Jun 18, 2017


SUICIDE - Suicide (Red Star Records RS1, 1977)

Boruch Alan Bermowitz (alias Alan Vega, Gesang) und Martin Reverby (alias Martin Rev, Keyboards) trafen sich 1969 in New York und gründeten 1970 eine Band mit dem provokanten Namen Suicide. Die ersten Jahre ihrer musikalischen Karriere verbrachten sie in absoluter Armut mit gelegentlichen Konzerten und dem Entwickeln sehr eigenwilliger Kompositionen im Spannungsfeld zwischen 50er Jahre Rockabilly, Velvet Underground-Hommage und 70er Jahre Elektronik. Im Punk Jahr 1977 zeigte endlich eine kleine amerikanische Plattenfirma Interesse an ihnen und veröffentlichte Ende des Jahres ihr Debütalbum "Suicide". Das brutale Cover-Artwork wurde von einem kommunistischen Symbol, dem roten Stern, und dem in zerlaufenes Blut getauchten Bandnamen geprägt. Die simplizistische Musik selbst war hingegen erheblich weniger brutal und trotz ihrer scheinbaren elektronischen Kälte teilweise sogar sehr melodisch und stets ein wenig melancholisch. Damals interessierte das fast niemanden, und als das Album Mitte 1978 endlich in Europa und damit auch in Deutschland erschien, wurden davon höchstens ein paar Hundert Stück verkauft. Während Ihres Vorprogramms des damals schwer angesagten Schmalspursängers Elvis Costello ernteten Suicide neben wenig Applaus vor allem Gleichgültigkeit bis hin zu Ablehnung und blankem Hass. Ihr heute legendärer Auftritt in Brüssel im Juni 1978 führte bei einigen Costello-Fans gar zu tumultartigen Zuständen. Von ihren wenigen damaligen Konzerten in Deutschland (München, Hamburg, Berlin) ist Ähnliches hingegen nicht überliefert.

Doch zurück zum Album: Martin Rev bediente sich eines überschaubar kleinen Arsenals an elektronischen Keyboards und eines primitiven synthetischen Rhythmusgerätes, während Alan Vegas Sprechgesang als eine seltsam beeindruckende Mischung aus prähistorischem Rock'n'Roll-Star und verschüchtertem Lou Reed-Imitator daherkam. Hin und wieder garnierte er seine Performance mit Schreien und Stöhnen. Das wirkte seinerzeit offenbar verstörend, ist aber heute mit einem pophistorischen Abstand von fast vierzig Jahren teilweise geradezu romantisch anzuhören. Songs wie "Cheree" und "Girl" huldigten in simplen Versen dem weiblichen Geschlecht. "Ghost Rider", "Rocket USA" und "Johnny" beschrieben den amerikanischen Traum vom einsamen, unabhängigen Outsider mit Motorrad oder schnellem Auto. Marlon Brando und James Dean liessen grüssen. Das mehr als zehnminütige, unterschwellig dräuende "Frankie Teardrop" beschrieb das Drama eines jungen Fabrikarbeiters und Familienvaters, der seine Frau und dann sich selbst richtete, während er offenbar seinen neun Monate alten Sohn verschonte. "Frankie's dead, Frankie's lying in hell, We're all Frankies, We're all lying in hell". Diese Nummer wirkte auf viele offenbar derart verschreckend, dass zum Beispiel der Schriftsteller Nick Hornby ("Fever Pitch", "High Fidelity", "About A Boy") sie 'as something you would listen to only once' bezeichnete.

