FRANK ZAPPA & THE MOTHERS - Over-Nite Sensation
(Discreet Records MS 2149, 1973)
"Over-Nite Sensation" hiess das elfte Album von Frank Zappa und seinen Mothers Of Invention. Es erschien im Jahre 1973 auf dem Plattenlabel Discreet und war sein bis dato rockigstes Werk überhaupt. Nach seinem zwei Alben währenden Ausflug in jazzige Gefilde wandte sich Frank Zappa erneut der Rockmusik zu. Auffällig waren die musikalisch ebenso kompakt wie komplex strukturierten und für Zappas Verhältnisse auffallend kurzen Songs. Vom Publikum wurde das honoriert: Die Verkaufszahlen schossen empor, mit "Over-Nite Sensation" wurde erstmals ein Album der Mothers Of Invention vergoldet. Für die damalige Zeit aussergewöhnlich war die musikalische Komplexität des Albums als Ganzes. Insgesamt am Rock orientiert, boten die einzelnen Stücke genügend Raum für allerlei Querbezüge zu Jazz(-Rock), Soul, Funk und anderen Musikstilen. Für Zappa typisch waren hingegen die schnell gespielten Unisonoläufe, die er hier in manches Arrangement einflocht, und die ebenfalls für seine Arbeitsweise charakteristischen Klangeffekte, die den Hörfluss kurzzeitig unterbrachen. All das verpackte Zappa in kompakte, eingängige Songs. Unterstützt wurde dieser breiteren Hörerschichten zugängliche Aufbau der Stücke durch die subtile Abmischung, bei der Schlagzeug, Bass und Gesang meist deutlich im Vordergrund standen, während die anderen Instrumente, von den Soli abgesehen, nur dann im vorderen Hörraum erschienen, wenn es ihre melodische oder rhythmische Funktion unbedingt erforderlich machte.
Schon der Eröffnungssong "Camarillo Brillo", vordergründig ein normaler Rocksong, überraschte den Hörer mit einfühlsam gesetzten Gitarreneinwürfen und sich subtil steigernden Bläserzitaten. "I'm the Slime" wiederum begann, wie viele andere Rocksongs enden – im kollektiv improvisierten Zusammenspiel der Musiker. Anschliessend nahm ein Bläsersatz den Refrain vorweg, dann mündete der Song in einen funkigen Rap, bei dem vor allem die cartoonhaft böse wirkende, tiefe Erzählstimme Zappas auffiel. Dem Refrain, in welchem die soulig singenden Ikettes zu Wort kamen, folgte bis zum Ausblenden des Titels ein rotzig-freches Gitarrensolo. Bemerkenswert war auch der Songtext: Zappa kritisierte die in jeden Winkel des Lebens eindringende Machtfülle des Fernsehens, derer sich die Herrschenden nur zu gerne bedienen – eine noch heute unverändert gültige Kritik. Der Rocksong "Dirty Love" wiederum bestach nicht nur durch ein wildes Wah Wah-Gitarrensolo, sondern stand auch für die hier erstmals zu findende Erwähnung des "Pudels" – wohl der bekannteste der vielen 'Running Gags', die Zappa immer wieder in seine Songs einbaute. In "Fifty-Fifty", das mit seinen harten Breaks noch am ehesten an Zappa typische Songs früherer Tage erinnerte, steuerten Keyboarder George Duke und Geiger Jean-Luc Ponty zwei bemerkenswerte Soli bei. Die Nummer "Zomby Woof" bot vor funkigem Hintergrund vertrackte Melodiefetzen, verschachtelte Rhythmusstrukturen mit 7/8- und 5/4-Passagen, die den als Grundlage dienenden 4/4-Takt überlagerten, dann wieder rockige Passagen, jazzige Bläserzitate und atonale Stellen, bis das Stück in ein bewegliches Gitarrensolo Zappas mündete.
Vor funkig-souligem Hintergrund entwickelte sich der Song "Dinah-Moe Humm" nach einem durchkomponierten Intro zu einem Rap, bei dem witzige instrumentale wie vokale Einwürfe das Textgeschehen ironisch kommentierten: Darin wettete eine Frau namens Dinah-Moe um 40 Dollar, dass niemand sie zum Orgasmus bringen könne; am Ende jedoch obsiegte der Held der Geschichte, indem er die etwas tumbe Schwester der Frau penetrierte, was Dinah-Moes Dynamo summen (englisch: to humm) liess. Ein weiterer Rap, das dadaistisch anmutende Hörspiel "Montana", beschloss das Album. Der Rockjournalist Volker Rebell sah darin "ein arrangementtechnisches Wunderwerk, vollgestopft mit grossorchestralen Passagen, Jazzrock-Bläserzitaten, vertracktesten melodischen und rhythmischen Figuren". Das Stück enthielt ausserdem ein einfühlsam-melodiöses, aber zugleich auch rauh anmutendes Gitarrensolo – vielleicht eines der besten, die Zappa je gespielt hat. Dem Solo folgte eine verschroben-diffizile Passage, die einen Eindruck vom Gesangsvermögen Tina Turners und der Ikettes vermittelte.
