Oct 1, 2017


ENO - Taking Tiger Mountain (By Strategy) (Island Records ILPS 9309, 1974)

Der britische Musiker Eno, mit vollem Namen Brian Peter George St. John le Baptiste de la Salle Eno, begann seine musikalische Karriere bei Roxy Music und trat neben seiner Tätigkeit als innovativer Musiker auch als Musikproduzent, Musiktheoretiker und bildender Künstler in Erscheinung. Eno besuchte das St. Joseph’s College Birkfield in Ipswich, die Ipswich Art School und die Winchester School of Art, die er 1969 abschloss. In der Kunstschule begann er Kassettengeräte als Musikinstrumente zu benutzen und spielte zum ersten Mal in Bands. Dabei wurde er von einem seiner Lehrer, dem Maler Tom Phillips, ermutigt. Dieser vermittelte ihm auch den Kontakt zu Cornelius Cardew's Scratch Orchestra. Die erste veröffentlichte Aufnahme, an der Eno beteiligt war, entstand für die Deutsche Grammophon, die Cardew's "The Great Learning", im Februar 1971 aufgenommen, herausbrachte. Eno war 1971 schliesslich einer der Mitbegründer von Roxy Music, für die der selbsternannte 'Nicht-Musiker' Keyboards und Synthesizer spielte. Besonders auffällig war seine an den Glam Rock-Chic angelehnte campige Aufmachung mit Federboa, Plateauschuhen und Glitzertüchern, die er mit exaltierten Bewegungen auf der Bühne kombinierte. Gleich nach dem zweiten Album "For Your Pleasure" im Jahre 1973 stieg er bei Roxy Music wieder aus und nahm eine Reihe von eigenen Alben auf, die zunächst vom Glam Rock, dann jedoch immer mehr von der Ambient Musik geprägt waren.

Zu dieser Zeit war er auch Mitglied der Portsmouth Sinfonia, einem ironisch ernsthaften Projekt, bei dem Nichtmusiker Instrumente spielten und Musiker Instrumente, die sie nicht beherrschten. Eno spielte dort Klarinette. Eno's Soloalben von 1973 bis 1977, "Here Come The Warm Jets", "Taking Tiger Mountain (By Strategy)", "Another Green World" und "Before And After Science" zeigten ihn als experimentierfreudigen und innovativen Popmusiker, der beinahe keine Grenzen ausserhalb seiner jungenhaften Stimme kannte. "Here Come The Warm Jets" war das erste Soloalbum von Brian Eno und wurde 1974 bei Island Records veröffentlicht. Stilistisch war "Here Come The Warm Jets" ein Hybrid zwischen Glam Rock und Artrock, ähnlich den vorherigen Alben mit Roxy Music, die Stücke gerieten jedoch experimenteller. Auf dem Album traten verschiedene Gastmusiker auf, so zum Beispiel Robert Fripp von King Crimson sowie Mitglieder von Roxy Music, Hawkwind, Matching Mole und den Pink Fairies. Bei der Produktion des Albums nutzte Eno ungewöhnliche Methoden. Er tanzte zum Beispiel vor den Bandmitgliedern und forderte sie auf, dazu Musik zu machen, wobei er Unsinnswörter vor sich her sprach, aus denen er später die Songtexte entwickelte. "Here Come The Warm Jets" erreichte Platz 26 in den britischen Charts und Platz 151 in den US Billboard Charts. Die Kritiker bewerteten das Album überwiegend positiv.

"Taking Tiger Mountain (By Strategy)", zu deutsch etwa 'mit taktischem Geschick den Tigerberg erobern' war Eno's zweites Soloalbum und erschien noch im selben Jahr, im November 1974 ebenfalls auf Island Records. Im Gegensatz zu seinem Debutalbum nutzte Eno erstmals eine Kernband mit fünf Stammmusikern und wesentlich weniger Gastmusikern. Während der gleichen Periode produzierte Eno Robert Calvert's Album "Lucky Leif And The Longships". Die meisten Musiker spielten auf beiden Alben, darunter auch der Gitarrist und Co-Texter Phil Manzanera, der mit Eno schon bei Roxy Music zusammengespielt hatte. "Taking Tiger Mountain (By Strategy)" war ein loses Konzeptalbum mit Themen von Spionage bis zur chinesischen kommunistischen Revolution. Die Musik des Albums war Artrock mit einem schrägen Pop-Appeal, ähnlich der Musik der Sparks vielleicht, und mit einem schwankenden Sound und dunklen Texten. Das Album war weder in den Vereinigten Staaten noch in England in den Charts, erregte aber grosses Interesse in der Rockpresse.

