TOM WAITS - Orphans: Brawlers, Bawlers & Bastards (Anti Records 6677-2, 2006)
Tom Waits ist ein einzigartiger Künstler. So wie er seine Songs vorträgt, oder überhaupt nur schon komponiert, macht ihn zu einem echten Unikat in der Singer und Songwriter-Liga. So muss man das definieren, denn es gibt wohl keinen einzigen Künstler, der mit derart verschrobener Hartnäckigkeit und fernab jeglicher Mainstream-Ambitionen seinen eigenen Weg weg, der ohne Rücksicht auf irgendwelche vermeintlich normalen, jedenfalls gehörfreundlichen Hörgewohnheiten Rücksicht nimmt. Sperrige Songs schreibt er, und er grunzt und nölt diese sperrigen Songs mit derart viel Inbrunst und Ueberzeugung, dass gegen ihn eigentlich alle anderen herkömmlichen Songwriter ziemlich blass aussehen. Jedenfalls wirkt keiner der klassischen Singer/Songwriter so zerlebt, zerfahren und - ja, man muss das so sagen - ehrlich, direkt und scheuklappenlos. Tom Waits bedient sich äusserst geschickt aus dem Fundus der Musiktraditionen, agiert dabei wesentlich näher und direkter am Kulturgut als beispielsweise Rod Stewart's geradezu lächerlichen und müden Versuche, sich am klassischen amerikanischen Songbook zu bedienen. Tom Waits wirft stets einen besonderen Blick auf das, was der amerikanische Traum üblicherweise als Menschenabfall den Abfluss hinunter spült.
Waits bedient sich auch niemals irgendwelcher künstlichen Klangmittel, um irgendwie innovative oder gar moderne Sounds zu entwerfen. Lässt er sich dennoch dazu hinreissen, moderne Instrumente zu verwenden, dann klingen diese wiederum ganz anders als bei anderen Künstlern. Tom Waits ist auch ein grandioser Tüftler, der ganz einfach allem vermeintlich als normal Geltenden konsequent aus dem Weg geht. Mit "Orphans: Bawlers, Brawlers & Bastards" legte er vor 10 Jahren ein drei Platten umfassendes Werk vor, das opulenter nicht hätte sein können. Jede der drei Platten war für sich selbst strukturiert und enthielt diese abgründigen Geschichten, für die Tom Waits seit jeher bekannt ist: Streithähne ("Brawlers"), Schreihälse ("Bawlers") und Scheisskerle ("Bastards"). Dabei bediente er sich in seinem eigenen Gemischtwarenladen, bot quasi eine eigene Werkschau, indem er über Charakteren sang, schrie, flüsterte, stöhnte, über die er schon vor Jahrzehnten immer eine Geschichte zu erzählen wusste: Die Loser, die Abgewrackten, die Drogensüchtigen, die Huren, die Zuhälter, die Glücksspieler, die Blender, die Säufer und ganz allgemein die Randexistenzen. Tom Waits war und ist das Sprachrohr der Verlierer, er gibt ihnen seit jeher eine Stimme. Wenn Tom Waits über sie klagt oder singt, dann weiss man, dass es seine Figuren tatsächlich und in echt gibt. Es sind keine erfundenen Charaktere eines phantasievollen Songschreibers. Die Figuren, über die er singt, findet man in allen Gossen dieser Welt.
54 Songs präsentiert Tom Waits auf dieser opulenten Veröffentlichung. Dazu spendiert der Musiker ein 94 Seiten umfassendes Booklet, welches jeden Songtext abdruckt. Alleine dieses Booklet liest sich schon wie die Geschichte von vielen verlorenen Seelen, die sich vielleicht nicht kennen, sich auch nicht zwangläufig über den Weg laufen müssen, aber dennoch miteinander verbunden sind: Die Loser, auf die niemand wartet, die kein zuhause haben, die sich aus den verschiedensten Gründen im Leben nicht zurecht finden oder andere bescheissen und über's Ohr hauen, um es doch zu können. Arschlöcher und Geprellte: Sie begegnen sich in Waits' Liedern immer wieder und meistens vernebeln sie ihre Probleme im Suff oder drücken sie sich mit einer Fixe für einen kurzen Moment weg. Liebe finden Waits' Loser oft in der Hurerei: ein schneller Fick auf dreckigen Laken, ein bisschen Nähe bei einer Flasche billigem Fusel. Thematisch bietet "Orphans" fast die komplette Palette an Waits-Sounds, die ihn in den vergangenen Jahrzehnten bekannt gemacht haben.
Die erste Platte des Sets, betitelt "Brawlers" huldigt ausgiebig den billigen Kneipensounds, dem Blues, dem rauhen Rock'n'Roll und dessen Auswüchsen. Nicht umsonst bezeichnet Waits die hier versammelten Tracks als 'Juke Joint' Sounds, schliesslich gab es in den gleichnamigen Kaschemmen ordentlich viel billigen Fusel, Glücksspiel und reichlich Gelegenheit, sich körperliche Befriedigung zu erkaufen. Hurerei, Suff und Party kommen denn auch im eingängigen klanglichen Kostüm um die Ecke gerumpelt und geschunkelt. Das ist immer noch unverkennbar Tom Waits, aber ohne allzu sperrige Dreingaben, die den Genuss der Songs zur Kraftanstrengung werden liesse. Abstruses und Skurriles skizziert der Künstler ausserdem. So beschreibt Tom Waits zum Beispiel einen Gefängnisinsassen, der mit einer Fischgräte Oder ist schon einmal etwas von einem Knacki bekannt geworden, der sich mittels einer Fischgräte an den Gitterstäben sägt. Das hat schon fast Monty Python-Qualitäten.
