LOU REED - Legendary Hearts (RCA Victor Records AFL1-4568, 1983)
Lou Reed wurde in Brooklyn geboren und entstammte einer konservativ-jüdischen Familie, die ursprünglich Rabinowitz hiess. Er wuchs in Freeport auf Long Island auf. Früh entdeckte er sein Interesse für die Musik und war während seiner Schulzeit vor allem an Rock'n'Roll und Blues interessiert. Seine erste Plattenaufnahme machte er für Bob Shad's Label Time als Teenager und Mitglied einer Doo Wop-Band, die sich The Jades nannte. Weil Reed als Jugendlicher mutmasslich homoerotische Phantasien hatte, rebellierte und aufsässig war, wurde er von seinen Eltern in psychiatrische Behandlung geschickt, bei der er unter anderem auch Elektroschocks erhielt. Diese Jugenderlebnisse verarbeitete er in späteren Liedern, unter anderem in "Kill Your Sons". Reed beschrieb diese Phase seines Lebens folgendermassen: "Sie steckten dir was in den Mund und brachten Elektroden an den Kopf und jagten Strom durch deinen Kopf, und anschliessend fühltest du dich wie weichgekochtes Gemüse". Lou Reed distanzierte sich von seinem Elternhaus und begann ein Studium an der Syracuse University, wo er Anfang der 60er Jahre Englisch studierte und seinen Abschluss machte. Sein Lehrer und intellektueller Mentor an der Universität war Delmore Schwartz, mit dem er auch privat befreundet war. Einst sagte Reed, sein Ziel sei es, die Empfindsamkeit und Intelligenz des Romans auf die Rockmusik zu übertragen oder den Grossen Amerikanischen Roman als Musikalbenfolge zu realisieren. Später schrieb Reed die Stücke "My House" und "European Son" als Reminiszenz an Schwartz, der starken Einfluss auf seine spätere Songwriter-Karriere hatte. Während seiner Studienzeit in Syracuse entwickelte Reed auch ein Interesse für Free Jazz und experimentelle Musik wie die von La Monte Young, mit dem John Cale zusammenarbeitete.
Reed zog 1963 nach New York City, wo er als Songschreiber für das Plattenlabel Pickwick Records arbeitete, das Tanzmusik am Fliessband produzierte. 1964 hatte er einen kleinen Hit mit "The Ostrich", einer Parodie auf einen gerade populären Tanz. Viele unterschiedliche Plattenproduzenten wurden bald auf das Nachwuchstalent aufmerksam. Noch im selben Jahr gründete Lou Reed zusammen mit John Cale spontan die Gruppe The Primitives. Er hatte John Cale, der Musik studierte, zufällig in New York kennengelernt. John Cale war überrascht von der neuen Art, wie Reed Gitarre spielte. Er hatte sich angewöhnt, alle Saiten seiner Gitarre gleich zu stimmen, um einen sogenannten Drone zu erzeugen, was mit Cale's experimenteller Musik harmonierte. Als Cale das Repertoire von Reed's Kompositionen gehört hatte, unter anderem auch eine frühe Version des Titels "Heroin", beschlossen die beiden zusammenzuarbeiten und ein Bandprojekt zu realisieren.
Reed und Cale traten 1965, ergänzt um Sterling Morrison und Maureen Tucker, zum ersten Mal unter dem Namen The Velvet Underground auf. Diese stilprägende Band war trotz Reed's späterer erfolgreicher Solokarriere für immer untrennbar mit seinem Namen verbunden. Reed war neben John Cale Mitbegründer und Mastermind der von Andy Warhol geförderten Band und spielte Gitarre, sang und schrieb die meisten Songs. Obwohl die Band während ihres Bestehens kommerziell nicht erfolgreich war, gilt The Velvet Underground als eine der einflussreichsten Untergrund-Bands aller Zeiten und als Wegbereiterin der späteren Independent- und Punk-Musik. Ein Achtungserfolg war das Debütalbum "The Velvet Underground & Nico" (das Album mit dem bekannten Bananen-Cover) mit der deutschstämmigen Sängerin Nico, mit der Lou Reed kurze Zeit liiert war. Einen Vorgeschmack auf Reed's späteres Werk in den 70er Jahren gab dann die folgende LP "White Light/White Heat", auf der mit atonalen Rückkopplungen gearbeitet wurde.
