazz, der aber nicht nur in freie Elemente auseinanderbrach, sondern sich vieler typischen Effekte der progressiven Rockmusik bediente und die teils so unvorhersehbar zusammengefasst wurden, dass Magma's Musikstil unmöglich nur als Jazz-Rock oder Avantgarde-, Underground- oder sonstwie-Rock benannt werden konnte. Magma Musik war immer vor allem Magma Musik. In all den vielen Jahren, seit Magma den Zeuhl-Sound praktizierten, hat es immer wieder Nachahmer gegeben, doch Magma waren stets einzigartig. Auch, weil Christian Vander vieles dem Zufall überliess: Er legte sich nie stilistisch fest, liess sich von Free Jazz gleichermassen inspirieren wie von der klassischen Musik, der Avantgarde etwa eines John Cage oder auch der progressiven Rockmusik.

Die erste der beiden CDs dieses Live-Erlebnisses von 1974 beginnt mit einer inspirierten und sehr spacigen, rhythmisch absolut drivigen Version des Songs "Sowiloi (Soi Soi)", einem Song aus der Anfangsphase der Gruppe Magma. Während das originale Stück aus dem Jahre 1971 wesentlich jazziger strukturiert war, interpretieren Christian Vander und seine Mitmusiker das Stück im Konzert wesentlich freier, es gibt viel Raum für Improvisation, vor allem von den Gesängen ausgehend. Das Stück fordert zusätzlich durch jazzige Tempiwechsel, verbunden mit einer verstörend psychedelischen Gitarrenarbeit und einem drängenden Bass, den Magma hier wesentlich mehr heavy einsetzten als auf anderen Platten, insbesondere auch auf Live-Alben. Danach folgt die erfolgreich als Studioplatte veröffentlichte "Mekanik Destruktiw Kommandöh" Suite. Sie erstreckt sich über 35 Minuten in etwa so lange wie die originale Studioaufnahme, obwohl der letzte Teil der originalen Suite mit dem Titel "Kreuhn Köhrmahn Iss De Hündin" weggelassen wird. Dies vermutlich vor allem deswegen, weil die originale Studiofassung über viele spezielle Effekte verfügt, welche die Gruppe live nicht umsetzen konnte oder wollte. Stattdessen überrascht die Gruppe hier mit einer brillianten "Mekanik Kommandoh" als Abschluss der Suite.

Für mich persönlich etwas überraschend ist beim Anhören dieser Konzertaufnahme, dass der Gitarrist Claude Olmos bei der "Mekanik Destruktiw Kommandöh" Suite relativ grosse Freiräume zum solieren erhalten hat. Dies entspricht einer relativ gut hörbaren Differenz zum originalen Studioalbum, was diesen kunstvollen Brocken aber nicht minder interessant macht. Es ist im Gegenteil ein sehr schönes Beispiel dafür, wie wandlungsfähig einerseits die Band Magma musizieren kann, und andererseits stellt es ein wunderbares Beispiel für die Improvisationsfähigkeit der Band insgesamt dar und ist auch eine Bestätigung dafür, wie perfekt die Musiker aufeinander eingehen können, wenn sie sich im Spiel finden und wieder loslassen. Dabei agiert Claude Olmos streckenweise so relaxed und beinahe schon konträr-gemütlich zum Gesamtsound, dass man fast meinen könnte, Grateful Dead's Jerry Garcia hätte sich auf die Bühne verirrt. Jannick Top's Bass-Arbeit ist Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Er bietet dem Rhythmus-Feuerwerk von Schlagzeuger und Bandleader Christian Vander locker die Stirn und die beiden treiben sich während der gesamten Suite permanent gegenseitig an. Es ist diese intensive Wechselwirkung zwischen hartem, fast heavy zu nennenden Rhythmus-Spektakel einerseits, und den gefühlvollen Gitarren-Einlagen andererseits, die diese Musik so ungemein spannend und intensiv im Erleben macht.

Klaus Blasquiz und Christian Vander wiederum teilen sich die Vocals, kommen zusammen und gehen wieder auseinander, sind aber immer weltfremd und doch so unglaublich präsent. Wem diese Sprachfetzen, die gutturalen Laute und zwischendurch diese intensiven "Chants" mag, der wird begeistert sein. Ausserdem spielt Blasquiz sensationell Perkussion, macht den Gesamtsound ungemein rhythmisch und wirkt auf den Zuhörer ungewöhnlich eindringlich: Diese, ich möchte mal sagen, eigentlich untanzbare Musik wird durch sein perkussives Spiel sofort tanzbar. Ich habe mal gelesen, dass Magma live im Konzert einen tranceartigen Zustand beim Publikum auslösen kann. Mir selbst war es leider bisher nicht vergönnt, die Gruppe live zu erleben, aber ich denke, das kann man gut nachvollziehen. Es gibt letztlich einige unterschiedliche Variationen der Suite "Mekanik Destruktiw Kommandöh", von denen ich auch einige schon gehört habe, oder sogar in meiner Sammlung habe. Von der Intensität her aber würde ich diese hier vom 6. Februar 1974 als die vermeintlich intensivste und spannendste bezeichnen, obwohl mir bewusst ist, dass ich noch lange nicht jede Version davon gehört habe.

