YES - Tales From Topographic Oceans (Atlantic Records SD 2-908, 1973)
1973 veröffentlichte die Gruppe Yes mit "Tales From Topographic Oceans" ein Doppelalbum mit lediglich vier überlangen Titeln, die alle jeweils eine ganze LP-Seite lang waren. Wenn man sich die Spielzeit der einzelnen Stücke anschaut, dann stellt man bei rund 20 Minuten pro Song natürlich relativ hohe Ansprüche. Yes planten schon seit einiger Zeit so ein Album mit ausschliesslich überlangen Titeln aufzunehmen. Mit "Tales From Topographic Oceans" war es dann so weit. Yes präsentierten ein Album, auf welchem sie sich von fast allen gängigen Schemata von Rock, Jazz und Klassik befreien wollten, um etwas völlig Eigenständiges zu kreieren. Ein so hoher Anspruch an sich selbst scheiterte aber letztlich in den Augen vieler Kritiker und Hörer. Aus heutiger sicht allerdings ist das wohl nicht mehr ganz nachvollziehbar. Damals schienen progressive Töne keine Grenzen zu kennen. Insofern präsentierten Yes mit diesem Epos allerdings in der Tat eine solche Obergrenze. Ob man diese Obergrenze nun als Zenith betrachtet, oder als Anfang vom Ende, muss letztlich jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Die Musiker von Yes jedenfalls standen dem Album später eher distanziert gegenüber. Nach der Veröffentlichung ging auch Keyboarder Rick Wakeman erstmals von Bord, der später aber wieder zu Yes zurückkehrte.
Jon Anderson, Steve Howe, Chris Squire, Rick Wakeman und Alan White befanden sich mit diesem Album am Ende des Weges, den Yes Ende der 60er Jahre eingeschlagen hatten. Die Songs hatten hier ein Stadium erreicht, das an Komplexität, Intensität, Virtuosität und Genialität nicht mehr zu überbieten war. Logische Konsequenz war ein Konzept-Album, auf dem alle Teile zusammengefügt wurden und zu einem Ganzen verschmolzen. Harmonie, Dissonanzen, Krach, Akustik, mehrstimmiger Gesang, Melodien, Wahnsinn und Emotion, einfach alles war auf "Tales From Topographic Oceans" vertreten. Die vier Stücke kann man deswegen auch nicht einzeln hervorheben, sie sind nur Abschnitte eines Ganzen. Die Interpretation von Paramhansa Yoganada's 'Autobiography of a Yogi' und Jon Anderson's lyrische Umsetzung davon passte zum Gesamtkonzept, das auch lyrisch nicht einfach war und den aufmerksamen Zuhörer auch mit den Songtexten ziemlich forderte, auch wenn dem Gesang auf diesem Werk nicht derselbe Stellenwert beigemessen wurde wie auf anderen, früheren Yes Alben.
Mit diesem Meisterstreich schufen Yes letztlich auf jeden Fall das wohl grössenwahnsinnigste, gigantischste und ambitionierteste musikalische Monumentalwerk des Progressive Rock. Ohne Rücksicht auf Fans und Kritiker wurden die Schleusen der Kreativität aufgerissen, um den Hörer mit völlig neuen Erfahrungen zu überschwemmen. Über die Entstehung des Albums wurde damals viel geschrieben, auch noch Jahrzehnte später polarisiert das Werk rund um den Globus und die Anzahl jener Muisikhörer, die das Werk für uninspiriert und aufgeblasen halten, ist etwa gleich hoch wie die Anzahl derer, die dieses Album für ein Monumentalwerk halten.
Auch wenn sich eigentlich alle vier Kompositionen auf dem gleichen qualitativen Niveau befinden, stellt "The Revealing Science Of God" für mich persönlich das beste Stück des Albums dar: Jedes Instrument passt perfekt, keine Sequenz ist zu lang, das Ganze hört sich absolut rund und geschlossen an. Durch die verschiedenen Tempiwechsel und die abwechslungsreiche Mischung aus Rock, Elektronik, Gesang und Symphonik entstehen zu keinem Zeitpunkt irgendwelche weniger interessante Längen. Besonders schön ist der Anfang mit den langsam lauter werdenden Brandungsgeräuschen und dem immer stärker und druckvoller aufgetürmten Gesang, der sich schliesslich in einem befreienden Keyboard- und Akustikgitarrensolo auflöst. Die zweite LP-Seite bietet mit dem Stück "The Remembering" den harmonischsten und angenehmsten der vier Songs. Besonders der Anfang mit seinen schwebenden, verträumten Sitarklängen und dem fast rezitierenden Mantragesang von Jon Anderson verleiht dem Ganzen eine sehr geschlossene Atmosphäre, die sich durch das ganze Lied zieht. Die bescheidene Orgel im Hintergrund kontrastiert gut mit den bombastischen Sequenzen, die von einer sphärischen und orchestralen Keyboardpassage abgelöst werden. Dieses Keyboardteil bricht jedoch überraschend ab, um einem fast schon heiteren und leicht übermütigen Gesangs- und Akustikgitarrenteil Platz zu machen. Auch wenn "The Remembering" sehr schön ist, wirken hier einige Sequenzen jedoch etwas länger als nötig, vor allem die ausladenden Keyboardpassagen. Mit seiner ruhigen Anschmiegsamkeit dient "The Remembering" aber auch als harmonischer Gegenpol zum wilden "The Ancient".
