Nov 25, 2016


SEA LEVEL - Sea Level (Capricorn Records CP 0178, 1977)

Als der Allman Brothers Keyboarder Chuck Leavell 1977 dieses Plattendebut auf den Markt brachte, war ich erst einmal ziemlich überrascht. Statt vertraute Jam-Klänge seiner Stammformation widmete sich Chuck Leavell hier seiner Leidenschaft für den Jazz-Fusion Sound. Dabei blieb er allerdings zumindest in der instrumentalen Umsetzung den Klängen der Allman Brothers treu. Es gab wohl Bläsereinsätze, die dann punktuiert auch richtig eingesetzt wurden, aber den Hauptfokus richtete Leavell auf das Klavier. Nun erhält eine Jazzaufnahme durch die Dominanz des Klaviers ja oftmals einen sehr gediegenen Touch, auch Atonalität und der Hang zu komplizierten und vertrackten Rhythmik-Ausflügen finden selten Einzug in eine Klavierplatte. Und genauso ist es auch hier: Auf dem Debutalbum von Sea Level, dem eigentlichen ersten Soloalbum ausserhalb der Allman Brothers Band präsentierte sich Chuck Leavell vor allem recht relaxed und elegant, verzichtete auf jedwede Jazz-Hektik und bediente sich auch nicht irgendwelcher Jazz-typischer Stilelemente. Kurzum: Es gelang ihm, ein Album einzuspielen, das in etwa soviel Jazzanteil besass, wie man diesen bei einigen Allman Brothers-Platten durchaus auch schon zu hören bekam. Meist in Zusammenhang mit längeren Jam-Stücken wie etwa den entsprechenden Klassikern "In Memory Of Elizabeth Reed" und "Whipping Post" oder auch bei der legendären "Mountain Jam".

Alleine der Name Chuck Leavell sorgte damals dafür, dass ich diese Platte quasi blind, ohne vorher hineinzuhören kaufte. Ich mochte Leavell's luftige, sehr fröhliche und unangestrengte Art, Klavier zu spielen schon immer. Es gibt so unendlich viele tolle Stücke der Allman Brothers, die erst durch seine Art, die Keyboards zu spielen, zu wahren Perlen gerieten. Er harmonierte auch immer in seinem Zusammenspiel mit Gregg Allman an der Hammond Orgel perfekt. Beim Sea Level Debutalbum liess er allerdings zumeist den Bläsern grosse Flächen, Gitarrensolos waren eher nebensächlich. Durch diesen Umstand wich er am hörbarsten von den Allman Brothers Platten ab: Hier sollte ganz klar das Klavier und die Bläsergruppe die tragenden und ausdrucksstärksten Rollen spielen. Der Gitarrist Jimmy Nalls lieferte denn auch eher dezente Gitarrensounds, die allerdings sehr geschmeidig und immer absolut songdienlich arrangiert und gespielt waren. Nalls war so der perfekte Sideman zum Klavier spielenden Chuck Leavell. Keine allzugrosse Ueberraschung bildete indes die Rhythmusgruppe, mit welcher Leavell dieses Album eingespielt hatte: Bassist Lamar Williams und Schlagzeuger Jai Johanny Johanson gehörten zur Stammformation bei den Allman Brothers. Lamar Williams hatte 1972 den bei einem Motorradunfall tödlich verunglückten Berry Oakley ersetzt, Johanson gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Allman Brothers.

Zu den drei absolut brillianten Musikern gesellten sich die Bläsergruppe, bestehend aus Charles Fairley, Earl Ford, Leo LaBranche, Rudolph Carter und Donald McClure. Diese Bläsergruppe hatte es in sich, denn jeder einzelne dieser Musiker konnte bereits auf eine lange und beeindruckende Karriere zurückblicken. So spielte der Saxophonist Charles Fairley unter anderem in der Band von Big Joe Turner mit und stand bei Guitar Slim, Eddie Bo, Art Neville, Huey "Piano" Smith, Joe Tex und Ted Taylor, nebst vielen Anderen in Diensten. Der die Trombone spielende Earl Ford spielte in der Band von Otis Redding und war Mitglied der Southern- und Dixierock Band Wet Willie, während der Trompete spielende Leo LaBranche bei der Marshall Tucker Band beschäftigt war und danach ebenfalls zu Wet Willie stiess. Der Saxophonist Rudolph "Juicy" Carter wiederum spielte bereits 1971 bei den legendären Fillmore-Liveaufnahmen der Allman Brothers mit und stand immer wieder mal in Diensten der Allman Brothers Band, zumeist auf Tourneen. Schliesslich der Tuba spielende Donald McClure, der nicht im Rockbereich beheimatet, und auch nicht im Jazzbereich tätig war, sondern von der klassischen Musik kam und Mitglied des Susquehanna Symphonic Orchestras war.