Nach der Trennung von Velvet Underground startete Reed 1972 seine Solokarriere mit einem selbstbetitelten Debütalbum. Es enthielt vor allem Stücke, die in der Spätphase von The Velvet Underground entstanden waren. Trotz guter Kritiken blieb der kommerzielle Erfolg aus. Das Album erreichte lediglich Rang 189 der US-amerikanischen Billboard-Charts, während es in Grossbritannien nicht einmal eine Platzierung erzielen konnte. Aus dem Album wurden zwei Singles ausgekoppelt ("Going Down" und "Wild Child"). Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Reed das Glam Rock-Album "Transformer", das von David Bowie und Mick Ronson produziert worden war. Es brachte ihm zum ersten Mal eine gewisse Massenpopularität ein, insbesondere der Titel "Walk On The Wild Side", mit dem Baritonsaxofon-Solo von Ronnie Ross). Der Song gilt heute als Klassiker. 1973 folgte das Album "Berlin", das von einer gescheiterten Liebesgeschichte zweier Junkies in dieser Stadt handelte. Das Album zeichnete sich durch seine bedrückende Stimmung aus und enthielt Stücke wie "Caroline Says II" (Gewalt), "The Kids" (Prostitution und Drogenkonsum), "The Bed" (Suizid) und, nicht überraschend, "Sad Song". Berlin wird heute oft als sein Meisterwerk betrachtet, stiess aber zur Zeit seiner Veröffentlichung bei Presse und Publikum auf fast völliges Unverständnis und Entsetzen. Lou Reed war über dieses Scheitern so enttäuscht, dass er nach eigener Aussage die Schotten dichtmachte. In seinem Fall bedeutete es schroffe Konfrontation oder verächtliche Indifferenz gegenüber der Rockmusikpresse, seinem damaligen Publikum und seiner eigenen kommerziellen Karriere für den Rest des Jahrzehnts. Das und nicht zuletzt die Strapazen der schier endlosen Tourneen hatten das Ihre getan, um ihn bis an den Rand des Abgrundes zu führen. In späteren Interviews hatte er dennoch viele seiner damaligen Exzesse auch als Ausdruck einer etwas infantilen Trotzhaltung selbstkritisch reflektiert.
Im Jahre 1975 produzierte er dann das Doppelalbum "Metal Machine Music", das vor allem aus Gitarrenfeedbacks bestand, Melodien oder Strukturen waren nicht erkennbar. Das Album war umstritten und polarisierte wie kaum ein anderes in der Rockmusik: Während die Chicago Tribune es als billige Geste gegen die Plattenindustrie oder als schlechten Witz verstand, bezeichnete es der Rockjournalist Lester Bangs als genial. Obwohl die Angaben zur Besetzung fiktiv waren, legte Lou Reed Wert auf die Feststellung, dass es sich durchaus um eine ernsthafte Arbeit handelte. Auf jeden Fall war es eine bis dahin unerhörte Provokation gegenüber einem Major Label von Seiten eines damals durchaus kommerziell erfolgreichen Plattenkünstlers. Später wurde das Werk von dem Berliner Ensemble für zeitgenössische Musik 'Zeitkratzer' für klassisch-akustische Instrumente transkribiert und 2002 in Berlin uraufgeführt.
Auf das wütende Doppelalbum folgte das melodisch sanfte Album "Coney Island Baby", das ihn wieder in die Charts zurückbrachte. Reed's Platten der späten 70er Jahre wurden von Kritikern als weniger erfolgreich und eher unausgewogen gewertet. Das wurde auf seine zunehmenden Drogenprobleme zurückgeführt und auf die Tatsache, dass die Plattenfirmen Reed in musikalischer Hinsicht nur wenig Spielraum liessen. In den frühen 80er Jahren gab Reed das selbstzerstörerische Leben und die Endlostourneen auf, um sich für ihn wichtigeren Dingen zuzuwenden, zum Beispiel seinem gefeierten Comeback-Album "The Blue Mask". Er heiratete Sylvia Morales; diese wurde dann zu seiner langjährigen Managerin. Diese Kehrtwendung zu einer reiferen, nüchterneren und daher sensationsärmeren Lebenshaltung und Arbeitsdisziplin spiegelte sich in seinen eher ruhigen und abgeklärten Platten dieser Dekade wider. Das stiess wieder einmal auf harsche Kritik in der Rockmusikpresse, für die er oft als Inbegriff des gnadenlosen Rebellen galt. Reed hatte aber schon früh verlauten lassen, dass er eher auf Langfristigkeit und Selbstkontrolle setzte und der eher zwiespältigen Rolle des Rock'n'Roll Opfers sehr kritisch gegenüberstand.
