THE GATHERING - How To Measure A Planet ?
(Century Media Records CM 77268-2, 1998)
Die holländische Band THE GATHERING unterzog sich mit "How To Measure A Planet" einem spürbaren Wandel in ihrer Musik. Auch personell richtete sich die Band neu aus. Der zweite Gitarrist Jelmer Wiersma hatte die Band verlassen, so dass René Rutten nunmehr der alleinige Gitarrist blieb. Musikalisch war der Wandel allerdings um einiges gravierender. So sehr, dass man einige alte Fans wohl vergraulte, zumindest aber sehr irritierte. The Gathering verabschiedeten sich bei diesem Album nämlich von ihrem bis anhin erfolgreichen Konzept der vorangegangenen Alben und legten einen Grossteil der Heavy Metal Anleihen ab, um sich statt dessen elektronisch veränderten Gitarrenklängen, sanft dahinfliessenden Melodien und einer gehörigen Portion progressivem Rock zu widmen. Die Sängerin Anneke Van Giersbergen hatte nach eigener Aussage auch keine Lust mehr, stets als sogenannte Metal-Braut verstanden zu werden. The Gathering ist dieser Imagewandel aber auf jeden Fall gelungen.
Schon der erste Track des Albums, der hypnotische Zeitlupen-Schweber "Frail" zeigte die neue Richtung an: Anstelle von krachenden Metal Riffs oder der gewohnten grob-stürmischen Dynamik gab es ein sehr sinnliches und zerbrechliches, ätherisches und schwebendes Stück zu hören. Anneke Van Giersbergens Stimme kam nun plötzlich völlig losgelöst und wesentlich einnehmender zur Geltung. Sie bewies hier eindrücklich, dass sie in der Tat sehr viel mehr in ihrer manchmal fast elfenhaften Stimme hatte, als nur eine harte Rock-Stimme. Auch die beiden nachfolgenden Titel "Great Ocean Road" und "Rescue Me" liessen keinen Zweifel offen, dass The Gathering sich musikalisch weiterentwickelt hatten. Hier gab es durchaus sehr viel Power, doch saftige Keyboardklänge und durch geschickte Effekte veränderte elektrische Gitarren verliehen den Stücken ein ganz neues Gewand. Geblieben war die emotionale Wirkung der Songs und das Melodiegefühl.
Auf "Rescue Me" mit einer instrumentalen Tour de Force im Mittelteil, auf dem unter anderem auch das exotische Theremin eingesetzt wurde, zeigte die Band, dass sie es immer noch krachen lassen konnte, doch wirkten die Kompositionen an sich jetzt reifer, komplexer und sehr viel atmosphärischer. Man entdeckte die etwas filigraneren Seiten, probierte neue Klangmöglichkeiten aus, was auch hervorragend gelang. Und so ungewohnt dieser neue Stil zuerst klingen mochte für die bisher doch eher rockige Klientel - es war letztlich gar nicht möglich, sich dieser wundervollen neuen Musik zu entziehen. Diese Mischung aus Sinnlichkeit und Kraft, welche die Band in Ansätzen bereits vorher auszeichnete, war nach wie vor präsent und erzeugte wie gewohnt eine grosse Wirkung, mit dem veränderten Klangbild und der stilistischen Neuausrichtung allerdings noch um einiges gefühlvoller und einnehmender. Musikalisch gab es nun eine grössere Bandbreite. Sinnliches, Zärtliches, Rockiges, Episches, Progressives und auch Härteres fügte sich auf "How To Measure A Planet" zu einem überzeugenden Gesamtwerk zusammen.
Ursprünglich war "How To Measure A Planet" in der Erstauflage einmalig als Doppel-CD Version geplant. Spätere Auflagen sollten nur noch die erste CD beinhalten. Aber das wurde dann wieder fallengelassen, so dass man auch heute immer noch das Album mit beiden CDs erwerben kann. Es wäre auch seltsam gewesen, die zweite CD wegzulassen, befindet sich dort doch das Titelstück. Die zweite CD bietet mit "Probably Built In The Fifties" auch noch ein weiteres Highlight - wer aber beim fast 29-minütigen Titelstück zuerst als Progfan in Entzückung gerät, wird leider enttäuscht. Das Titelstück entpuppt sich mehr als experimentelle Klang-Collage ohne konkretes, eigentliches Leitmotiv. Hier fliesst die Musik allerdings am schönsten, wirkt am spaceigsten und am meisten sphärisch. Ansatzweise kann man in den anderen Stücken dieses herausragenden Werkes ebenfalls Spacerock-Effekte aus wabernden und wobbelnden Synthesizern hören, doch dieses Titelstück ist, auch weil es über die gesamte Distanz instrumental gehalten bleibt, eine Reise in den rockmusikalischen Orbit, wobei die fast meditativen Passagen den konkret-rockenden weitaus überlegen sind. Eine herrliche Space Jam, die im Booklet der CD als erklärenden Text die mathematische Formel enthält, wie unser Heimatplanet exakt vermessen wird.
The Gathering schafften mit diesem Album den Ausbruch aus der eigenen Formel, die bei erneuter Anwendung vielleicht zur Gefahr geworden wäre, stilistisch vor Ort zu treten. So aber war der Band mit "How To Measure A Planet" ein äusserst beeindruckendes Werk gelungen. Die späteren Jahre sollten zeigen, dass die Gruppe mit diesem Stilwechsel alles richtig gemacht hatte. Nach vielen Jahren war ihr ätherischer, manchmal mystisch-losgelöster Rock längst zu ihrem Markenzeichen geworden. Eine stilistische Richtung, die hier in diesem Werk ihren Anfang nahm.
No comments:
Post a Comment