Das Album war inspiriert durch eine Serie von Postkarten über die chinesische Modelloper mit dem Titel 'Taking Tiger Mountain by Strategy'. Eno beschrieb sein Verständnis des Titels als Bezugnahme auf die Gegensätzlichkeit zwischen dem Archaischen und dem Progressiven. Halb den Tigerberg erobern, das mittelalterliche, körperliche Gefühl der Erstürmung einer militärischen Stellung - und halb durch Strategie, das sehr dem zwanzigsten Jahrhundert entsprechende Mentalkonzept eines taktischen Zusammenspiels von Systemen. Eno und sein Freund Peter Schmidt entwickelten für die Aufnahmen sogenannte 'Oblique Strategies', ein Deck von Karten, wobei jede Karte einen Aphorismus oder Strategie beinhaltete, die Künstlern helfen sollte, kreative Blockaden zu beseitigen, indem sie zum Querdenken anregten. Mit diesen Karten wurde während der Aufnahme des Albums die jeweils nächste Aktion ausgelöst. Eno und Schmidt, die die Worte auf dem Album als Ausdruck eines idiotischen Glücksgefühl beschrieben, dehnten die 'Oblique Strategies' schliesslich auf über 100 erstrebenswerte Dilemmas aus, die beinahe in allen zukünftigen Aufnahmen und Produktionen angewendet wurden. Schmidt entwarf auch das Albumcover, das aus vier Drucken seiner Edition von über fünfzehnhundert einzigartigen Lithografien stammte, sowie aus Polaroid Aufnahmen von Eno, die auf den Liner Notes Lorenz Zatecky zugeschrieben wurden.

Phil Manzanera, der mit Eno schon bei Roxy Music zusammen gespielt hatte, äusserte sich positiv über die Erfahrungen während der Aufnahmen: "Wir taten nur das, was wir zu der Zeit tun wollten. Der Ingenieur, den wir nutzten, Rhett Davies, nahm auch schon "Diamond Head", "801 Live" und "Quiet Sun" auf, es war wie eine Familie. Es gab eine Menge zu experimentieren und viele Stunden verbrachten Brian Eno, ich und Rhett im Studio, um all die Dinge zu tun, aus denen sich schliesslich diese Karten entwickelten, die 'Oblique Strategies', und es war eine Menge Spass". Anders als auf dem vorherigen Album "Here Come The Warm Jets" arbeitete Eno mit einer Kerngruppe von Musikern. Die Gruppe bestand aus Phil Manzanera, Brian Turrington und Freddie Smith von The Winkies und dem früheren Sänger von Soft Machine, Robert Wyatt. Verschiedene Gastmusiker spielten auf ausgewählten Stücken des Albums, darunter Andy Mackay von Roxy Music und die Portsmouth Sinfonia, ein Orchester, bei welchem Eno einst Klarinette gespielt hatte. Das Orchester vertrat die Philosophie, dass jeder dem Orchester beitreten konnte, solange er keinerlei Erfahrung mit dem Instrument hatte, das er im Orchester spielen wollte. Mit dem Auftritt von Phil Collins revanchierten sich Genesis für Eno's Hilfe bei der Aufnahme von "The Lamb Lies Down On Broadway".