"Legendary Hearts" war Reed's zwölftes Studioalbum, und er machte damit nicht nur das Dutzend voll, sondern war damit auch in den 80er Jahren angekommen, ohne jedoch dem Wahn der synthetischen Hilfsmittel zu erliegen. Die Platte klang zwar recht unterkühlt, aber beileibe nicht steril und schon gar nicht irgendwie zeittypisch synthetisch oder sein Sound mit zuviel Elektronik erkaltet. Das stimmige und manchmal auch recht melancholische, bisweilen auch etwas exaltiertes Album widmete er seiner damaligen Frau Sylvia, die auch für das Design des Frontcovers zuständig war. Reed zeigte sich auf dem Werk erstaunlich relaxed, ging mit negativen Geschichten nicht brachial ins Gericht, sondern hielt sich erstaunlich zurück. Gelegentliche Rock-Ausbrüche hielten sich in strengen Grenzen zugunsten einer konsensfähigeren Grundstimmung. Das gleich als Opener präsentierte Titelstück zeigte einen relaxten Lou Reed wie lange nicht mehr. Er wirkte bei dem Stück schon fast gemütlich. Besonders die Songs "The Last Shot", "Turn Out The Light", das balladeske schleichende "Betrayed" oder das einzige lange Stück der Platte "Home Of The Brave" zeigten einen irgendwie abgeklärten Musiker, dem hier schon fast eine gewisse Altersmilde attestiert werden konnte. Dies ist absolut nicht negativ gemeint. Das Album beschliessende "The Rooftop Garden" liess den Meister gar als Hobbygärtner auf dem Dach eines Wohnhauses vermuten.
Mit seinem sehr erfolgreichen Album "New York" von 1989 feuerte Lou Reed dann aber eine wütende Salve auf die politischen Probleme seiner Heimatstadt, beispielsweise zu Themen wie Umweltverschmutzung, sozialer Ungerechtigkeit und Rassismus. Er machte auch nicht davor Halt, in seinen Liedern Namen zu nennen, so zum Beispiel jene von Jesse Jackson, Papst Johannes Paul II., Kurt Waldheim und Stevie Wonder. Die ehemalige Velvet Underground Schlagzeugerin Moe Tucker spielte bei zwei Stücken Schlagzeug. Als Andy Warhol, der einstige Förderer und Produzent von Velvet Underground, starb, kam es nach 15 Jahren Pause wieder zu einer Zusammenarbeit mit dem zweiten klangprägenden Kopf der Velvet Underground, John Cale. Heraus kam dabei das Album "Songs For Drella", eine Warhol-Biografie und ein Selbstporträt in minimalistischer Rockmusik. Hier transportierten die Liedtexte eine berührende Zuneigung und schmerzliche Geständnisse, ohne den Humor zu verlieren. Nicht ausgespart wurden dabei das Attentat auf Warhol durch Valerie Solanas im Jahre 1968, sein strenges Arbeitsethos, seine ungeahnte Einsamkeit inmitten von Erfolg und Glamour, seine kleinen Schwächen und mögliche ärztliche Kunstfehler. 1993 kam es zu einer überraschenden Wiedervereinigung von The Velvet Underground. Sie war beim Publikum recht erfolgreich, aber nur von kurzer Dauer, da die alten Spannungen und Differenzen innerhalb der Gruppe schnell wieder aufbrachen.
Lou Reed führte seine dunklen Notizen mit "Magic And Loss" weiter, einem Album über den Tod und den Verlust einiger Freunde infolge von Krebs. 1997 coverten über dreissig Künstler den Song "Perfect Day" für die BBC-Stiftung Children in Need. Im Jahre 2001 wurde Lou Reed das Opfer einer Falschmeldung, die seinen Tod infolge einer Heroinüberdosis verkündete. Basierend auf dem Werk Edgar Allan Poes veröffentlichte er 2003 die Doppel-CD "The Raven", an der Künstler wie Laurie Anderson, Ornette Coleman, David Bowie, Julian Schnabel, Willem Dafoe und Antony mitwirkten. Ein Remix seines Lieds "Satellite Of Love" (genannt "Satellite Of Love ’04") von Groovefinder wurde 2004 veröffentlicht und erreichte Platz 10 der englischen Single-Charts. 2007 nahm er mit der Band The Killers den Titel "Tranquilize" auf. Die für den Oktober 2009 mit seiner neu gegründeten Band Metal Machine Trio geplante Europatournee (Krems, Wroclaw, Bern, Leipzig, Hamburg, Berlin) wurde gemäss Angaben seiner Londoner Agentur Primary Talent International aus schwerwiegenden persönlichen Gründen ('extreme personal issues') abgesagt. Nach einem Auftritt mit Metallica anlässlich der Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame im Jahre 2009 nahm Lou Reed mit dieser Band gemeinsam das Album "Lulu" auf, das am 31. Oktober 2011 weltweit veröffentlicht wurde.