"The Ancient (Giants Under The Sun)" wirkt insgesamt gesehen leicht schwächer als die anderen drei überlangen Titel auf "Tales From Topographic Oceans". Tatsächlich entfernten sich Yes her vermutlich am weitesten von ihren üblichen Songstrukturen. Anfangs hat man das Gefühl, Musik aus einem völlig anderen und ergo sehr viel wilderen Kulturkreis zu hören: Die klirrenden Hi-Hats schaffen eine dunkle und geheimnisvolle Atmosphäre und die spannungsgeladene und treibende Perkussion - absolut unüblich rhythmisch für Yes - baute in kongenialer Verbindung mit Steve Howe's heulender Gitarre eine geradezu paranoide und unterschwellig aggressive Stimmung auf. Die hymnischen Zwischenspiele mit den fetzig nachhallenden Gitarren im Hintergrund bildeten den perfekten Kontrast dazu. Etwa nach der Hälfte des Stücks baute sich dann plötzlich aus einer einsamen Akustiknummer eine wunderschöne und melodiöse Gegenwelt auf. Der Schluss traf den Zuhörer dann wie ein Schlag: Ein perfekt platziertes, aber viel zu kurzes, beinhartes Gitarrenriff von Steve Howe, das den Hörer förmlich aus dem Lied katapultierte.
Das letzte der vier Stücke, betitelt "Ritual (Nous Sommes du Soleil)" war wieder ähnlich abwechslungsreich wie "The Revealing Science Of God", im direkten Vergleich jedoch etwas ungeschliffener. Hier wurde am meisten experimentiert, einzelne Passagen gerieten sogar noch anstrengender als im ersten der vier Songs. Viele instrumentale Details deuteten auch bereits auf das furiose, ein Jahr später folgende "The Gates Of Delirium" vom nachfolgenden Werk "Relayer" hin, doch das Stück hatte auch ein paar wundervoll harmonische und packende Momente, wie zum Beispiel jenen Teil mit der summenden Gitarre, die auch am Anfang zu hören war, der einem mit etwas Phantasie an einen afrikanischen Chor erinnerte. Besonders schön gerieten hier vor allem auch die "Nous Sommes du Soleil"-Parts.
Nach ihrem Meisterwerk "Close To The Edge" dachten eigentlich die meisten Musikfans, dass diese hohe musikalische Qualität wohl nicht mehr zu übertreffen sei, aber Yes hatten es dennoch gewagt. Interessante Fussnote: Der Keyboarder Rick Wakeman spielte im Song "Ritual" tatsächlich ganz kurz das Thema von "Close To The Edge" an. Wie bereits erwähnt, stellt das Album "Tales from Topographic Oceans" für die einen Hörer ein völlig aufgeblasenes, überambitioniertes und unzugängliches Werk dar, während es für die anderen zum Besten, Mutigsten und Kreativsten gehört, was Yes je geschaffen haben. Für mich persönlich stellt es seit vielen Jahren quasi den heiligen Gral des Progressive Rocks dar. Kein anderes Werk hat je wieder gezeigt, wieviel innerhalb dieses Musikstils möglich ist, ohne ins Unverständliche zu überborden. Es gibt unzählige Beispiele von Nachahmer-Bands und deren Alben, wo dies nicht funktioniert hat und Überambition zum grandiosen Scheitern führte.
Der Kritiker Mike Tiano traf es auf den Punkt: "Yes were fortunate to have had the creative freedom to produce this bold and innovative work - and we are fortunate that they did" (Yes hatten das Glück, alle kreative Freiheit zu haben, dieses kühne und innovative Werk zu produzieren - und wir haben das Glück, dass sie es getan haben). Es braucht ganz bestimmt einige Zeit, bis sich einem die Musik auf der "Tales From Topographic Oceans" vollständig erschliesst, aber wer sich darauf einlässt, wird ein Werk entdecken, für das es bis heute keinen adäquaten Vergleich gibt. Obwohl dieses Album erstklassige Musik zu bieten hatte, war es jedoch an seinen hohen Ambitionen gescheitert, was danach dazu geführt hatte, dass Rick Wakeman die Band vorläufig verliess. Ohne ihn sollte dann im nächsten Jahr mit dem abolut überzeugenden "Relayer" trotzdem das vielleicht unterschätzteste Meisterwerk von Yes folgen.
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