THE NEAL MORSE BAND - The Grand Experiment
(Inside Out Music IOMSECD 414, 2015)
Neal Morse, einer der Mitbegünder der Progressive Rock Band Spock's Beard, ebenso Mitinitiator der Prog Rock Supergroup Transatlantic ist inzwischen eine der Koryphäen des modernen Retro Progressive Rocks geworden. Er hat diesen Musikstil wie kaum ein Anderer entscheidend mitgeprägt - ihn quasi von Mitte der 70er Jahre in die heutige Zeit gerettet. Zuviel der Lorbeeren ? Vielleicht schon, aber wenn man sich diese Musikszene näher betrachtet, so waren es mehrheitlich einzelne Projekte von mehr oder weniger erfolgreichen Bands, die nachhaltig Eindruck hinterliessen. Ein Grossteil der Veröffentlichungen dieses Genres blieb einigen enthusiastischen Fans vorenthalten. Das Gros der Musikhörer interessierte sich kaum dafür. Ganz anders Neal Morse. Seine Bands und Projekte, seine Soloalben und vor allem seine Art, Musik zu komponieren, ist nicht nur eine Art moderne Rückblende, er selber als Musiker, Komponist und Produzent ist auch schon Inspirationsquelle für viele neue Musiker geworden. Er hat also wohl mehr für den Retro Progressive Rock getan als jeder andere Musiker. Dabei entpuppt sich Neal Morse weniger als ein kopflastiger Dramaturg, und technisch-kalte Virtuosität im Stil etwa von Dream Theater wird man bei ihm nur streckenweise finden. Morse ist dafür ein Meister der grossen musikalischen Inszenierungen: Geschlossene Formen, schwelgerische 6/8-Takte, dramatische Septakkorde, pathetische Klimaxe.
Stilistisch sind Morse's Ausrichtungen sehr vielfältig. Komplexe Gesangssätze in der Art von Gentle Giant oder Einflüsse aus lateinamerikanischer Musik, die der Musiker vor allem in seinem frühen Werk präsentierte, oder beatleske Einflüsse, wenn Morse seine schwelgerischsten Momente feiert. Dominierend allerdings zumeist starke Gitarren-Arrangements und jede Menge Keyboards, die ein stilistisch äusserst umfangreiches Terrain abdecken und sich sowohl beim typischen Sound etwa von Emerson Lake & Palmer, als auch von Yes oder King Crimson bedienen. Einen grossen Einfluss auf Morse's jüngeres Werk nimmt aber auf jeden Fall auch der Schlagzeuger Mike Portnoy von Dream Theater, mit dem Morse seit einiger Zeit schon kreativ sehr stark verbunden ist.
Anfang 2015 erschien Morse's Werk "The Grand Experiment", das erste Werk unter dem Namen The Neal Morse Band. Schon alleine dieser Bandname suggeriert, auf was Neal Morse hier seinen Hauptfokus setzte: Ein Gruppenwerk. Eine homogene Einheit, die sowohl bei den Kompositionen, wie auch bei den Arrangements der Titel die Gruppenarbeit als zentralen Ausgangspunkt definiert. Keine Solo-Titel, die von einer Band musikalisch nach festen Vorgaben umgesetzt werden, sondern Titel, die im Kollektiv sowohl geschrieben wie ausgebaut und final in Szene gesetzt werden. Auf diese Art eingespielt, erhält die Musik auf "The Grand Experiment" eine gewisse Nähe zur Musik der Band Transatlantic, denn auch dort gibt es mit Neal Morse nicht ausschliesslich einen Allein-Komponisten - auch bei Transatlantic sind viele Stücke in gemeinsamer Erarbeitung entstanden. Auch der Umstand, dass hier auf diesem Album wiederum Mike Portnoy trommelt, der auch als Schlagzeuger bei Transatlantic spielt, hat bestimmt einen Einfluss auf diese Arbeitsweise gehabt, auch wenn Neal Morse diese zuvor noch nie so konsequent umgesetzt hatte.
Phantastische Songs bietet das Album in jeder Beziehung: Man kann Klänge hören, die einem von Transatlantic vertraut sind, ebenso wie schwelgerische Stücke, die man teilweise von Morse's Soloplatten kennt. Dann wiederum gibt es Momente, die an Spock's Beard erinnern ("The Call") und ebenso an Dream Theater ("Alive Again"). Dass Neal Morse ohne zuvor vorbereitetes Material an die Aufnahmen herangegangen ist, konnten seine Mitmusiker mehr zum finalen Ergebnis beitragen, was der Platte eine gewisse Individualität vermittelt, die in einzelnen Passagen doch vom sonstigen musikalischen Werk Morse's abweicht. So werden zum Beispiel etliche Gesangslinien nicht von Morse selbst, sondern von den Mitmusikern Eric Gillette und Bill Hubauer gesungen, was schon in vokalistischer Hinsicht für einen gewissen Abwechslungsreichtum sorgt. Ausserdem bietet Morse auch in den Arrangements seinen Mitstreitern viel Mitbestimmungsrecht. Am Ende klingt das Ganze zwar vielleicht doch wieder wie ein Morse-Werk, allerdings nimmt man das als Zuhörer als klare musikalische Weiterentwicklung wahr, auch wenn die Songs an sich recht Morse-typisch sind. So steuern beispielsweise Bill Hubauer mit seinen geschmackvollen Keyboardsounds und seiner Klarinette, sowie Randy George mit seinen virtuosen Bassläufen und seiner Bodhran immer wieder instrumentale Feinheiten hinzu, die den Songs nicht nur dienlich sind, sondern sie auch teils klar mitprägen und ihnen einen wundervollen Feinschliff verpassen.
