Dec 11, 2017


CARLA BLEY & PAUL HAINES - Escalator Over The Hill
 (JCOA Records 3LP-EOTH, 1971)

Die Eltern von Carla Bley (respektive Borg, wie sie mit bürgerlichem Namen heisst) waren beide Musiker, ihr Vater Klavierlehrer und Organist. Sie selbst begann bereits im Alter von vier Jahren, in der Kirche zu singen, Klavier und Orgel zu spielen. 1957 heiratete sie den Jazzpianisten Paul Bley, den sie als 'Cigarette Girl' im Birdland kennenlernte, der sie dazu anregte, für ihn zu komponieren. Bald spielte sie in New York mit Charles Moffett Sr. und Pharoah Sanders. Ab 1964 leitete sie mit Michael Mantler das Jazz Composer’s Orchestra. 1965 hatte sie ein Quintett mit Mantler und Steve Lacy. 1966 ging sie mit Peter Brötzmann und Peter Kowald auf Tournee. Nach dem Projekt "Escalator Over The Hill" 1967 bis 1971 und der Arbeit mit Charlie Haden im Liberation Music Orchestra ab 1969 leitete sie ab 1976 überwiegend eigene Bands. Sie heiratete 1967 ihr Bandmitglied Michael Mantler; ihre Tochter Karen Mantler wurde Jazz-Organistin. Seit der Rückkehr Mantlers nach Europa im Jahre 1991 lebte Carla Bley mit ihrem langjährigen Bandmitglied Steve Swallow zusammen. Er war für sie auch musikalisch ein wichtiger Partner am E-Bass. Weiterhin typisch für ihre Bands waren Musiker wie der markant erdig spielende Posaunist Gary Valente, der Jazz-Hornist Vincent Chancey oder ihre Tochter Karen Mantler. 2006 und 2007 war sie Artist in Residence der Philharmonie Essen. 2008 trat sie mit ihrem Trio aus Steve Swallow und Andy Sheppard live im New Yorker Birdland auf ("Songs With Legs"). 2009 wurde sie mit der German Jazz Trophy, 2012 mit der Ehrendoktorwürde der Université de Toulouse II Le Mirail ausgezeichnet.

Carla Bley machte sich etwa ab Mitte der 60er Jahre als geistreiche und innovative Jazz-Komponistin bemerkbar; zuerst schrieb sie für Paul Bleys Trio, dann auch für George Russell, Jimmy Giuffre und Art Farmer. 1967 komponierte sie für Gary Burton das vielbeachtete "A Genuine Tong Funeral". Nach drei Jahre dauernden Aufnahmearbeiten veröffentlichte sie 1971 eine der wenigen Jazz-Opern: das von ihr komponierte "Escalator Over The Hill", das 1973 mit dem französischen Grand Prix du Disque ausgezeichnet wurde. Sie veröffentlichte etliche eigene Jazz-Alben auf ihrem mit Michael Mantler gegründeten eigenen Label WATT, dessen Platten via ECM vertrieben wurden. Ihre besonders in den 70er und 80er Jahren aktive Carla Bley Band spielte originellen konzertanten Big Band Jazz, durchaus in der zeitgenössisch reflektierten Nachfolge von Duke Ellington und Gil Evans. Mit einem Teil dieser Band spielte sie auch das Album "Nick Mason’s Fictitious Sports" des Pink Floyd Musikers mit eigenen Kompositionen ein. 2016 führte sie mit der NDR-Bigband und einem Knabenchor ihre Jazzoper 'La Leçon Française' auf. Als Arrangeurin wirkte sie seit 1969 massgeblich an Charlie Haden's Liberation Music Orchestra mit, das 2005 mit "Not In Our Name" wieder ein als Protest gegen die US-amerikanische Politik konzipiertes Album herausbrachte. Nach Hadens Tod leitete sie auch dieses Ensemble.

"Escalator Over The Hill", auch schlicht als "EOTH" bekannt, wird meistens als Jazzoper bezeichnet; veröffentlicht wurde das bahnbrechende Werk 1971 mit dem Untertitel "Chronotransduction" mit "Worten von Paul Haines, Adaptation und Musik von Carla Bley, Produktion und Koordination von Michael Mantler", gespielt von einer Vielzahl namhafter Musiker aus Free Jazz, Rock und Pop, unter anderem auch aus dem Jazz Composer’s Orchestra. Die gesamte Aufnahme war über zwei Stunden lang und entstand in drei Jahren von 1968 bis 1971. Steve Gebhardt drehte 1970 einen Dokumentarfilm über die Proben für "Escalator Over The Hill". Die Originalausgabe war ein Karton mit drei Langspielplatten und einem umfangreichen Beiheft, das den gesamten Text, Fotos und äusserst ausführliche Informationen zur Besetzung aller Stücke enthielt. Die letzte der insgesamt sechs LP-Seiten endete in einer Endlosrille, sodass das letzte Stück "And It’s Again" in ein endloses Summen wie von einem entfernten Insektenschwarm überging, das durch Abschalten des Plattenspielers beendet werden musste. Die von Carla Bley's damals in Indien lebendem guten Freund Paul Haines verfassten Texte lieferten kein für eine Oper mit fortlaufender Handlung geeignetes Libretto, sondern waren eher surreale Poesie. Erzählt wurde eine Geschichte über das dadaistische Leben von Ginger, David, Calliope Bill, Jack und vielen anderen in einem Hotel in Indien.