Der Sound des Albums wurde als peppiger und vergnügter als das vorherige Album beschrieben, während die Songtexte eher düstere Themen zum Inhalt hatten. Die Texte wurden als bemerkenswert gebildet und humorvoll mit schnellen, feurigen, teilweise exzentrischen Reimen und mitleidslosen Aussagen wahrgenommen. Eno kreierte die Songtexte, indem er die instrumentalen Tracks abspielte, dazu Unsinnssilben sang, diese zu richtigen Wörtern und Ausdrücken mit Sinn umformte. Der Bezug zu China erschien in den Stücken "Burning Airlines Give You So Much More", "China My China" und "Taking Tiger Mountain". Der Kritiker Steve Huey beschrieb das Album durch diese so zusammengefassten Themen als ein loses Konzeptalbum, oft rätselhaft, aber doch spielbar, über Spionage, die chinesische kommunistische Revolution und Traumassoziationen. Auf die politischen Themen in den Songtexten und im Albumtitel angesprochen, erklärte Eno, er sei kein Maoist oder irgend so etwas, wenn überhaupt, sei er ein Anti-Maoist. Das Album befasste sich mit verschiedenen esoterischen Themen. "Burning Airlines Give You So Much More" basierte beispielsweise auf dem Unfall des Turkish Airlines Flug 981, einem der bis dahin schwersten Flug-Unfälle der Geschichte. "The Fat Lady Of Limbourg", das Eno selbst einen William S. Burroughs-typischen Song nannte, war ein Stück über eine psychiatrische Anstalt im belgischen Limbourg. "The Great Pretender" beschrieb die Vergewaltigung einer Vorort-Hausfrau durch eine durchdrehende Maschine. Das Stück "Third Uncle" wiederum wurde als ein früher Vorläufer des Punkrock angesehen.

Mit seinen ersten Ambient-Arbeiten popularisierte Brian Eno eine vom King Crimson Gitarristen Robert Fripp entwickelte und als 'Frippertronics' bezeichnete Methode zur Klangerzeugung, mittels dieser völlig unterschiedliche Tonbandaufnahmen diverser Musiker, vor allem aus der Minimalszene, modifiziert wurden. Es handelte sich hier um zwei Tonbandmaschinen, die in einem Rückkopplungs-System wie ein Bandecho miteinander verbunden waren, wobei die Entfernung der Maschinen zueinander die Frequenz des Echoimpulses bestimmte. Zusammen mit Robert Fripp veröffentlichte er die Alben "No Pussyfooting" im Jahre 1973 und "Evening Star" 1975. Mit seiner Veröffentlichung "Ambient 1: Music for Airports" im Jahre 1978, die angeblich unter anderem von einem negativen Hörerlebnis am Flughafen Köln/Bonn inspiriert worden sein soll, hatte Eno  den Musikstil Ambient getauft und fortan geprägt. Diesen Stil führte er überwiegend bis heute fort. Seine zuvor in Richtung Artrock und Artpop tendierenden Alben der Frühphase hatte er damit komplett hinter sich gelassen.

Eno arbeitete als Musiker und Produzent auch immer wieder mit verschiedenen anderen Künstlern zusammen. So war er etwa auf der Berlin-Trilogie, den Alben "Low" (1977), "Heroes" (1977) und "Lodger" (1979) von David Bowie zu hören. 1978 produzierte er Devo's "Q: Are We Not Men? A: We Are Devo" und die legendäre Kompilation der New Yorker No Wave-Szene "No New York". Er produzierte drei Alben der Talking Heads mit "Remain In Light" (1980) als Höhepunkt. Sein Album mit dem Talking Heads Kopf David Byrne mit dem Titel "My Life In The Bush Of Ghosts" von 1981 war eines der ersten Nicht Rap-/Hip Hop-Alben, das umfangreiches Sampling enthielt. Im Jahre 1984 produzierte Eno auch U2's Erfolgsalbum "The Unforgettable Fire" und arbeitete später noch weiter für die Band als Produzent auf "The Joshua Tree" (1987), "Achtung Baby" (1991), "Zooropa" (1993), "All That You Can’t Leave Behind" (2000) und "No Line On The Horizon" (2009). In den 90er Jahren produzierte Eno so unterschiedliche Künstler wie den Real World-Künstler Geoffrey Oryema bis zur Band James, ebenso die Sängerin Jane Siberry und die Performance-Künstlerin Laurie Anderson, mit der er auch die Ausstellung 'Self Storage' gestaltete. 1994 und 1995 arbeitete Eno wieder mit David Bowie an dessen Album "Outside". Seit dieser Zeit war Eno auch Visiting Professor am Londoner Royal College Of Art. 1994 wurde Eno von Entwicklern des Microsoft Chicago Projekts gebeten, die Startmelodie für Windows 95 zu komponieren. Dies geschah dann ironischerweise auf seinem Apple Macintosh. Im Jahre 1996 gehörte Brian Eno zu den Gründern der 'Long Now Foundation', die ein Bewusstsein für die Wichtigkeit langfristigen Denkens fördern wollte. Er trat 1998 eine Honorarprofessur an der Berliner Universität der Künste an. Im August des gleichen Jahres trat Eno anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung 'Brian Eno: Future Light - Lounge Proposal' in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland zweimal auf, und beide Auftritte wurden per Webcast live übertragen.