Lou Reeds Themen waren der Rockmusik ihrer Zeit weit voraus. Die populäre Musik erreichte Reed erst mit der Entstehung des Punk Mitte und Ende der 70er Jahre, aber selbst dann waren seine Lieder einzigartig: entweder vom Feedback der Gitarre überlagert oder zart melodisch; Reed sang üblicherweise über das Beunruhigende bis Schäbige, nicht nur innerhalb der etablierten Gesellschaft, sondern auch innerhalb der damaligen Gegenkultur oder des Underground. "Walk On The Wild Side" war ein ironischer Gruss an die Aussenseiter, Stricher und Transvestiten in Andy Warhol's 'The Factory'. "Perfect Day" wurde später in den Soundtrack des Films 'Trainspotting - Neue Helden' aufgenommen. Themen, die Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jean Genet behandelten, nahm Lou Reed auf und entwickelte sie weiter. Er war immer eine starke Künstlerpersönlichkeit, die sich selten dem herrschenden Zeitgeist angepasst hat. So bevorzugte er schwarzes Leder und sadomasochistische Outfits während der optimistisch bunten Hippiezeit der 60er Jahre. Dieses Outfit stellte vielleicht eine optische Entsprechung seiner bewusst skeptisch distanzierten Haltung des urbanen Realisten dar. Bezeichnend für ihn war auch ein schneidend trockener, durch Selbstironie getönter Humor, der seine Texte und seine sonstigen Äusserungen durchzog. Das Hauptthema seiner lakonisch vorgetragenen Songs war immer wieder das „eschädigte Leben im Grosstadtdschungel, aber auch in der scheinbar intakten Vorstadtidylle. Seine Figuren waren meist in ihren unlösbaren Widersprüchen oder seelischen Abgründen verstrickt.
Der Tenor seiner Texte war illusionslos pessimistisch, aber mehr mitfühlend als zynisch. Sein Mitfühlen bezog sich jedoch nicht auf Journalisten, die er bis zu seinem Tode immer wieder als eine höchst ignorante, unaufrichtige und aufdringliche Gattung abkanzelte und die oft zum bevorzugten Ziel seiner gefürchteten Schlagfertigkeit und Direktheit wurden. Wie Warhol oder ein Fluxuskünstler liess er die ihm lästigen Interviews zu kleinen künstlerischen Performances geraten, indem er die Erwartungen des Fragestellenden völlig unterlief. Lou Reed galt als streitbarer und unvorhersehbarer Künstler. In den letzten Jahrzehnten empfand er, dass der Rockmusik zunehmend engere inhaltliche und musikalische Grenzen auferlegt wurden, und suchte die Zusammenarbeit mit Kollegen oder Freunden aus anderen Bereichen wie zum Beispiel Paul Auster, Julian Schnabel, Philip Glass, Jim Jarmusch, Robert Wilson oder Wim Wenders, um für sich neue Möglichkeiten auszuloten.
Reeds erste Ehe mit Bettye Kronstadt hielt nur für kurze Zeit und löste sich während der Aufnahmen zu "Berlin" im Jahre 1973 auf. Von 1976 bis 1978 war Reed mit einem Transvestiten namens Rachel liiert. Reed scheint die Beziehung sehr ernst genommen zu haben und sprach in dieser Zeit offen über seine Homosexualität. Am Valentinstag 1980 heiratete er Sylvia Morales, die er in einem S/M-Club in Greenwich Village getroffen hatte. Er verliess Sylvia, nachdem er 1992 in München die US-amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson kennengelernt hatte. Er und Anderson wurden 1995 ein Paar und wohnten seitdem gemeinsam im West Village. Sie heirateten schliesslich am 12. April 2008 in Boulder, Colorado. Reed, der an chronischem Leberversagen litt, was auf seinen jahrzehntelangen Alkohol- und Drogenkonsum zurückgeführt wurde, hatte sich im Frühjahr 2013 einer Lebertransplantation unterzogen. Am 27. Oktober 2013 erlag er in seinem Sommerhaus in den Hamptons den Folgen seiner Erkrankung. Als Mitglied von The Velvet Underground wurde Reed 1996 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Bei der Ehrung hielt Patti Smith die Laudatio. 2015 wurde Reed ferner auch als Solo-Künstler in diese Hall of Fame aufgenommen.
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