Die vielen unterschiedlichen an der Originalaufnahme kollektiv beteiligten Musiker agierten in verschiedenen Kombinationen, imho 'chronotransductional' und deckten dabei ein weites Spektrum musikalischer Ausdrucksformen ab: Klänge, die an die Theatermusik Kurt Weills erinnern, Free Jazz, Rock, Weltmusik (auch wenn dieser Begriff damals noch nicht existierte), eine Collage aus den unterschiedlichsten Stilen der populären Musik oder, wie ein englischsprachiger Kritiker es formulierte, "eine Zusammenfassung grosser Teile der kreativen Energie, die von 1968 bis 1972 vorhanden war". Zu den Sängern gehörten der Warhol-Filmsuperstar Viva als Erzählerin, Jack Bruce, der auch den Bass spielte, Linda Ronstadt, Jeanne Lee, Paul Jones, Carla Bley, Don Preston, Sheila Jordan und Bley's und Mantler's damals vierjährige Tochter Karen Mantler, später selber eine gefeierte Jazzpianistin.

Die Originalaufnahme der legendären Jazzoper “Escalator Over The Hill”, die zwischen 1968 und 1971 entstand, kann heutzutage als zeitgeschichtliches Dokument gehört werden. Mit dem gesellschaftspolitischen Umbruch jener Zeit ging eine kreative Aufbruchstimmung, eine plötzliche Öffnung der künstlerischen Horizonte einher, die wohl in kaum einer anderen Produktion so lebendig eingefangen werden konnte. Eine schier grenzenlose musikalische Experimentier- und Abenteuerlust wusch sämtliche Stil- und Genre-Grenzen mit faszinierender Unbekümmertheit weg, und das, lange bevor der Begriff Multi-Stilistik zum modischen Schlagwort wurde. Zusammengehalten wurde das Ganze mehr oder weniger von Paul Haines’ Libretto, das parallel zur Musik erst im Lauf der dreijährigen Entstehungszeit Gestalt annahm. Eine Handlung gab es praktisch nicht, und die Texte der obskuren Charaktere ergingen sich in bedeutungsschwangeren Nichtigkeiten. Trotzdem schien die dramaturgische Anlage den musikalischen Stilmix zu rechtfertigen. Verschiedene Formationen traten in Erscheinung. Da war einmal die sogenannte Hotel Lobby Band, eine zwischen Salonmusik und Free Jazz changierende Bläserbesetzung, in der vor allem Gato Barbieri und Roswell Rudd als Solisten glänzten. Dann Jack’s Travelling Band, mit dem auch als Sänger eingesetzten Jack Bruce und dem furiosen John McLaughlin, die zusammen wahre Free Rock Feuerwerke lieferten, am Schlagzeug von Paul Motian als Kontrapunkt jedoch nicht mit der erwarteten Energie eines Rockschlagzeugers unterstützt. Um Don Cherry gruppierte sich die Desert Band mit ihrer indisch geprägten Weltmusik, und in der Person Linda Ronstadt's wurde selbst Country eingeführt. In Duetten mit ihr entpuppte sich Carla Bley auch als talentierte Vokalistin. Da musste man im nachhinein direkt froh sein, dass diese ausserordentlich kreative Musikerin nicht wie einige männliche Kollegen wie etwa Nat King Cole oder George Benson ihre Jazzlaufbahn gegen eine Karriere als Gesangsstar getauscht hatte.