Komischerweise fügt sich das zu einem harmonischen Gesamtkunstwerk zusammen. Der analoge Klangtüftler vereint in den unterschiedlichsten Situationen aufgenommene Songs unter einem einzigen grossen Hut. Sogar so etwas Ähnliches wie Gospel hat sich in die Songauswahl geschmuggelt. Der Traditional "Lord I've Been Changed" vergrummelt Waits tatsächlich so, als würde ein jovialer Reverend vor der Gemeinde stehen und den Herrn um Vergebung bitten. Rhythmisch einfallsreich wie eh und je versammeln sich die verschiedensten Instrumente zu einem stimmigen Potpourri, das in seiner Gesamtheit wieder eine Einheit bildet, selbst wenn beim ersten Hören alles irgendwie unzusammenhängend aus den Lautsprechern scheppert. Selbst absolut abgespeckte Nummern wie etwa "Lucinda", das lediglich mit Beatbox-Einlagen und spärlichen Gitarrenklängen auskommt, klingen eher fett als zurückgenommen. "Road To Peace" widmet sich dem Thema Nahen Osten und beweist gar Protestsong-Qualitäten.
Die zweite Platte mit dem Uebertitel "Bawlers" führt vom Titel her etwas in die Irre, versammelt Tom Waits unter dieser Bezeichnung doch seine melancholisch-balladeske Seite und agiert eher als Wehklagender im Walzertakt. Ganz grosser jazziger Sport: Das Teddy Edwards-Cover "Little Man" sowie das nachfolgende "It's Over", wo der Schlagzeug-Besen zum grossen Kehraus ausholt und sämtliche Barflys, Nutten und gescheiterte Existenzen zur Türe hinaus fegt. Die andere Seite des Tom Waits klingt in ruhigen Momenten hingegen sehr zärtlich und behutsam. "Long Way Home" und "Widow's Grove" legen ein eindringliches Zeugnis davon ab, dass Tom Waits auch ein emotionaler Brummbär sein kann.
Im letzten Abschnitt treffen wir die "Bastards", in dem Waits den vorangegangenen Schönklang Zug um Zug dekonstruiert. Da ist er wieder, der Schreihals, der räudige Hund, der einem die Rhythmen und Texte ins Gesicht spuckt und uns als musikalische Masochisten entlarvt. Hier holt Tom Waits wieder zum Rundumschlag aus und grummelt seinen Unmut in die Welt hinaus, wie er das schon seit Urzeiten gemacht hat. Diese dritte CD ist sicherlich die spannendste der drei, mit Songs die, wie der Titel andeutet, nirgendwo so richtig dazugehören. Hier finden sich vorwiegend experimentellere Stücke, Shanties, sardonische Sprechtexte, Vertonungen von Kerouac und Bukowski, ein faszinierender Monolog über die ekligeren Eigenschaften diverser fieser Insekten und einige höchst amüsante Anekdoten. Die meisten Songs der quer durch alle drei von Waits' Stimme und Vision und bewährten Kräften wie Marc Ribot, Larry Taylor, John Hammond, Ralph Carney, Greg Cohen und Michael Blair zusammengehaltenen Platten stammen wie üblich von Waits-Brennan. Dazu gibt’s aber auch noch diverse höchst eigenwillige Versionen diverser Werke von Huddie Ledbetter, bekannt als Leadbelly, bis hin zu den Ramones plus ein paar Traditionals, die sich Tom Waits so zu eigen gemacht hat, dass selbst Kenner zur Identifikation schon mal die Liner Notes konsultieren müssen.
"Eine Menge Songs, die hinter den Herd fallen, während man das Essen zubereitet" beschrieb Tom Waits selbst sein Werk "Orphans". Die Kollektion geht über eine einfache Retrospektive seiner Karriere weit hinaus. Mehr als 30 neu aufgenommene Songs - von Waits eigenen Versionen jener Stücke, die er anderen Künstlern überlassen hat, bis zu Nummern, die er mit seinen Kindern in der Garage aufgenommen hat. "Brawlers" ist randvoll mit knorrigem Blues und stampfenden Songs, "Bawlers" beinhaltet keltische Stücke und Country-Balladen, dazu Walzer, Lullabies, Piano und Songs mit typischen Tom Waits-Texten, während "Bastards" mit experimenteller Musik, Geschichten und Witzen gefüllt ist. "Orphans" ist aus meiner Sicht das wichtigste Dokument dieses einzigartigen Künstlers. Er ist unberechenbar und springt von Harmonie und Melodie über Blues bis hin zu verschrobenen Krach-Kaskaden.
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