THE LIGHTNING SEEDS - Sense (Virgin Records CDV 2690, 1992)
Die Lightning Seeds liessen sich leicht auf einen Namen herunterbrechen: Ian Broudie. Er hob die Band Ende der 80er Jahre aus der Taufe, war ihr Kopf und Frontmann. Broudie war es folglich auch, der das Ende der Lightning Seeds nach wenigen Jahren beschloss, als er feststellen musste, dass seine Lieder zwar immer wieder im Radio gespielt wurden, die Verkaufszahlen seiner Platten jedoch insgesamt recht enttäuschend blieben, obwohl er mit seiner Musik zumindest in kompositorischer Hinsicht eigentlich alles richtig gemacht hatte und mit einer Fussball-Hymne sogar Abertausende von Fussballfans erreichen konnte. Ian Broudie startete seine Musikerkarriere im Jahre 1977 als Mitglied der Punkband Big In Japan, welcher unter anderem der spätere Frankie Goes To Hollywood-Frontmann Holly Johnson angehörte. Nachdem die Band sich nach nur 15 Monaten wieder aufgelöst hatte, war Broudie als Musikproduzent tätig, so etwa für Echo & The Bunnymen und The Fall sowie The Bodines und The Pale Fountains.
Der Musiker erblickte am 4. August 1958 das Licht der Welt in einer musikhistorisch bedeutenden Stadt: Liverpool war seine Heimat, er wuchs sogar nicht weit der Penny Lane auf und hörte schon früh heimlich die Bob Dylan-Platten seines Bruders. Der Autodidakt lernte Gitarre spielen, indem er Dylan nacheiferte. Später hielt sich Ian Broudie häufig im Liverpooler Künstler-Treffpunkt, der 'Liverpool School Of Music, Art & Pun' auf. Dort stiess er auf Billy Drummond, der gleich bei der ersten Begegnung Ian's Gitarrensaiten malträtierte. Ian schien darunter nicht zu leiden, denn kurz darauf gründeten die Beiden mit dem Schlagzeuger Budgie, der später bei Siouxie And The Banshees und den Slits landete, sowie Holly Johnson, der den Bass bediente, das Post Punk-Projekt Big In Japan. Die Combo spielte auf dem ersten Factory-Abend in Manchester neben Bands wie Cabaret Voltaire und Joy Division. Big In Japan brachten 1978 auf dem eigenen Label Zoo Records die EP "From Y To Z And Never Again" heraus. Kurz darauf lösten sie sich allerdings bereits wieder auf. Broudie verabschiedete sich von seiner Funktion als aktiver Musiker immer mehr und fing an, sich mit der Arbeitsweise im Tonstudio vertraut zu machen. Er wollte mit Musik zu tun haben. Als Musiker sei er mehr mit dem Herumreisen beschäftigt gewesen, so sein Kommentar.
Durch einen Zufall entstand der Kontakt mit Echo & The Bunnymen. Broudie produzierte in der Folge deren Alben "Crocodiles" und "Porcupine" und legte damit den Grundstein für seine Karriere als Produzent. Anschliessend arbeitete er unter anderem auch für die Bands The Fall und Dodgy. Ab Ende 1979 spielte Broudie in der Formation The Original Mirrors, der auch der spätere Status Quo-Schlagzeuger Pete Kircher angehörte. Die Original Mirrors lösten sich Ende 1981 wieder auf, nachdem die auf dem Major Label Mercury Records veröffentlichten Aufnahmen ohne grösseren Erfolg geblieben waren. 1983 gründete Broudie dann zusammen mit Paul Simpsons die Band Care. Care veröffentlichten drei Singles, lösten sich aber ebenfalls schon bald wieder auf. Erst 1989 schaffte Ian Broudie musikalisch den Durchbruch: Das Album "Cloudcuckooland" seiner neuen Band The Lightning Seeds schaffte es in die britischen Charts. Die Singleauskopplung "Pure" erreichte gar den respektablen Platz 16 der Hitparade.