Wer nun denkt, dass er hier mit progressivem Rock als solchen bedient wird, der irrt. Das grosse Experiment bietet neben klassischem Progressive Rock auch sehr schwelgerische Momente aus dem Pop- und Rockbereich, stilistisch zwischen Mitte der 70er Jahre und heute angesiedelt. Dabei kennt die Gruppe keinerlei Scheuklappen. Sei dies im Opener "The Call", der mit seiner umwerfenden Polymetrik drei Taktarten gleichzeitig präsentiert. Der Song erinnert stark an die Musik der ersten beiden Spock's Beard Alben. Der längste Track des Albums, das fast eine halbe Stunde dauernde "Alive Again" folgt der hohen Progressive Rock-Schule von Dream Theater, bietet innerhalb dieser Suite aber immer wieder Passagen, in welchen der Kenner und Fan etliche Versatzstücke bekannter Bands und Musiker wiederfindet. So zum Beispiel Elemente, die man von Yes oder King Crimson in Erinnerung hat. Bei all der progressiven Ausrichtung überraschen allerdings auch immer wieder diese unverschämt melodiösen Gesangslinien, oft mehrstimmig, und oft von einer Schönheit, wie man sie von den Moody Blues, von Barclay James Harvest, oder durchaus auch von den Beatles her noch kennt. Der Song "Waterfall", eine wundervolle Rockballade, könnte denn auch tatsächlich von einem Barclay James Harvest Album stammen: Die mehrstimmigen Gesangsarrangements erinnern hier sogar an Crosby Stills Nash & Young. Das etwas zu modern geratene sehr rockig ausgelegte Stpck "Agenda" wiederum könnte einem späten Yes-Werk entstammen, etwa aus der Phase "Drama" oder "Tormato". Das Titelstück hingegen rockt geradeaus und bietet insgesamt den geringsten Anteil an progressiven Klängen. Aber auch dieses Rockstück ist natürlich noch um einiges besser als vieles, was andere Rockbands heute so präsentieren. Allen Titeln gemeinsam ist die hervorragende Kompositions-Arbeit, die perfekten Arrangements, die teils sehr komplex, teils aber auch sehr einfach strukturiert zu gefallen wissen. Es ist halt wie so oft bei Neal Morse eine Musik, die nicht schwer konsumierbar ist, sondern auch für Nicht-Progressive Rock Fans sehr unterhaltsam wirkt. Universelle Musik, die einem gewissen Anspruch folgt, aber nicht auf Dauer technisch-kopflastig ermüdet.
Sehr empfehlenswert ist diese musikalische Reise in der sogenannten Deluxe-Variante. Neben einer DVD mit den Videos zu "The Grand Experiment" und "Agenda" und einer Dokumentation, die einen Einblick darüber gewährt, wie das Werk entstanden ist, enthält eine weitere Bonus-CD fünf klasse Songs: Zwei davon, "The Creation" und "Reunion" sind Live-Aufnahmen vom Morsefest 2014 (sie stammen im Original von Neal Morse's Solo-Album "One"), hinzu kommen die Studioaufnahmen "New Jerusalem (Freedom is Coming)" und "Doomsday Destiny". Als echter Geniestreich entpuppt sich der Titel "MacArthur Park", eine Coverversion des Richard Harris Klassikers. Daraus haben die Musiker einen klasse progressiven Rock gebastelt. Neben "Beware of Darkness", "V" und "Momentum" ist "The Grand Experiment" das qualitativ herausragendste Album von Neal Morse bisher. Es unterstreicht seine Fähigkeit, tolle Musik zu schreiben auf eindrückliche Weise, beweist aber auch sein Talent, sich selber zurücknehmen zu können zugunsten eines demokratisch einstudierten und aingespielten Werks, das am Ende trotzdem wieder seine Handschrift trägt. Auch klingt "The Grand Experiment" wesentlich unterhaltsamer als so manches Transatlantic Werk, weil die Verkopftheit fast gänzlich ausgeklammert wurde und stattdessen die grossen und bisweilen recht schwelgerischen Melodien dominieren. Progressive Rock zum mitsingen.
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