"Over-Nite Sensation" galt etlichen Rezensenten als das erste Frank Zappa-Album, das vornehmlich Stücke enthielt, die auch dem durchschnittlichen Radiohörer gefallen konnten, wenngleich die Texte den von Zappa schon gewohnten speziellen Humor enthielten. Waren seine früheren Platten eher ein Programm für Minderheiten, so gewann er mit dieser Platte einen neuen Kreis von Fans, ohne dabei seine alten zu verlieren – was sich in den Verkaufszahlen des Albums widerspiegelte. Für Carl-Ludwig Reichert war die Musik "überzeugender, moderner Rock". Zwar hatten sich die Mitmusiker dem straffen Arrangement-Korsett unterzuordnen und mit eng begrenztem Partitur-Spiel zu begnügen, hervorgehoben wurden dennoch die Einzelleistungen der Mitglieder dieser Mothers-Formation – für manchen damaligen Kritiker "vielleicht die musikalisch potenteste von allen". Gelobt wurden vor allem die Perkussionistin Ruth Underwood an Xylophon, Marimbaphon und diversen Schlaginstrumenten sowie der Keyboarder George Duke, den Zappa, wie er später selbst einmal formulierte, nach dessen Ausstieg immer nur noch durch zwei Keyboarder ersetzen konnte – anders war die Messlatte, die Duke mit seinen Beiträgen legte, kaum zu erreichen. An der Qualität der Texte schieden sich auch bei der Platte "Over-Nite Sensation" wie bei Zappa üblich, die Geister. Wo für den einen Unterbewusstes sichtbar wurde und sich Wort für Wort, ja Buchstabe für Buchstabe ironischer Genuss bot, stellten andere Zappas witziges Spiel mit Worten und sogar technischen Begriffen heraus, während Barry Miles Zappa wegen der sexlastigen unter den Texten zwar ein triebhaftes Interesse an derlei Dingen vorwarf, zugleich aber auch erklärte, dass man die Texte nur im Kontext der Zeit verstehen könne.
Das Album "Over-Nite Sensation" ist in vielen unterschiedlichen Varianten veröffentlicht worden. Nachfolgend im Überblick die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale. In den USA und in Kanada erschien die LP in einem aufklappbaren Cover, in Grossbritannien und Deutschland zunächst in einfachen Einsteckhüllen. Die deutsche Zweitauflage hatte dann ebenfalls ein Klappcover, ebenso die Ausgaben in Portugal, Griechenland, Japan (zum Teil mit siebenseitigem Text-Booklet versehen), Mexiko, Argentinien, Uruguay, Brasilien und Australien. Die europäischen Versionen besassen gegenüber dem US-Original ein nur zweifarbig (braun und schwarz) bedrucktes Innencover. Die aktuell in Europa erhältlichen CD-Ausgaben bieten dagegen wieder die mehrfarbige Variante. Bei der spanischen Version war nicht nur das Stück "Dinah-Moe Humm" durch den Titel "Eat That Question" vom Album "The Grand Wazoo" ersetzt worden. Auch auf dem Cover schlug der Zensor zu: Die Stellen an den unteren Ecken des Bildrahmens, wo Maiskolben kniende Damen befruchten, waren zum Teil geschwärzt worden. Ausserdem wurde im Innenteil des in schwarz/weiss gehaltenen Textblattes der Text von "Dinah-Moe Humm" gelöscht. 1973 erschien auf Discreet eine Single-Auskopplung mit "I'm The Slime" auf der A-Seite und "Montana" auf der Rückseite. Eine weitere Vinyl-Version des Albums erschien in dem zu Beginn der 70er Jahre neuen und bald wieder vom Markt verschwundenen Abspielformat Quadrophonic Sound.
Wiederveröffentlichungen erschienen in den USA 1977 auf Discreet Records (mit braunem Reprise-Label) sowie 1987 im Rahmen von "The Old Masters Box Three" auf Barking Pumpkin Records. Im Jahre 1986 erschien das Album in den Vereinigten Staaten auf Rykodisc Records erstmals auf CD. Dabei fiel nicht nur auf, dass "Over-Nite Sensation" und das Album "Apostrophe" (’) auf einer CD zusammengefasst worden waren, sondern auch, dass entgegen dem Zeitpunkt der jeweiligen Erstveröffentlichung die Reihenfolge beider Alben vertauscht wurde. Diese eigentümliche Doppel-CD erschien 1990 auch noch in Europa (auf Zappa Records), in Japan (auf VACK Records), in Australien (auf Rykodisc Records) und auch offiziell in Russland (unter der Labelbezeichnung JPCD). Als Einzel-CD kam das Album 1995 heraus. Zudem existiert eine japanische Ausgabe mit Papphülle im sogenannten "Mini LP CD"-Format, die 2001 erschien. "Over-Nite Sensation" war Zappas erster grosser Verkaufsschlager. In den USA schaffte das Album den Sprung in die Charts und kletterte hinauf auf Rang 32, die achtbeste Platzierung, die je ein Zappa-Album erreichte. Das Album blieb fast ein Jahr lang in den Charts. Etwas mehr als drei Jahre nach seinem Erscheinen überschritten die Verkaufszahlen am 9. November 1976 in den USA die erforderliche Marke von einer Million Exemplaren: Erstmals in seiner Karriere wurde Zappa mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.
Von all den vielen Werken im Oeuvre des Bürgerschrecks und musikalischen Genie Frank Zappa dürfte das Werk "Over-Nite Sensation" wohl das jenige sein, das man einem Zappa-Neuling als idealen Einstieg empfehlen kann. Wer sich von diesem Werk infiszieren lässt, der kann danach in das ebenso üppige wie musikalisch weit offene Universum dieses Musikers eintauchen und dabei so manch Ungewöhnliches entdecken. Eine solche Reise lohnt sich immer, bei Frank Zappa jedoch ganz besonders.
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