Die Entstehungsgeschichte von "Escalator Over The Hill" hatte Carla Bley später wie folgt beschrieben: Als erstes wollten sie das Stück "Rawalpindi Blues" mit Jack Bruce und dem Trompeter Don Cherry aufnehmen, doch schien es schier unmöglich zu sein, beide gleichzeitig nach New York zu bekommen. Als Jack sich endlich aus London loseisen konnte (er spielte dort fast jede Nacht mit Tony Williams' Band), musste Don wegen seiner Engagements in Europa abreisen. Daher teilten se die Musik in zwei Stimmen auf und nahmen Don's Teil als ersten auf. Tatsächlich kam das dem Stück sogar zugute, da es einen Dialog zwischen den Kulturen des Morgen- und Abendlandes darstellen sollte. Am 30. November 1970 fanden die ersten Aufnahmen mit Don Cherry und der 'östlichen Band' statt. Es spielten Calo Scott (Cello), Leroy Jenkins (Violine), Sam Brown (zwölfsaitige Gitarre), Souren Baronian (G-Klarinette und Darabuka), Ron McClure (Bass), Carla Bley (Klavier und Orgel), sowie Paul Motian (Schlagzeug, Darabuka und Schellen). Don spielte sowohl Porzellanflöte als auch Perkussion und Trompete. Ausserdem sang er. Die Musiker waren angenehm überrascht, Don singen zu hören, nachdem sie ihn jahrelang nur als Instrumentalisten kannten. Die Improvisationen der Band bewegten sich auf höchstem Niveau, waren ausgefallen und voller Leichtigkeit.


Am nächsten Tag verliess Don Cherry das Land, und am 7. Dezember kam Jack Bruce in New York an, ging direkt ins Studio und nahm zwei Tage und Nächte fast durchgehend auf. Glücklicherweise hielt sich auch John McLaughlin gerade in der Stadt auf, so dass Carla Bley ihn an der Gitarre einsetzen konnten. Ausser ihm gehörten Jack am Bass, Paul Motian am Schlagzeug und Carla Bley an der Orgel zur 'westlichen Band'. Als die Oper fertig war, wurde sie in Desert Band umbenannt und Jack's Gruppe in Traveling Band. Wieder einmal war Carla Bley erstaunt über das geniale Zusammenspiel. Nachdem "Rawalpindi Blues" fertig war, nahmen die Musiker "Businessmen", "Detective Writer Daughter", Teile von "And It's Again" und noch ein paar kleine Stücke auf. Jack und John flogen wieder nach London, und Carla Bley setzte sich daran, "Rawalpindi Blues" zusammenzufügen.

Anders als im 21. Jahrhundert, wo es kein Wagnis sei, in einer Oper Jazz, Rock, Country, indische Musik, Hipsterlyrik und Ausbrüche freier Improvisation zu kombinieren, sei dies 1970 unvorstellbar gewesen. So stellte John Fordham von The Guardian zu Beginn seiner Würdigung des Albums als eines der fünfzig wichtigsten Jazzalben fest. Ohne finanzielle Unterstützung oder Produktionshilfe durch eine Plattenfirma hatte Carla Bley das "Sgt. Pepper-Album des neuen Jazz" geschaffen. Trevor MacLaren betonte für All About Jazz das Wagnis Bley's, als ihre Debütveröffentlichung unter eigenem Namen gleich ein Dreifach-Album vorzulegen. Dieses Album sei ein Konzeptalbum, aber doch ein typisches Kind seiner Zeit, auch wenn es die Fusion zwischen Jazz und Rock noch nicht zum Abschluss gebracht hätte. Doch dieses Werk sei eine der einzigartigsten Platten, die in der modernen Musik je entstanden sei; es klinge wie keine andere Jazzplatte. Harry Lachner stellte 2007 zum historischen Stellenwert des Albums fest: "Zum ersten Mal präsentierte sich ein Album in der vom Begriff der Authentizität verstrahlten Jazzlandschaft als reines Artefakt; als ein waghalsiges und fragiles Konzept, das zu Recht vor dem Licht der Bühne zurückschreckte und sich damit begnügte, ein Studioprodukt ohne Anspruch auf Aufführbarkeit zu bleiben".

Lachner meinte weiter: "Mit diesem Werk hatte sich der Jazz zum ersten Mal einen künstlichen Raum geschaffen, wies eine Musik erstmals über sämtliche bis dato gepflegten Bedingungen und Ideologien, Restriktionen und Missverständnisse hinaus. Musikalisch war "Escalator Over The Hill", das seine endgültige Gestalt erst am Schneidetisch erhielt, ein Monstrum an Kreativität: ein Schnitt durch die Welt sämtlicher Spielarten der Musik zu einer Zeit, als der Begriff Poly-Stilistik noch nicht inflationär grassierte, als man noch nicht von Stil-Pluralismus oder postmoderner Ironie daher fabulierte. In diesem musikalischen Fiebertraum, der nicht mehr den alten Gesetzmässigkeiten von Komposition und Improvisation zu folgen wagte, der sich um den Genre-Begriff so wenig scherte wie um die Gesetze des Marktes, trafen Rock-Elemente mit Vaudeville-Anflügen zusammen, rieb sich klassische indische Musik an den am Jazz reflektierten und gebrochenen Klangvorstellungen der zeitgenössischen Musik und verschmolz Beatnik-Attitüde mit amerikanischen Alltags-Surrealismen".






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