Die zweite CD ist vor allem eine Christian Vander-Vorstellung. Mit seiner exzessiven Darbietung am Schlagzeug beweist er hier eindrücklich, warum er einer der weltbesten Drummer der Neuzeit ist. Was er an Rhythmik, Gegenrhythmen und Solo-Drumming praktisch fast gleichzeitig ineinander verschachteln kann, mit Elementen aus Jazz, Rock und freier Improvisation, habe ich zuletzt von Ginger Baker gehört. Komplexe Arrangements, unterlegt mit einsetzenden fremdartig wirkenden Chants und an eine Urschrei-Therapie gemahnende Kreischausbrüchen (Hallo Yoko Ono!) legen sich über "Korusz II". Eine Darbietung wie diese - so man diese überhaupt noch als "Musikstück" bezeichnen kann - hat nie Jemand gemacht, sowas kann nur Magma, dafür steht diese Gruppe für mich bis heute. Sollte mich jemals Jemand fragen, ob es Jemanden gibt, der sich an keinerlei Regeln innerhalb eines Songwritings hält und trotzdem noch gut nachvollziehbare Musik hinkriegt, dann müsste ich sagen, er möge doch unbedingt mal in den Magma-Kosmos eintauchen. "Korusz II" ist hierfür ein zwanzig Minuten langes perfektes Beispiel. 20 Minuten pure 'Vanderness'. Wer nach diesem akustischen Overkill noch immer aufnahmefähig ist, der kriegt gleich noch einen 26 Minuten langen Nachschlag in Form des Stücks "Theusz Hamtaahk", das hier ebenfalls in einer ungemein wilden und freien Form dargeboten wird. Super heavy und mit hypnotischen Bassläufen versehen, zeigt Gitarrist Claude Olmos nach einem gut fünf Minuten langen Intro ein abgedrehtes psychedelisches Gitarren-Feuerwerk mit Feedback- und Reverb-Orgien vom allerbesten. Erst nach sieben Minuten Gitarrengewalt setzt der eigentliche Song an sich ein: ein stetig an- und abschwellender Jam mit äusserst vielen Spannungsbögen, einerseits von den Instrumentalisten, die sich hier gegenseitig immer wieder anstacheln, begegnen, vereinen und wieder auseinanderdriften, andereseits von den Gesängen, die auch hier wieder wild und artikulationsstark in den Vordergrund stellen, wenn es der Jam erlaubt. Auch das wirkt in sich alles andere als improvisiert.

Die Klasse von Magma bedeutet für mich auch immer, dass Improvisation bei mir ankommt, als wäre sie perfekt einstudiert. Das ist ein Beleg dafür, wie gnadenlos perfekt die Musiker einander spüren, miteinander kommunizieren und auch jederzeit gegeneinander antreten können, um sich mit ihren Mitteln und Instrumenten zu bekämpfen. Wie lässt sich das Universum Magma abschliessend beschreiben ? Magma ist eine Eruption aus progressivem Rock, Jazz Fusion, Stoner, respektive Doom Rock und sogar Metal. Dazu kommen Elemente der Ambient Music, des Acid Rock und des Trance Sounds, dem Krautrock und der modernen klassischen Musik etwa von Bartok oder Stravinsky. Das ist naturgemäss dann auch nichts mehr für Normalsterbliche, die sich noch irgendwo Harmonie und Glückseligkeit in der Musik erhoffen. Wobei: Das sind eigentlich genau diese beiden Elemente, die mir bei Magma am allerbesten gefallen. Die Harmonie, die den Gegenpol Disharmonie ebenfalls in sich trägt, wird von Magma wie von keiner anderen Gruppe ins Herz, den Bauch und die Beine des Zuhörers transportiert. Die Glückseligkeit stellt sich bei Magma dann einfach nicht im Herz, sondern im Kopf ein.

Zusammenfassend kann ich sagen: Wer die Gruppe Magma um den schlagzeugspielenden Bandleader Christian Vander bereits kennt, für den stellt das Live-Doppelalbum "Zühn Wöhl Ünsaï: - Live 1974" ein absolutes Muss in der Sammlung dar. Dieses Konzert würde ich als absolut essenziell im Oeuvre der Gruppe bezeichnen. Es ist nach der Studioveröffentlichung von "Mekanik Destruktiw Kommandöh" die chronologisch folgerichtige Steigerung im Werk dieser ausgezeichneten und absolut exeptionellen Band. Für Magma-Einsteiger, die sich erst neu mit der Band beschäftigen möchten, stellt vielleicht das Live-Album von 1975 mit dem simplen Titel "Live" (das auch unter dem Namen "Magma-Hhai" bekannt ist) die zugänglichere Variante im Konzerterleben der Gruppe dar. Was "Zühn Wöhl Ünsaï: - Live 1974" so einzigartig macht, ist die perfekte und qualitativ hervorragende Aufnahme von Radio Bremen, welche diese einzigartige Musik so unglaublich fühl- und erlebbar macht. Nicht von dieser Welt.



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