Zu den Stücken auf diesem hervorragenden Album: "Rain In Spain" eröffnete die sich erst beim zweiten Hinhören offenbarende Vielseitigkeit der Platte. Dank Chuck Leavell's typischem Piano-Stil hörte man trotz den leicht jazzigen Anleihen immer wieder vertraute Allman'sche Song-Strukturen. Das nachfolgende "Shake A Leg" war einer der wenigen gesungenen Songs. Ein herrlich lüpfiger funky Beat und der zum Mitsingen animierende Refrain "Mama Shake A Leg" machten die Nummer beinahe schon tanzflächenverdächtig. 
Die Adaption des Folksongs "Scarborough Fair" von Simon & Garfunkel stellte mit Sicherheit die grösste Ueberraschung auf dem Werk dar: So wie Sea Level diesen wundervollen Song umarrangiert hatten und jazzig angehaucht präsentierten, hätte er in dieser Spielform gut auch auf einem Randy Newman Album zu finden gewesen sein können. Diese Version gefällt mir von mehreren, die ich kenne, inklusive dem Original von Simon & Garfunkel noch heute am besten. 

"Country Fool" war dann der Song, der irgendwie so gar nicht auf dieses Album passen wollte. Da kam Chuck Leavell mit seinen Musikern tatsächlich mit so etwas wie Country-Feeling herüber, auch wenn der Titel in seiner musikalischen Umsetzung eher noch hin zum Rock'n'Roll tendierte. Hier schimmerte aber letztlich Leavell's Allman Brothers-Engagement am stärksten durch. "Nothing Matters But The Fever" war für mich persönlich dann der beste Song auf der Platte. Leicht mystisch angehaucht, sehr melancholisch, aber trotz bewusster Lässigkeit nicht langweilig. Ein klanglich leicht verfremdetes Piano im Soloteil unterstrich Leavell's Sinn für aussergewöhnliche Spielereien und Tüfteleien und gestaltete diesen Song ebenso ungewöhnlich wie nachhaltig. "Tidal Wave" und "Grand Larceny" unterstrichen schliesslich den Eindruck, dass hier ein Musiker operierte, der zwar jazzige Elemente durchaus zu streuen wusste, insgesamt aber eben doch kein "Genre"-Musiker war. So aussergewöhnliche Musiker wie Chuck Leavell zeichnen sich eben gerade dadurch aus, dass sie sich traditioneller Mittel bedienen, um diese mit Vielseitigkeit, stilistischer Phantasie und einem perfekten Gespür für Feeling so umzuarrangieren, dass sie manchmal zwischen alle Stil-Schubladen fallen.

Insgesamt ist das Debutalbum von Sea Level ein Werk, das für mich in all den Jahren seit seinem Erscheinen immer gewachsen ist und noch heute uneingeschränkt faszinieren kann. Für mich ist das Debutalbum auch das Beste, was Chuck Leavell unter der Flagge Sea Level veröffentlicht hat. Sein späteres Schielen mit dem Kommerz fand ich weniger berauschend, obwohl er einige Zeit später mit "That's Your Secret" einen veritablen Hit in den Vereinigten Staaten landen konnte, der auch mir sehr gut gefallen hatte damals. Nur waren seine folgenden Platten nicht mehr so unterschwellig jazzig und damit elegant und auf eine unangestrengte Weise anspruchsvoll, sondern schon eher nahe an der Unterhaltungsmusik etwa der typischen Westcoast-Poprock Bands zu jener Zeit, was Sea Level insgesamt mit der Zeit eher beliebig erscheinen liess. Die Gruppe existierte noch bis 1981 und löste sich dann auf. Chuck Leavell verblieb bis am Schluss bei den Allman Brothers und spielte daneben auch bei Gov't Mule mit, war als langjähriger Tour-Keyboarder bei den Rolling Stones und unterstützte auf Tourneen und auch auf Platten Eric Clapton, George Harrison und John Mayer.







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