1990 gab es auch noch ein weiteres Bandprojekt namens The Wild Swans mit Ian Broudie und Paul Simpson. Zusammen mit den beiden Musikern Ian McNabb und Chris Sharrock, beides ehemalige Mitglieder von The Icicle Works, wurde auf Sire Records das Album "Space Flowers" veröffentlicht. Für sein zweites Lightning Seeds-Album suchte er sich 1991 Terry Hall als Songwriting-Partner. In diesem Jahr schrieb Ian Broudie ein Stück, das ihm später neue Dimensionen eröffenen sollte: "The Life Of Riley" handelte von seinem Sohn. Doch 1992 brach Rough Trade zusammen, der Vertrieb des Lightning Seeds-Labels Ghetto Records. Das Label gab auf und verkaufte die Lightning Seeds-Rechte an den inzwischen zu einem Giganten herangewachsenen Label Virgin Records. Doch beim grossen Label wollte so gar nichts klappen: Das zweite Album "Sense" floppte genau so wie die Single-Auskopplungen. Virgin Records wollte deshalb die Lightning Seeds möglichst schnell wieder loswerden. Genau diesen Umstand bezeichnete Ian Broudie später als einen Segen, denn nun interessierte sich Epic Records (ein Sony-Sublabel) für ihn. Endlich jemand, der an die Band glaubte, kommentierte Broudie später. Nach den Vorstellungen von Virgin Records sollte er sich völlig auf die Lightning Seeds konzentrieren, sein Album ordentlich promoten und endlich auf Tour gehen, wohingegen Epic Records ihm relativ freie Hand liess, nebenbei auch weitere Künstler und Bands zu betreuen.
"Sense" verfügte über alle Zutaten einer kommerziell erfolgreichen Platte, bot neben zwei exquisiten Singles auch jede Menge hervorragender Album-Tracks, von denen fast die meisten über Ohrwurm-Charakter verfügten. Es dürfte alleine dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass sich Virgin Records nicht genügend um ihren Act kümmerte, sonst hätte das eigentlich ein Hit werden müssen. Die Singles wurden immer im Radio gespielt, doch Chartsplatzierungen hatten sie im oberen Bereich leider dennoch nicht zur Folge. Bestimmt lag das auch daran, dass Ian Broudie keine Live-Mannschaft an den Start brachte, weil er dem Tournee-Stress aus dem Weg gehen wollte, eventuell war auch sein Terminkalender zu voll, wegen seiner weiteren Verpflichtungen anderen Musikern gegenüber in punkto Songwriting, Producing und Betreuung, wer weiss. Jedenfalls ist es jammerschade, dass sich ihm mit "Sense", einem durch und durch perfekten Poprock-Album nicht die ganz grossen Türen öffnen liessen. Immerhin war Ian Broudie durch die relative Radiopräsenz ermutigt, ein weiteres LP-Projekt in Angriff zu nehmen.
Zu den Aufnahmen für "Jollification" nahm der umtriebige Musiker und Produzent, wie schon zuvor für das Werk "Sense", versierte Verstärkung mit ins Studio. Simon Rogers spielte einige Instrumente ein und betätigte sich als Co-Produzent, Terry Hall schrieb wieder an den Songs mit und sang die Background Vocals ein, Clive Layton setzte sich hinter die Orgel. Doch noch bevor das Album das Licht der Welt erblickte, widmete sich Broudie wieder einmal dem Produzieren der Werke anderer. So verhalf er in genau jenen Tagen Alison Moyet's "Essex" und Terry Hall's "Home" zu einem besseren Klang. Doch im Spätsommer 1994 war es soweit: Endlich erschien "Lucky You", die erste Single-Auskopplung des mittlerweile dritten Lightning Seeds-Albums. Der Song floppte zwar, doch Broudie gab nicht auf. Er suchte sich nunmehr eine Live-Band und begann mit Chris Sharrock (Ex-La's) am Schlagzeug und dem Bassisten Martyn Campbell (Ex-Rain) im 'Warehouse' zu proben. Etwas später stiessen nochder Gitarrist Paul Hemmings (auch er spielte früher bei den La's) und der Keyboarder Ali Kane dazu. Mit der angekündigten Tour im Rücken schafftte es die zweite Auskopplung "Change" endlich auf Platz 13 der britischen Charts. Auch die folgenden Singles liefen gut. Zur Krönung erfuhr das Album eine Nominierung für die Brit Awards. Die Konkurrenz bestand dabei immerhin aus einem Who Is Who des Britpop: Oasis, Blur und Supergrass.