Zum Abschluss zerstörten Suicide in "Che" mal eben das romantische Bild, das sich viele junge Leute in den Siebzigern von dem kubanischen Guerilla und Revolutionsführer Che Guevera gezimmert hatten: 'Che, Che, He's wearing a red star, Smoking his cigar, And when he died, The whole world lied, They said he was a saint, But I know he ain't, Che, Che, Hurray, hurray, Che, Che, Hurray, hurray'. Die remasterte Version des Albums, welche unbedingt empfohlen sein soll enthielt neben dem bereits erwähnten Auftritt in Brüssel weitere Live-Aufnahmen aus dem legendären New Yorker Punkclub CBGB's sowie drei bisher unveröffentlichte Studioaufnahmen, darunter einen Remix von "Cheree" und das liebliche "Keep Your Dreams", das wie ein frühes Stück von Orchestral Maneouvres In The Dark klingt, die aber erst zwei Jahre später die Szene betraten. Das Debütalbum von Suicide beeinflusste ganze Heerscharen von Musikern von The Cars, deren Mastermind Ric Ocasek folgerichtig ihr zweites Album und Alan Vega solo produzierte, über die Deutsch Amerikanische Freundschaft (alias D.A.F.), Sigue Sigue Sputnik und Dutzende andere bis hin zu Bruce Springsteen, der sich als Fan der Band Suicide geoutet hatte.

Mit einem von diversen Effekten verzerrten Gesang, der nur von Synthesizer und einem Drumcomputer begleitet wurde, erzeugten die beiden Musiker dramatische, emotional verstörende Songs, in denen neurotisch-unheimliche, albtraumhafte Stimmungen mit teilweise sehr poetischen Texten und vor allem auch mit sehr schönen, einfachen Melodien kontrastierten. Bei Konzerten inszenierte sich das Duo als eine Art Endzeittheater. Bandmitglied Alan Vega sagte in einem Interview zu einem Konzert im New Yorker Musik-Club CBGB's einmal: "Die anderen, die in CBGB's spielten, sagten den Leuten: ‚Da draussen auf den Strassen von New York ist die Hölle‘, wir wollten ihnen sagen: Das da draussen ist eigentlich harmlos, verglichen mit dem, was wir hier treiben. Hier unten ist die Hölle!" Seit jeher zog sich die Auseinandersetzung mit dem Amerikanischen Traum sowie Albtraum durch die Texte des Duos. Die desillusionierende Thematik fand ihre Entsprechung in desillusionierender Musik und einem provokanten Auftreten. Suicide wichen der Konfrontation mit einem in den 70er Jahren noch weitgehend verständnislosen Publikum nicht aus, dennoch mussten einige Konzerte vorzeitig abgebrochen werden. Auch 25 Jahre nach ihrem Debütalbum spielten Suicide noch ihren typischen Stil zwischen Minimal Techno (Martin Revs reduziertes Keyboardspiel) und Rockabilly (Alan Vegas unter anderem von Elvis beeinflusster Gesangsstil), nun jedoch mit Bezügen zu aktueller elektronischer Musik.

In dem grossen Aufbruch, der Ende der 70er die Popwelt erschütterte, waren und blieben Alan Vega und Martin Rev, die bis heute als Solokünstler, mit diversen Projekten und sporadisch auch gemeinsam (zuletzt auf dem Werk "American Supreme") aktiv blieben, einsame Vorreiter. Es fragt sich nur, für was, denn während Punk, New Wave und Power Pop sich in Nullkommanichts in Flächenbrände verwandelten, blieb Suicide's enigmatisches, brisantes Erbe zunächst unangetastet liegen. Erst in den 80er Jahren erkannten Synth-Duos und Bands wie Soft Cell, die Chemical Brothers, The Orb, Depeche Mode, Human League, Sigue Sigue Sputnik, The Jesus & Mary Chain, Nine Inch Nails, Prodigy und die keimende Techno-Szene, welch ungeheures Potential in den extrem reduzierten Attacken auf praktisch jede Pop-Tradition lag. Die Wirkung Suicide's aber blieb unerreicht, und ob es ihren Epigonen gelungen ist, daraus Bleibendes zu schöpfen, oder ob dereinst Klassiker wie "Ghost Rider" und "Rocket USA" als einsame schwarze Türme über Wüsten der Vergessenheit ragen, werden wir erst in vielen Jahren wissen. "Wir träumten davon, die Welt zu verändern", schrieb Red Star-"Informationsminister" Roy Trakin (der in Brüssel neben dem Aufnahmegerät sass) später. "Und dann bemerkten wir nicht, dass wir sie verändert hatten".









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