Brian Eno gründete Anfang 2004 gemeinsam mit Peter Gabriel die 'Magnificent Union of Digitally Downloading Artists' (Mudda). Er war zudem Co-Produzent des 2006 erschienenen Albums "Surprise von Paul Simon. 2006 veröffentlichte Brian Eno die DVD "77 Million Paintings" mit einem generativen Computerprogramm. Er nutzte den Computer, um, basierend auf realen Gemälden, 77 Millionen visuelle Darstellungen als Originale mittels Überblendungen zu generieren und kombinierte diese mit ebenfalls aus Sound-Layern generierter Musik. Als Produzent begann er 2006 seine Arbeit am vierten Album "Viva La Vida Or Death And All His Friends" der Band Coldplay, welches im Frühjahr 2008 erschien und von Eno zusammen mit Markus Dravs und Rik Simpson produziert wurde. U2 meldeten Anfang Juni 2007 auf ihrer offiziellen Website, dass sich Eno zusammen mit Daniel Lanois zur Aufnahme eines neuen U2-Albums im Studio in Marokko eingefunden habe. Das aus dieser Zusammenarbeit entstandene Album "No Line On The Horizon" wurde im Februar 2009 veröffentlicht. 2006 gestaltete Eno exklusiv für Nokia die Klingel- und Signaltöne des Mobiltelefons 8800 Sirocco Edition. Zusammen mit dem Musiker und Softwaredesigner Peter Chilvers entwickelte er auch die beiden Programme 'Bloom' und 'Trope' für das iPhone. Beide Programme sowie das von Chilvers auf Basis von Eno's Ideen entwickelte 'Air' erzeugten zufallsbasierte unendliche Musikstücke wie bereits "77 Million Paintings".

Im Mai und Juni 2009 gestaltete er das zweite Sound and Light Festival, in dessen Rahmen unter anderem das Sydney Opera House angestrahlt wurde. 2009 lieferte er den Soundtrack zu Peter Jackson's Film 'In meinem Himmel (The Lovely Bones)'. 2010 veröffentlichte die Indietronic Band MGMT ein Lied mit dem Titel "Brian Eno". Im November 2010 erschien Eno's Album "Small Craft On A Milk Sea" beim Plattenlabel Warp Records. Anfang Juli 2011 erschien das in Zusammenarbeit mit dem britischen Dichter Rick Holland entstandene Album "Drums Between The Bells" ebenfalls bei Warp Records. Im November 2012, wiederum bei Warp Records, erschien mit dem Album "Lux" Brian Eno's erstes Solowerk nach sieben Jahren. Die knapp 75-minütige Komposition wurde original konzipiert im Rahmen einer Installation im 'Reggia di Venaria Reale' nahe Turin und war dort auch erstmals zu hören, ehe sie wenige Tage vor ihrer kommerziellen Veröffentlichung (und in Anspielung auf "Music For Airports") im Tokioter Flughafen Haneda gespielt wurde. Das Album erhielt überwiegend positive Kritiken und es wurde auf Parallelen zu Eno's frühen Ambient-Werken, insbesondere "Thursday Afternoon, hingewiesen". Brian Eno ist Mitglied der 2016 gegründeten Bewegung 'Demokratie in Europa 2025'.








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