Ab diesem Zeitpunkt war das Live-Ensemble auch auf den Platten zu hören. Diese Entscheidung fiel im Jahre 1996. Dieses sollte für die Lightning Seeds folgenreich werden: die Fussball-Europameisterschaft fand in England statt. Und das Land brauchte eine Hymne. Die Football Association bemerkte, dass zum 'Tor des Monats' im TV immer ein netter Song erklingen würde: "The Life Of Riley" der Lightning Seeds. "Diese Band könnte doch eigentlich auch den Song für unser Team schreiben", dachten sich die Oberen der Association. Ian Broudie zierte sich zuerst, hatte dann aber den entscheidenden Einfall. Er wollte, dass Frank Skinner und David Baddiel die Fussballspiele fürs Fernsehen mit Comedy-Elementen kommentieren, sich die Textzeilen hierzu überlegten. "Three Lions" entstand und entpuppte sich als die Fussball-Hymne schlechthin. Jeder kannte sie, nicht nur in England. Broudie empfand sie wohl als etwas unheimlich: "Der Song hat ein seltsames Eigenleben entwickelt".
Doch der Erfolg des Songs katapultierte das Album auf Rang 11 der britischen Charts. Auch die folgenden Singles verkauften sich gut. Vor allem die Turtles-Coverversion "You Showed Me" entpuppte sich als funkelnder Diamant. Er glitzerte sich in die Top Ten. Bevor die Lightning Seeds 1997 ihre erste "Best Of"-Zusammenstellung veröffentlichten, gab es noch einige Änderungen im Line-Up. Ali Kane verliess die Band. Ihn ersetzte Angie Pollock, der schon mit Shakespear's Sister gearbeitet hatte. Ausserdem ersetzte Matt Priest (Ex-Dodgie) den Schlagzeuger Chris Sharrock. Doch auch den hielt es nicht lange. Für die anstehende Tour ersetzte ihn Zak Starkey. Im November 1999 zeigten die Lightning Seeds auf "Tilt", dass sich ihr Sound inzwischen mehr am Dance Sound zu orientieren suchte. Im Februar 2000 veröffentlichten sie die Single "Sweetest Soul Sensation". Es sollte die letzte offizielle Veröffentlichung sein. Kurz darauf betätigte sich Ian Broudie als Sport-Moderator (die Show nannte sich 'The Sin Bin'). Den letzten Auftritt bestritten die Lightning Seeds in Liverpool.
Danach besann sich Ian Broudie wieder vermehrt auf sein eigentliches Talent und produzierte junge Bands. Erst verschrieb er sich The Coral, dann den Zutons. Erst 2005 traute sich Broudie wieder an ein eigenes Werk. Er veröffentlichte sein Soloalbum "Tales Told", ein beschauliches, ruhiges Album, das in den richtigen Momenten sanft verzaubert. Die anderen Mitglieder der Lightning Seeds machten ebenfalls weiter Musik: Zak Starkey war bei Oasis, Angie bei Goldfrapp und Martyn spielte mit Richard Ashcroft. Für die Fussball-WM 2006 trat die Band wieder in Erscheinung. Auf dem Hamburger Fanfest gröhlten sich unzählige Fussballfreunde zu "Three Lions" live in ein Sommermärchen. Gut ein Jahr später veröffentlichte die Band ein weiteres "Best Of"-Album. Zuletzt produzierte Ian Broudie das Debütalbum der Londoner Independent-Band The Rifles. 2009 erschien dann doch ein neues Album der Lightning Seeds mit dem Titel "Four Winds", das aber weitgehend unbeachtet blieb.
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